KAPITEL
6
Seit die vier Männer verschwunden waren, hatte sich Milans Frau Vesna wie ferngesteuert durch den restlichen Tag bewegt. Noch immer hatte sie keine Vermutung, in was für eine zwielichtige Geschichte er sich hatte hineinziehen lassen. Genauso wenig hatte sie wirklich begriffen, dass er nicht mehr am Leben war. Als man sie gezwungen hatte, sich seinen Vorlauf im Fernsehen anzusehen, hatte sie schon eine düstere Vorahnung beschlichen. Dann aber zuzuschauen, wie Milan in dem Kanu zusammengebrochen war und sich die Ärzte um ihn bemüht hatten, war ein Realität gewordener Albtraum gewesen.
Dass es sich um keinen harmlosen Kreislaufzusammenbruch handelte, hätte ihr der Anführer gar nicht mitteilen müssen, davon war sie instinktiv ausgegangen. Sein boshaftes Grinsen hatte sich in ihrer Erinnerung eingebrannt, genauso wie die letzten Bilder ihres Mannes, bevor die internationale Fernsehregie die Übertragung auf das andere Geschehen vor Ort verlagert hatte.
Als sie kurz darauf wieder allein gewesen war, hatte sie lange reglos an die Wand gestarrt – bis ihr Baby aufgewacht war und sofort losgeschrien hatte. Spürte die Tochter, dass der Vater
gerade um sein Leben kämpfte? Vesna war wie gelähmt gewesen und hatte es nur mit Mühe geschafft, sich um die Kleine zu kümmern. Ständig hatte das Telefon geklingelt, doch sie war nicht in der Lage gewesen, mit jemandem zu sprechen. Weder mit ihren Geschwistern noch mit ihren Eltern und erst recht nicht mit der Polizei. In einer SMS hatten ihre Eltern schließlich mitgeteilt, sich auf den Weg zu ihr zu machen, sie klangen im höchsten Maße besorgt.
Auch der Polizei hatte sie letztlich nicht ausweichen können. Neben ihr auf dem Sofa, auf dem sich am Vormittag noch die bedrohlichen Männer gelümmelt hatten, saß jetzt ein Beamter, der aus der Hauptstadt zu ihr hinausgefahren war. Viele Worte hatten sie noch nicht gewechselt, aber einer seiner Sätze hallte in ihr nach.
Die dänische Polizei hat uns informiert, dass dein Mann im Krankenhaus verstorben ist.
Verstorben?
Umgebracht wurde er!,
hätte sie ihn am liebsten angeschrien. Aber sie besaß nicht die Kraft dazu, und außerdem hatte sie Angst vor den Konsequenzen, die ihr die morgendlichen Besucher vor Augen gehalten hatten. Dass es sich nicht um leere Drohungen gehandelt hatte, bewies Milans Tod.
Sie bekam gar nicht mit, wie der Polizist weiter auf sie einredete. Erst als er sie am Arm berührte, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Sein Gesichtsausdruck war neutral, aber vielleicht war das auch besser so. Hätte er sie mitleidig oder wenigstens feinfühlig behandelt, wären wahrscheinlich alle Dämme gebrochen, und sie hätte sich ihm anvertraut. So fiel es ihr leichter, auf seine Fragen weiter nur stumm den Kopf zu schütteln.
»Es sieht nicht nach einer natürlichen Todesursache aus. Haben Sie zumindest eine Ahnung, wer ihm das angetan haben könnte?«
Kopfschütteln.
»Hatte er zuletzt Kontakt zu Leuten, die Ihnen seltsam vorkamen?«
Kopfschütteln.
»Kam er Ihnen verändert vor? Ängstlich oder verstört?«
Vesnas Gedanken drifteten ab, die Stimme des Polizisten schien sich zu entfernen. Auf einmal war sie aber hellwach. Der Polizist löste seine Hand von ihrem Arm und räusperte sich.
»Milan hat mich heute früh vor seinem Wettkampf angerufen. Wussten Sie das?«
»Nein«, flüsterte sie und drehte ihm das Gesicht zu. »Warum?«
»Er hatte Angst. Ich habe gehofft, dass Sie mir mehr zu den Gründen sagen können.«
»Was hat er denn selbst gesagt?«
»Nicht viel. Er wollte in irgendeiner Sache reinen Tisch machen, befürchtete aber, dass ihm das nicht gut bekäme. Um was kann es da gegangen sein?«
»Ich weiß es nicht.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Er hat mir nichts davon erzählt.«
»Sie haben nicht mal einen Verdacht?«
Erneut war sie nur zu einem Kopfschütteln in der Lage. Der Polizist ließ den Blick durch das Zimmer gleiten. Er war klein, hatte einen Kinnbart und einen stechenden Blick. Sie wurde das Gefühl nicht los, eher wie eine Verdächtige und nicht wie die Hinterbliebene eines Opfers behandelt zu werden. Wann würde er endlich gehen? Sie erhob sich vom Sofa.
»Ich weiß nichts, und … ich kann dazu nicht mehr sagen. Ich muss jetzt ins Kinderzimmer. Nach meiner Tochter sehen.«
»Ihre Tochter schläft.« Er deutete auf das Babyfon, das über einen Bildschirm verfügte.
»Was …« Sie schniefte. »Was passiert jetzt mit Milan? Soll ich … muss ich nach Dänemark fliegen?«
»Nein. Die Rechtsmedizin dort untersucht ihn, anschließend wird er nach Kroatien überführt. Kollegen von mir werden
hierherkommen, um seine Sachen durchzusehen. Vielleicht findet sich ein Hinweis, weshalb …« Er beendete den Satz nicht, sondern musterte erneut das Chaos im Wohnzimmer. Vesna hatte noch keine Energie gefunden, die Spuren der Heimsuchung zu beseitigen. Ihr brach der Schweiß aus.
»Ihre Kollegen werden nichts finden, was ihnen weiterhelfen könnte.«
Ruckartig bewegte sich sein Kopf zu ihr zurück. »Woher wollen Sie das wissen? Er kann Dinge vor Ihnen geheim gehalten haben.«
»Weil …« Ein Weinkrampf schüttelte Vesna, und sie sank zurück auf das Sofa. Abwartend blieb der Polizist neben ihr sitzen, bis sie sich wieder gefangen hatte.
»Was ist passiert?«, fragte er dann. »Wieso herrscht hier so ein Chaos, und weshalb liegen zweitausend Euro auf dem Tisch?«
»Ich … habe Angst«, wisperte sie.
»Wir können Ihnen helfen, dafür ist die Polizei da.«
Vesna gab endgültig auf. Sie konnte nicht anders, es flutete regelrecht aus ihr heraus. Sie erzählte von den vier Männern, beschrieb deren Aussehen sowie die Gegenstände, die sie mitgenommen hatten. Sie gab wieder, was ihr für Konsequenzen angedroht worden waren, sollte sie das tun, was sie soeben tat. Trotzdem war es wie eine Befreiung für sie, auch wenn sich der Knoten in ihrem Bauch nicht auflöste. Endlich konnte sie mit jemandem reden, obwohl es ihr lieber gewesen wäre, wenn es sich dabei zunächst um ihre Eltern gehandelt hätte. Aber die würden frühestens in anderthalb Stunden eintreffen. Durch ihren tränenverschleierten Blick versuchte sie, seine Reaktion zu erkennen. Doch die fiel anders aus, als sie erwartet hatte.
»Das war ein Fehler, Vesna. Wie gut, dass ich als Erster hier war.«
Sie verstand nicht. Eine unheimliche Stille dehnte sich aus, in der ihr das Ticken der Wanduhr auf einmal unglaublich laut vorkam. »Was … was war ein Fehler?«, fragte sie mit heiserer Stimme.
»Mir das alles zu erzählen.«
Ihr schnürte es die Kehle zu. »Also … sind Sie gar kein Polizist? Sondern einer von denen?«
»Das eine schließt das andere nicht aus.« Er stand auf und zog seine Dienstwaffe hervor. »Ich überlege, ob ich jetzt gleich ins Kinderzimmer gehe oder …«
Vesna schrie auf und warf sich vor ihn. Sie umklammerte seine Beine, stammelte, bettelte und flehte. Grob machte er sich los und trat ein paar Schritte zur Seite. Vesna sah die Mündung der Waffe, es war wie ein Blick in den tiefsten Abgrund. Er hatte seinen Namen nicht genannt, und sie hatte nur flüchtig seinen Dienstausweis zur Kenntnis genommen. Milan musste sich mächtige Feinde gemacht haben, wenn sogar die Polizei …
»Du passt jetzt gut auf, Vesna«, sagte der Mann. »Das ist das einzige und letzte Mal, dass wir dir das durchgehen lassen. Hast du verstanden?«
Sie nickte. So kräftig, wie sie konnte.
»Wir bekommen es mit, wenn du noch einmal mit der Polizei oder irgendjemand anderem darüber sprichst. Einen zweiten Verrat überlebst du nicht, und deine Tochter ebenso wenig. Keiner kann dich beschützen, nirgendwo! Vergiss, was heute passiert ist. Sonst …« Er drückte ab, aber es erklang nur ein klackendes Geräusch. Dann ging er zum Tisch und steckte sich die Geldscheine in die Hosentasche. Kurz darauf war er weg. Wimmernd brach Vesna auf dem Boden zusammen.
Maximilian Innerhofer tummelte sich in seinem Element, das sah man ihm nicht nur an, man hörte es auch an seiner Stimmlage.
Er selbst hatte zwar noch keinen einzigen Wettschein in seinem Leben abgegeben und noch nicht einmal Lotto gespielt, dennoch war zu spüren, dass ihm auf dem Feld der Sportwetten niemand etwas vormachen konnte. Im Schnelldurchgang versuchte er, sein Wissen an die dänische Sonderermittlerin und den deutschen Sportpolizisten weiterzugeben.
»Erst mal zum Grundsätzlichen: Gewettet wird bei sogenannten Buchmachern, die fast alle Sportarten im Angebot haben. Allerdings entfallen mindestens fünfzig Prozent der Tipps auf den Fußball, da wird sogar bei Jugendspielen gewettet. Onlineanbieter haben Spiele im Angebot, von deren Mannschaften selbst Fußballexperten noch nie gehört haben. Bei solchen Partien sind die Zuschauereinnahmen vor Ort oft nur zwei- bis dreistellig, die Wettumsätze in Asien aber sechsstellig.«
»Dann erklärt sich auch die Höhe der Wetteinsätze«, kommentierte Hannes. »Du hast von mehr als einer Billion Euro pro Jahr gesprochen?«
»Das sind Schätzungen für den legalen Markt. Fünfundachtzig Prozent der Sportwetten werden aber auf illegalen Webseiten platziert.«
»Dort stecken dann Mafiagelder dahinter?«, hakte Hannes nach.
»Nicht nur. Die Wettmafia setzt genauso bei legalen Buchmachern, so wie normale Leute auch auf illegalen Webseiten wetten. Die wissen oft gar nicht, dass es kein legales Angebot ist, lassen sich aber von den besseren Quoten anlocken.«
»Was bedeuten diese Quoten überhaupt?«, fragte Ellen. »Sie sind mir schon häufig auf Werbebannern im Internet aufgefallen.«
»Die Quote zeigt den möglichen Gewinn. Je unwahrscheinlicher das Ergebnis, umso höher die Quote und damit die Einnahmen. Ein Beispiel: Du wettest, dass dein Lieblingsverein
gegen einen Top-Favoriten gewinnt, und setzt darauf einhundert Euro. Die Quote dafür liegt bei 6,0. Sollte der FC Kopenhagen … ist das überhaupt dein Lieblingsverein?«
Sie schüttelte den Kopf und zog sich dann wieder die Haare glatt. »Fußball interessiert mich nicht.«
»Na, wie auch immer. Sollte dein Verein tatsächlich gewinnen, erhältst du das Sechsfache deines Einsatzes, also sechshundert Euro. Einhundert Euro hast du eingesetzt, somit hast du fünfhundert Euro Gewinn gemacht.«
»Wer legt die Quoten fest?«
»Die Buchmacher. Das ist eine Wissenschaft für sich. Die Quote kann fix oder variabel sein. Am seriösesten ist die erste Variante. Eine variable Quote verändert sich im Laufe der Zeit, je nachdem wie viele Wetten abgegeben wurden und wie sich die Form der Sportler entwickelt.«
»Aha. Der Buchmacher achtet also darauf, dass das Spiel in jedem Fall gut für ihn ausgeht. Auf was kann man konkret wetten?«
»Auf fast alles. Beim Fußball zum Beispiel auf die Anzahl der Tore, Tordifferenz, Gelbe Karten, Fouls, Eckstöße und so weiter. Pro Spiel gibt es bis zu einhundert Spezialwetten, meist in Form von Livewetten. Ein Spiel läuft also bereits, und man stellt eine Vermutung zu dem nächsten Ereignis an.«
»Was ein Kinderspiel ist, wenn ich vorher die Sportler bestochen habe«, mischte sich Hannes ein.
»Und damit schlagen wir die Brücke zum Wettbetrug. Das international organisierte Verbrechen beschränkt sich nicht mehr auf Drogen-, Waffen- und Menschenhandel. Besonders aus Südostasien operieren die Syndikate, aber es gibt auch Gruppierungen auf dem Balkan.«
»Damit passen Ivko und Branko Anicic schon mal ins Raster.« Ellen klang zufrieden.
Max’ kantiger Schädel bewegte sich bestätigend von unten nach oben. »Die Frage ist nur, in welcher Funktion sie unterwegs sind. Wettbetrug kennt keine geografischen oder sprachlichen Grenzen. Gehen wir mal von einem globalen Netz aus, das tausend Leute umfassen kann. Der Kopf der Bande könnte in Thailand oder Singapur sitzen, die Kontaktmänner stammen aber aus Ost- oder Südosteuropa. Dazu kommen dann noch die Wettkomplizen. Sie bilden ein Heer aus Helfern, das – neben den Millionen ehrlichen Tippern – kleinere Beträge setzt. So entsteht kein Misstrauen, wie es bei einer einzigen großen Summe der Fall wäre. Der finanzielle Einsatz wird sogar gestreut, das heißt, manche der Wettkomplizen setzen auf einen Sieg, andere auf eine Niederlage.«
Diese Taktik erschloss sich für Hannes nicht, doch Max schob die entsprechende Erklärung schon nach.
»Es geht nicht nur um Wettbetrug, sondern auch um Geldwäsche. Man setzt einfach den gleichen Betrag auf Sieg, Niederlage und Unentschieden. Ein Tipp gewinnt also auf jeden Fall, und das andere Geld ist durch den Gewinn nur zum Teil weg. Das Schöne aus Mafiasicht ist aber vor allem, dass der verbleibende Betrag sauber ist. Ohne großen Aufwand oder großes Risiko. Daher sind selbst dreißig bis vierzig Prozent Verlust akzeptabel, schließlich geht es um gigantische Summen. Tja, und durch Wettbetrug lässt sich dieser Verlust dann sogar noch minimieren oder ganz vermeiden. Wir vermuten, dass jährlich mehr als hundert Milliarden Euro mithilfe von Sportwetten gewaschen werden.«
Er schien zu bemerken, dass Hannes und Ellen diese Flut an Informationen zunächst verdauen mussten, und sah schweigend aus dem Fenster. Hannes kam der Gedanke, wie grotesk es war, dass irgendwo im fernen Asien jemand Geld auf seine Leistung setzte. Darüber hatte er sich nie Gedanken gemacht, erst recht
nicht, dass er indirekt mit seinem Antreten dazu beitrug, schmutziges in sauberes Geld zu verwandeln. Welche Quote wohl auf seinen Sieg im Finale angesetzt worden war? Sicher keine allzu hohe. So gesehen wäre es eine gute Gelegenheit, auf sich selbst zu wetten. Er musste schmunzeln und registrierte, dass Ellen dies mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis nahm. Also doch kein Botox? Rasch stellte er Max die nächste Frage.
»Die Dimension hab ich verstanden, sie ist atemberaubend. Ich kapiere nur nicht, weshalb man gegen die Geldwäsche nicht vorgehen kann.«
»Nicht ohne Grund kommen die höchsten Summen in Asien zusammen. Dort wird anonym über Wettagenten gewettet und nicht persönlich beim Buchmacher. Außerdem gibt es keine Deckelung der Einsätze. In Europa läuft das anders.«
»Kann man solche Länder nicht zwingen, ihre laxe Handhabung zu ändern?«
Max winkte ab. »Natürlich gibt es entsprechende Versuche, aber meine Hoffnung ist gering. Zu viele profitieren davon. Auf indirekte legale und direkte illegale Weise. Wir werden weder die Geldwäsche noch den Wettbetrug jemals völlig stoppen. Nur die Ausmaße können eingedämmt werden, dabei erwischen wir aber meist nur die kleinen oder maximal mittleren Akteure. Das Ganze ist kaum zu überwachen. Bei einem Spiel geht es um Unsummen, die auf Tausenden von Plattformen auf zig verschiedene Wettvarianten gesetzt werden.«
»Wie soll man so was überhaupt überwachen können?«
»Es gibt Firmen, die sich darauf spezialisiert haben. Mit einer davon tausche ich mich regelmäßig aus, sie heißt Hawk Eye und sitzt in England. Dort gibt es komplexe Softwarelösungen, denn es ist ein hochtechnologischer Kampf. Trotzdem fliegt nur ein Bruchteil der Betrüger auf. Der größte Teil des Wettbetrugs geschieht bei den Livewetten. Erst kurz vor dem Ereignis wird
der Betrag platziert, zum Beispiel vor einem verschossenen Elfmeter. Wird eine ungewöhnlich hohe Wette bemerkt, kann man nichts mehr tun, da das Spiel längst läuft. Aber selbst wenn die Systeme – zum Beispiel von Hawk Eye – Alarm schlagen, ist es meist zu spät, oder man kann niemandem den Betrug nachweisen. Jedem Sportler können Fehler passieren, jeder ist mal unkonzentriert, formschwach oder körperlich angeschlagen. Beweisen lässt sich der Betrug erst, wenn es Geständnisse, belastende Telefonate oder Mails gibt. Was fast nie vorkommt.«
»Klingt nach einem unlösbaren Problem.«
Max nagte an seiner Unterlippe, nun wirkte er nicht mehr so locker. »Es hat gigantische Ausmaße angenommen, und es gibt kaum wirksame Gegenmaßnahmen. Oft fehlt auch der politische Wille, Polizeikräfte für diesen Kampf zu binden. Ein Land allein kann aber sowieso wenig ausrichten, die Polizei muss genauso international agieren wie die Wettmafia. Doch selbst Europol und Interpol kommen an die eigentlichen Wettpaten nicht heran, da genügend Strohmänner eingesetzt werden. Eigentlich ist es ein Kampf gegen Windmühlen. Aus meiner Sicht nicht zu gewinnen.«
Unwillkürlich musste Hannes daran denken, dass er sich bei der Polizei oft nicht richtig aufgehoben fühlte. All die Gewalt, das Dunkle und nicht zuletzt die vielen Leichen ließen ihn mit seiner Berufswahl hadern. Immerhin konnte er aber bei seinen bisherigen Ermittlungen die Mörder überführen und zumindest ein Stück weit für Gerechtigkeit sorgen. Woraus zog Max wohl seine Motivation?
Ellen schienen derartige Überlegungen nicht durch den Kopf zu gehen, sie verfolgte ein klares Ziel. Resolut schob sie die Zettel vor sich zu einem Stapel zusammen. »Ich verstehe die Schwierigkeiten, aber das ändert nichts an unserer Aufgabe. Wir müssen verhindern, dass diese Seuche jetzt auch bei den
Olympischen Spielen um sich greift. Und je mehr ich von dir höre, umso glaubhafter kommt mir der Bericht von Hannes’ Freund vor.«
»Er ist nicht mein Freund«, stellte Hannes klar.
»Egal, für uns kann er ein wichtiger Zeuge sein. Vielleicht sogar
der
Zeuge, um zu verhindern, dass diese Olympiade als
Die manipulierten Spiele
in die Geschichte eingeht. Max, wie läuft der Betrug in der Praxis ab? Wie funktioniert er auf der untersten Ebene?«
Max löste seinen Blick vom Fenster und damit von einer Gruppe von Sportlern, die sich gerade in gemischten Mannschaften mit einem improvisierten Volleyballturnier die Zeit vertrieb. Seelenruhig klappte er eine Dose Schnupftabak auf, bröselte etwas von dem Inhalt zwischen den Daumen und Zeigefinger seiner rechten Pranke und zog ihn sich dann in die Nase.
»Ein Stück bayerische Heimat hab ich immer dabei«, kommentierte er schmunzelnd Ellens irritierten Blick. Seine Lachfalten an den Augen vervielfältigten sich. »Hält meinen Kopf klar.«
»Äh … na gut.« Ihr Blick war auf ein paar Krümel geheftet, die unter seiner Nase kleben geblieben waren.
»Zu deiner Frage: Diejenigen, ohne die Wettbetrug gar nicht erst möglich wäre, sind die Athleten. Oder auch Schiedsrichter und Offizielle. Der Sport ist ein ideales Betätigungsfeld für die Mafia. Hohe Gewinne, wenig Risiko, viel Verantwortung bei wenigen Sportlern, die noch dazu meist jung und unerfahren sind. Schwachstellen werden ausgenutzt: niedrige Gehälter, sportliche Unzufriedenheit oder Schulden. Aber auch Einsamkeit. Das betrifft Sportler, die sich fernab ihrer Familie im Ausland aufhalten. Und dann gibt es natürlich ein ganz profanes Motiv: Geldgier.«
»Wie viel fällt für die Sportler ab?«, fragte Ellen.
Er zog ein Taschentuch hervor und säuberte sich die Nase. »Im Jugendbereich fünfzig bis hundert Euro pro Wettkampf. Anschließend werden im Hintergrund zum Beispiel zehntausend Euro gesetzt und siebzigtausend gewonnen. Im Profibereich ist es natürlich teurer. Einem belgischen Tennisspieler wurden mal einhunderttausend Euro angeboten, damit er sein Erstrundenmatch in Wimbledon verliert. Wie viel hat man deiner Quelle gezahlt, Hannes?«
»Hat er mir nicht erzählt.«
»Meistens wird beim ersten Mal viel Geld bezahlt, beim zweiten Mal vielleicht auch noch, und dann plötzlich nur noch die Hälfte. Danach noch weniger, bis es irgendwann gar nichts mehr gibt. Dann sitzt der Athlet längst in der Falle. Man droht damit, ihn auffliegen zu lassen oder – wenn das nicht hilft – wendet man körperliche Gewalt an. Drohungen gegen die Familie und … na, ihr könnt es euch ja vorstellen.«
»Einmal drin, kommt man nicht wieder raus.« Ellen klopfte mit dem Stift auf den Tisch. »Genau das könnte Milan Jurić aber trotzdem versucht haben.«
»Wer das versucht oder die vereinbarte Leistung nicht abliefert, begibt sich in Lebensgefahr«, erklärte Max. »Diese verhängnisvolle Spirale überblickt am Anfang leider kaum jemand. Da sieht man nur, dass eine Niederlage einträglicher sein kann als ein Sieg. Man bekommt mehr Geld, als man durch Antrittsgeld plus Siegprämie erhalten hätte. Die Verlockung ist also groß, zumal es schwierig ist, sich abseits der Weltelite durchzuschlagen.«
»Nicht nur dann«, erwiderte Hannes. »Wenn du in der falschen Sportart unterwegs bist, ist es sogar für die Elite verdammt schwer. Kanu ist da nur ein Beispiel. Nicht ohne Grund jage ich halbtags Mörder.«
»Niemand zwingt dich.« Ellen wurde zum ersten Mal persönlich. »Wer sein Hobby zum Beruf macht, sollte sich vorher überlegen, ob er sich das leisten kann.«
»Worauf ich hinauswollte«, erstickte Max den aufkeimenden Konflikt, »ist: Macht ein Sportler einmal mit, ist er jahrelang erpressbar. Nicht nur in Bezug auf die eigene Leistung. Manchmal sollen auch Informationen geliefert werden, zum Beispiel über die geplante Mannschaftsaufstellung oder über die Verfassung des Gegners. Daneben kann das Anwerben weiterer Sportler verlangt werden.«
»Geschickt.« Hannes spießte Ellen mit seinem Blick auf. »So hält sich das System selbst am Leben. Und produziert weiter künstliche Verlierer.«
Max wedelte mit dem Zeigefinger. »Es muss nicht zwangsläufig ums Verlieren gehen. Wenn eine starke Mannschaft nach zwanzig Minuten mit vier Toren führt, erwartet der gesamte Wettmarkt, dass sie noch mehr Tore erzielt. Darauf verzichtet das Team dann aber absichtlich. Derjenige, der das weiß, gewinnt einen Batzen Geld. Doch in der Regel läuft es so, wie du es vermutest. Gerade bei Freundschaftsspielen ist es ein übliches Manipulationsmuster. Die überlegene Mannschaft führt zur Pause und verliert das Spiel in der zweiten Halbzeit absichtlich. Sofern dieses Spiel überhaupt stattfand.«
»Was meinst du damit?«
»Es gibt sogenannte Geisterspiele. Die finden nur auf dem Papier beziehungsweise online statt. Die ehrlichen Tipper ahnen davon nichts. Sie bekommen sogar die üblichen Informationen, während das Spiel angeblich gerade läuft. Aufstellung, besondere Vorkommnisse oder die Torschützen. Ist aber alles erfunden.«
»Wahnsinn.« Hannes schüttelte den Kopf. »In Ansätzen habe ich von diesem Sumpf schon gehört, aber das …« Hilflos hob er die Hände. »Wie verbreitet ist der Betrug? Also ich meine … muss ich jetzt alle Wettkämpfe, die … war alles …?«
»Du willst wissen, ob du jemals unter fairen Bedingungen angetreten bist und deine Siege echte Siege waren?« Max’ Blick war fast schon fürsorglich. »Das kann ich dir nicht beantworten. Keine Sportart ist immun. Aber wenn es dich tröstet: Am stärksten sind Fußball und Kricket betroffen, dann folgen Tennis, Basketball und Badminton. Motorsport ist auch nicht zu vernachlässigen. Meistens betrügen eher unbekannte Sportler, da die bekannten zu teuer sind. Nach meiner Einschätzung musst du dir keine allzu großen Sorgen machen. Vielleicht gab es mal punktuell einen Vorfall, aber sicher nicht flächendeckend.«
»Das scheint sich gerade zu ändern«, brachte Ellen den eigentlichen Hintergrund des Treffens in Erinnerung. »Bei Olympia stehen alle Sportarten im Rampenlicht. Auch in der Welt der Wetten?«
»Klar«, nickte Max. »Da wettet der Asiate sogar auf Synchronschwimmen. Außerdem gibt es bei Olympia viele Individualsportarten, und dort ist ein Betrug erheblich einfacher als im Mannschaftsbereich. Das IOC hat das zwar im Blick, aber wenn ihr mir zugehört habt …« Mit beiden Händen machte er eine wegwerfende Handbewegung. »Sofern es sorgfältig vorbereitet wurde – und das würde man bei einem Großangriff auf die Olympischen Spiele zwangsläufig tun müssen –, haben die besten Überwachungsmechanismen keine Chance.«
»Für wie wahrscheinlich hältst du einen solchen Großangriff?«, fragte Ellen.
»Für mich war es immer nur eine Frage,
wann
er kommt. Ob er jetzt stattfindet, kann ich nicht einschätzen. Wie gesagt, uns liegen keine Hinweise vor. Möglich ist es. Definitiv. Die Mafia hat Blut geleckt und will an die ganz großen Töpfe ran.«
Hannes wurde schwindlig, wenn er daran dachte, mit welchem Gegner man es hier zu tun hatte. Ellen war schon wieder weiter.
»Das Motiv für den Mord an Milan Jurić könnten wir also gefunden haben. Aber was ist mit Branko Anicics Tod? Wollte der auch aussteigen?«
»Wohl kaum«, erwiderte Max. »Wie in allen Geschäftsfeldern der Mafia wird auch beim Wettbetrug mit harten Bandagen gekämpft. Einerseits sind die Syndikate untereinander vernetzt, man tauscht Informationen und Geld aus. Andererseits überbietet man sich gegenseitig, kämpft an entgegengesetzten Fronten oder hintergeht sich. Dieser Branko kann sich also Feinde gemacht haben. Dass ihn einer der betroffenen Sportler umgebracht hat, kann ich mir schwer vorstellen. Der wüsste ja, dass er das Problem damit nicht los wird, sondern dass der nächste Handlanger nachrückt. Und dass Branko ein Handlanger war, davon ist fest auszugehen. Wäre er einer der Drahtzieher, würde er sich nicht in Kopenhagen aufhalten, sondern ganz weit entfernt.«
»Wie ich das sehe, stehen wir vor einer unlösbaren Aufgabe«, zog Hannes ein persönliches Fazit. »Besser gesagt
ihr
, denn ich habe damit zum Glück nichts …«
»Das sehe ich anders«, unterband Max den verbalen Fluchtversuch. »Die Spiele haben gerade erst begonnen, und wir haben vier Fäden, an denen wir ziehen können. Branko und Milan sind zwar tote Fäden, können uns aber trotzdem weiterhelfen. Mit Ivko und deiner Quelle kommen zwei vielversprechende Figuren dazu. Alles zwar auf unterster Ebene, aber woanders können wir sowieso nicht ansetzen. Wie bei einer Zwiebel: Wir müssen so viele Schalen wie möglich abstreifen.«
»Ich bin deiner Meinung.« Ellens Blick spiegelte Angriffslust wider. »Um Ivko kümmern wir uns, aber bei dem vierten Faden kommst du ins Spiel, Hannes!«
»Ach ja?«, fragte Hannes reserviert. »Wieso denn?«
»Bring deinen Bekannten zur Vernunft. Er muss uns alles sagen, was er weiß«, erwiderte Ellen.
»Er kann sogar noch mehr tun«, ergänzte Max. »Vor uns liegt eine der wenigen Chancen, tiefer zum Zwiebelinneren vorzustoßen. Auch Hannes kann hier von Nutzen sein, mir schwebt da schon was vor. Nur … wir haben wenig Zeit, und es ist hochriskant!«
Diesmal platzte Han Chen nicht in eine Orgie, als er seine Schritte durch die extravagante Einrichtung im obersten Stockwerk des Wolkenkratzers lenkte. Allerdings hatte er heute auch einen Termin, und es war erst acht Uhr. Trotz der frühen Uhrzeit saß Kim Koh bereits seit zwei Stunden hinter seinem Schreibtisch, er war Frühaufsteher. Jeden Vormittag hatten sich die verschiedenen Bereichsleiter bei ihm einzufinden, um über die zurückliegenden vierundzwanzig Stunden Bericht zu erstatten und Entscheidungen einzuholen. Dafür wurde jedem exakt eine Viertelstunde zugestanden, andernfalls hätten sich die Besuche bis zum Nachmittag hingezogen. Zu diesen Meetings sollte man gut vorbereitet erscheinen, denn Kim Koh hasste es, wenn man entweder gar nichts oder zu viel zu sagen hatte.
Für Han Chen galt die zeitliche Begrenzung nicht. Üblicherweise traf der Vierundvierzigjährige erst nach den übrigen Besuchern ein, da sich Kim Koh mit ihm über die aktuellen Entwicklungen auszutauschen pflegte. Zumindest sofern ihm danach zumute war, denn in alles weihte er selbst seine engsten Weggefährten nicht ein.
Heute war Han Chen früher als gewöhnlich erschienen – wodurch er das eigentlich obligatorische gemeinsame Frühstück mit seinen Kindern hatte ausfallen lassen müssen. Die Olympischen Spiele hatten aber oberste Priorität, sodass die beiden Männer, die in den Sesseln vor dem Büro auf die Audienz warteten, noch länger würden ausharren müssen. Han Chen wusste, wofür sie zuständig waren. In einem Fall ging es um Prostitution, der andere Mitarbeiter war der Vertreter eines
legalen Geschäftszweiges und auf Immobilienspekulationen spezialisiert. Letzteres interessierte Han Chen nicht, während er die Prostitution verabscheute. Nicht, weil es sich um einen zum größten Teil illegalen Bereich handelte, sondern weil er wusste, welche Abgründe sich dort auftaten. Da er Vater unter anderem einer Tochter war und zudem seine Schwester schon als Mädchen in die Fänge von Zuhältern geraten war, hatte er seine eigene Sicht darauf. Diese Meinung behielt er aber insbesondere vor Kim Koh für sich.
Der Diener öffnete ihm die Tür, und obwohl er nur auf den Rücken von Kim Koh blickte, verbeugte sich Han Chen tief, bevor er sich hinkend dem Schreibtisch näherte. Wie gewohnt trug sein Chef traditionelle Kleidung, der westliche Lebensstil war ihm verhasst – wenn er ihn auch für seine Zwecke nutzte. In dieser Aufmachung ähnelte er dem Dschingis Khan umso mehr, dessen Porträt im Großformat an der Wand prangte. Im Zimmer lag das Aroma von Räucherstäbchen, jeden Morgen zündete Kim Koh eines auf einem kleinen Altar in einer Ecke des Raumes an.
Mit beiden Händen stellte Han Chen ein Holzkästchen auf der Glasplatte des Schreibtisches ab und verbeugte sich erneut. »Es ist erledigt.«
Kim Koh drehte den Schreibtischstuhl herum und beendete damit seine Musterung der Skyline von Singapur. Er fixierte Han Chen einen Augenblick lang mit seinem durchdringenden Blick, bevor er den Deckel abhob und auf die abgetrennte Hand sah. Sie ruhte auf einem grünen Samtkissen.
»Wurde es unauffällig gelöst?« Sein Gesicht blieb ausdruckslos.
Han Chen nickte. Beim Anblick des abgetrennten Körperteils fuhr er sich unbewusst mit dem Daumen über die Narbe auf seinem eigenen Handrücken. Dass es einen Beobachter des Mordes an Branko Anicic gegeben hatte, behielt
er für sich. Da der Landstreicher tot war, spielte es keine Rolle und würde nur unnötig für Missstimmung sorgen.
»Was ist mit dem Geld, das er mir schuldet?« Kim Koh deutete auf die Hand.
»Die Italiener übernehmen den Schaden. Unser Kontaktmann ist vor einer Stunde aus Neapel zurückgekommen. Er soll Grüße bestellen und um Entschuldigung bitten.«
Kim Koh neigte den Kopf. »Vielleicht hätten wir es bei der Zusammenarbeit mit der Cosa Nostra belassen und nicht noch die Camorra einbeziehen sollen.«
Ähnliche Gedanken gingen auch Han Chen durch den Kopf, aber er sparte sich den Hinweis, dass es sein Boss gewesen war, der eine Kooperation mit jeder größeren Mafiaorganisation angestrebt hatte. Schönreden wollte und konnte er die Situation allerdings nicht. Insbesondere da der soeben aus Italien zurückgekehrte Kontaktmann noch eine weitere Information im Gepäck gehabt hatte.
»Die Camorra hat ihren Laden generell nicht im Griff«, berichtete er. »Ein Sportler war kurz davor, sich der Polizei als Kronzeuge zu stellen. Kein ungefährlicher Mitläufer, sondern einer, der seit Jahren dabei war. Er kannte viele Namen und war selbst als Anwerber tätig.«
»Woher weißt du davon?«
»Unser Bote hat es mitbekommen. Obwohl es nicht für seine Ohren bestimmt war und man versuchte, es vor ihm geheim zu halten.«
»Ich habe diesem Paten von Anfang an misstraut«, behauptete Kim Koh. »Das Problem der Camorra ist diese zerfaserte Struktur verschiedener Clans. Ich bevorzuge klare Hierarchien, wie bei der Cosa Nostra. Du hast in der Vergangenheitsform von dem Sportler gesprochen?«
Wieder einmal bemerkte Han Chen, dass sein Boss auf jede Feinheit achtete. »Ja. Er ist gerade noch rechtzeitig aus dem Spiel genommen worden.«
»Immerhin.«
»Dummerweise geschah es während des Wettkampfes. Die ganze Welt hat zugesehen.«
»Ach, also dieser Kanute? Umso besser, dass es alle gesehen haben. Eine ideale Abschreckung. Wie viel kostet uns sein Ausfall?«
»Schwer zu sagen. Unsere Einsätze waren am ersten Tag noch zurückhaltend, ziehen jetzt aber an.«
»Mach eine großzügige Schätzung, und zieh den Italienern auch diesen Betrag von der nächsten Ausschüttung ab. Wenigstens haben sie das Problem rechtzeitig erkannt und sofort durchgegriffen. Das Überwachungssystem scheint also zu funktionieren.«
»In der Tat.« Han Chen nahm die Brille ab und polierte sie an seinem Hemd. »Über andere Quellen habe ich erfahren, dass die dänische Polizei einen Anfangsverdacht hegt, der Kanute könnte in Wettbetrug verwickelt gewesen sein. Kroatische Ermittler sollen dem jetzt nachgehen, aber …«, Han Chen lächelte, was er sonst meist nur in Gesellschaft seiner Kinder tat, »darum brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Sorge bereitet mir eher, dass die Dänen sofort die richtige Vermutung hatten. Das spricht für weitere undichte Stellen.«
»Undichte Stellen wird es immer geben.« Kim Koh wirkte nicht beunruhigt. »Du hast mir aber ein so komplexes Konstrukt versprochen, dass alle Spuren im Nichts enden.«
»Das ist auch so. Aber …«, er setzte die Brille wieder auf, »… es kann zu finanziellen Einbußen führen. Selbst wenn nur ein Teil unseres Plans nicht funktioniert.«
Kim Koh drehte seinen Stuhl zum Fenster zurück. »Wie viel haben wir am ersten Tag verdient?«
Diese Frage hatte Han Chen erwartet, natürlich hatte er die Zahlen parat. »Es gab noch keine Entscheidungen, nur Vorkämpfe. Hauptsächlich in unbedeutenderen Sportarten. Trotzdem konnten wir knapp drei Millionen waschen und haben zusätzlich einen Gewinn von neunzigtausend Dollar gemacht.«
Kim Koh drehte sich ruckartig um. »Neunzigtausend? Nicht viel.«
»Wir stehen noch ganz am Anfang. Am ersten Wettkampftag gab es fast keine manipulierten Ergebnisse, deshalb haben wir uns auf die Geldwäsche konzentriert. Unser Ziel ist realistisch, ich bleibe dabei.« Dieses Ziel war eine Summe, die man sonst innerhalb eines Jahres einnahm.
Kim Koh drehte den Bildschirm zu seinem Vertrauten und bewies damit, dass er die Geschehnisse in Kopenhagen detailliert verfolgte. »Gib mir ein Beispiel, bleiben wir beim Kanu. Die Finalteilnehmer stehen bei manchen Strecken schon fest, hier siehst du die Startlisten. Sind wir überall vertreten?«
»So gut wie. Und an den Lücken wird noch gearbeitet.« Er bemerkte die gerunzelten Augenbrauen und fuhr rasch fort. »Hier zum Beispiel, C1 der Männer. Da haben wir auf beiden Strecken einen Deutschen.«
Kim Koh richtete seinen Blick auf den Bildschirm. »Johannes Niehaus?«
»Nein, der andere. Im Zweier-Canadier der Männer sieht es jetzt ohne Milan Jurić natürlich schlecht aus, dafür läuft es bei den Frauen wie geplant.«
»Ich verlasse mich auf dich. Aber ich stimme dir zu, dass die Dänen zu früh in die richtige Richtung denken, auch wenn sie das Ausmaß wohl kaum überblicken. Sorg dafür, dass sie anderweitig beschäftigt sind. Und behalt die Italiener im Auge! Nichts darf diese Operation gefährden, gar nichts! Tu, was immer dafür nötig ist.«
Han Chen verbeugte sich. Aber sein Gefühl, dass man vielleicht doch zu gierig vorging, hatte sich nicht aufgelöst. Es stimmte, er hatte den Vorschlag aufgebracht, bei diesen Olympischen Spielen aber nur einen überschaubaren Test durchführen wollen. Der Boss hatte jedoch sofort Gefallen an der Idee gefunden und darauf bestanden, keine halben Sachen zu machen. Sollte es schiefgehen, war dennoch klar, wer dafür den Kopf hinhalten musste. Als Han Chen an der Tür noch einmal zurückblickte, sah er, wie Kim Koh erneut den hölzernen Deckel angehoben hatte und versonnen auf die Hand blickte. Um die Mundwinkel des Mannes tanzte dabei der seltene Anflug eines Lächelns.
Die Angst hatte sich in den letzten Tagen so tief in Ralf eingenistet, dass er die Verkrampfung in seinem Inneren kaum noch wahrnahm. Die Beklemmung war zum Normalzustand geworden, und seine Gedanken kreisten ausschließlich um ein Thema. Die Ausgelassenheit und gespannte Erwartung der anderen Sportler ertrug er nur mit Mühe, sodass er ihnen möglichst aus dem Weg ging. Wie er in diesem Zustand die von der Wettmafia geforderte Leistung erbringen sollte, wusste er nicht. Seine Panik vor dem Moment, in dem der Startschuss zum Finale ertönen würde, war so groß, dass er sich jeden Gedanken daran zu verbieten versuchte. Erfolglos. Am nächsten Tag standen auch noch die Qualifikationsläufe über zweihundert Meter an, aber die sollte er ohne Schwierigkeiten überstehen können. Anders sah es bei den Finals aus. Bis zum entsprechenden Rennen über eintausend Meter blieben nur zweieinhalb Tage. Also noch zweieinhalb Tage, bis sein Leben endgültig in Trümmern liegen würde.
Es dämmerte schon, als er sich dem vereinbarten Treffpunkt näherte. Zwar war es erst zwanzig Minuten nach neun, aber Ende Juli gingen die langen skandinavischen Sommertage
allmählich zu Ende. In zehn Minuten würde er ein weiteres Mal auf Brankos Bruder treffen. Freiwillig wäre er Ivko nicht unter die Augen getreten, aber die Einbestellung zu missachten, wäre sicher kein kluger Schachzug. Was der Kerl wohl diesmal wollte? Den Druck erhöhen, natürlich. Nur, wie viel größer sollte der Druck denn noch werden? Mit Branko hatte man ganz anders reden können, auch wenn der zuletzt ebenfalls nicht mehr ganz so entspannt aufgetreten war.
Nachdem sich der erste Schock über dessen gewaltsamen Tod gelegt hatte, grübelte Ralf immer wieder darüber nach, wer dafür verantwortlich sein könnte. Und vor allem: Was das für ihn selbst bedeutete. In der Vergangenheit war alles auf einem überschaubaren Niveau abgelaufen, aber Branko selbst hatte ihm gesagt, dass diesmal alles anders war. Man war Teil von etwas Großem geworden. Wie groß genau, das hatte er nicht näher erläutern wollen, doch schon seine Andeutungen hatten genügt, um Ralf schaudern zu lassen. Eine Wahl hatte er dennoch nicht gehabt, da ihn Branko und Ivko quasi als Bestandsmasse in die neuen Geschäftsbeziehungen miteingebracht hatten. So wie alle anderen Sportler, mit denen sie in der Vergangenheit ihren Reibach gemacht hatten.
In der Nähe des olympischen Dorfes, in dem auch Ralf sein Quartier bezogen hatte, befand sich Dyrehavsbakken, der – obwohl er als der älteste Freizeitpark der Welt galt – etwas im Schatten des Tivoli stand, Dänemarks größter und modernster Einrichtung dieser Art. Bakken, wie er kurz genannt wurde, war jedoch in das Rahmenprogramm der Olympischen Spiele eingebunden worden, und aufgrund der Nähe zu einem der olympischen Dörfer herrschte dort eine hohe Athletendichte. Vor einer halben Stunde waren die Tore geschlossen worden, doch Ralfs Ziel war ohnehin ein anderes. Nicht weit entfernt befand sich ein Strandbad, an dessen Eingang er sich um halb zehn einzufinden hatte.
Tagsüber herrschte hier reger Betrieb, nun entdeckte Ralf nur ein paar Jugendliche. Seine Nervosität nahm zu. Als er näher kam, fiel ihm ein Mann auf, den er zuvor übersehen hatte. Er lehnte an einem Baum, hatte aber eine andere Figur als Ivko. Noch gab es also eine Gnadenfrist, und Ralf kramte nach einer Zigarette. Sein Leben lang hatte er die Finger von diesem Laster gelassen und erst in Kopenhagen damit angefangen. Die erhoffte Nervenberuhigung hatte sich bislang nicht eingestellt, trotzdem zog er die Packung hervor und zündete sich eine an. Er setzte sich mit dem Rücken gegen die Mauer eines Gebäudes und blickte dem Rauch nach, der über ihm in die Abendluft stieg.
»Hältst du das für eine gute Idee?«, erklang auf einmal eine Stimme, er zuckte zusammen.
Von ihm unbemerkt hatte sich der Mann von dem Baum gelöst und war zu ihm getreten. Ralf sah zu ihm hoch und rappelte sich dann auf. Der Unbekannte sprach Englisch mit einem harten Akzent und war wohl einige Jahre älter als er selbst. Der Vollbart verbarg einen Teil der Gesichtszüge, die alles andere als freundlich wirkten.
»Wie … warum …?« Ralfs Stimme zitterte.
Der Mann deutete auf die Zigarette. »Du sollst zwei Goldmedaillen gewinnen. Hat Ivko dir das nicht klargemacht?«
Für Ralf fühlte es sich so an, als friere sein Herz ein. Der Schweiß, der ihm aus allen Poren trat, war ebenfalls eiskalt. »Das … ich …« Er warf die Zigarette zur Seite, worauf sich eine Möwe mit heiserem Schrei erhob und davonflog. »Wo ist Ivko?«
»Ich vertrete ihn heute, lass uns ein Stück gehen.«
Ralf verspürte den heftigen Drang, so schnell wie möglich wegzurennen. Der Mann hatte sich schon abgewandt und ging in Richtung Strand. So als sei er sich völlig sicher, dass Ralf ihm folgen würde. Er drehte sich nicht einmal um. Aber er hatte auf eine Art gesprochen, die es Ralf unmöglich machte, sich einfach
davonzustehlen. Seine Probleme würden dadurch nicht kleiner werden, das stand ohne Zweifel fest. Vielleicht hatte der Mann sogar irgendwo Komplizen in der Nähe, die ihn sofort stellen würden. Mit zitternden Beinen versuchte er, den Abstand zu verringern. Dabei musste er in einen Laufschritt verfallen, denn der groß gewachsene Mann schien es eilig zu haben. Erst als er am Wasser angekommen und weit von anderen Menschen entfernt war, blieb er stehen. Ralfs Atmung ging schnell, als er sich mit einem halben Meter Sicherheitsabstand neben ihn stellte
»Eine große Aufgabe liegt vor dir.« Unverwandt sah der Mann auf die dunkle Ostsee hinaus. Nicht weit entfernt konnte man die Lichter der Schiffe erkennen. »Das scheint dir aber nicht bewusst zu sein.«
»Ich … die Zigarette war nur … eigentlich rauche ich nicht.«
»Die Zigarette meine ich nicht. Von Ivko weiß ich, dass deine Form schlecht ist. Für die Quote ist das gut, kaum jemand setzt auf dich. Wenn du aber versagst, obwohl wir dir den Weg freiräumen, machen wir hohe Verluste.«
Ralfs Gedanken rasten auf der Suche nach einer Antwort. »Aber … das war … genauso war es doch mit Branko besprochen. Und mit Ivko. Ich sollte gerade so ins Finale kommen.«
»Wenn du deine schlechte Form vorspielst, ist das kein Problem. Allerdings haben wir Zweifel, dass du ein guter Schauspieler bist.« Jetzt drehte er sich um. Seine dunklen Augen lagen in tiefen Höhlen und waren in der Dämmerung kaum zu erkennen. »Wir verhelfen dir zu zwei olympischen Goldmedaillen und bezahlen dich sogar dafür. Was gefällt dir an diesem Deal nicht?«
»Ich weiß nicht … so ist das nicht!«
»Nein?« Er machte einen Schritt nach vorn und stand nun dicht vor Ralf. Ein fester Griff umschloss dessen Oberarm.
»Deine Verpflichtung, weitere Sportler anzuheuern, war ein Fehlschlag. Was unsere Kosten erhöht.«
»Aber ich … bei Jessica … sie wollte einfach nicht. Was soll ich da machen?«
»Hättest dir was überlegen müssen. Jetzt ist es zu spät, wir übernehmen das. Was ist mit den anderen, die du anwerben solltest?«
»Hab ich versucht! Nur … ich muss ja aufpassen. Wenn mich jemand verrät …«
»Branko und Ivko hätten dir erklären müssen, wie man das anpackt. Dass du selbst nicht auf die richtigen Ideen kommst, ist mir klar. Jetzt drängt die Zeit. Es gibt noch zwei oder drei Athleten, die dir im Finale gefährlich werden können. Überleg dir, wie du dieses Problem löst.«
»Aber wie soll ich … ich kann es nicht erzwingen!« Ralf war den Tränen nahe.
Der Griff um seinen Arm wurde noch härter. »Wie, ist mir egal. Ich will nur, dass du am Ende ganz oben stehst. Verstanden?«
Ralf nickte, jetzt konnte er die Tränen nicht mehr unterdrücken. Endlich löste sich die Hand von seinem Arm, was aber kaum auf Mitleid zurückzuführen war. Als hätte der Mann Ralfs Zustand gar nicht bemerkt, bohrte er weiter nach. »Also, was ist mit den anderen Sportlern? Besonders interessiert mich Tom Thompson.«
Es war ein Schlag in die Magengrube, der wirksamer nicht hätte ausfallen können. Seit Branko ihm diese Aufgabe gestellt hatte, hatte sich Ralf dagegen gewehrt. Tom Thompson war ein Star, der Millionen verdiente und sich niemals auf ein illegales Geschäft einlassen würde. Ralf kannte ihn flüchtig aus früheren Zeiten und war unvorsichtig genug gewesen, die Bekanntschaft Branko gegenüber zu erwähnen. Nun zeigte sich, dass die
Anicic-Brüder diese Information nicht für sich behalten hatten. Ralf konnte nicht mehr sprechen, er hob nur hilflos die Arme.
»Du entwickelst dich zu einem Totalausfall.« Die Stimme blieb ruhig, ohne dabei an Schärfe einzubüßen. »Also werde ich jetzt deutlicher.« Er griff in die Innentasche seiner Lederjacke und zog ein in Stoff eingewickeltes Päckchen hervor. »Pack es aus!«
Ralf schwindelte. Er sah auf die Hand, als strecke sie ihm eine Kobra entgegen. Seine Fantasie entwarf hysterische Visionen, was er beim Auswickeln entdecken würde. Das Ohr seiner Schwester? Ein Foto seiner Mutter? Widerstrebend griff er zu und spürte, dass es sich um einen flachen Gegenstand handelte. Seine Hände zitterten so stark, dass er die dünnen Stoffschichten kaum abstreifen konnte. Dann blickte er auf Metall, das im verbliebenen Licht glänzte. Zumindest an den Stellen, die nicht braunrot verfärbt waren. Er öffnete den Mund, aber kein Laut kam heraus. Immer wieder drehte er das Messer hin und her. Bedeutete es eine Morddrohung?
»An diesem Messer«, der Mann griff von unten zu und wickelte es wieder ein, ohne es selbst zu berühren, »hat die dänische Polizei großes Interesse. Sie weiß, dass du mit Branko in Kontakt gestanden hast. Sollten die Ermittler dieses Messer erhalten, werden sie schnell herausfinden, dass sich deine Fingerabdrücke darauf befinden. Und Brankos Blut. Das ist meine Absicherung, dass du dich an unsere Abmachung halten wirst. Auch ohne dafür bezahlt zu werden.« Er steckte das Päckchen zurück in die Jacke. »Du redest ab sofort nur noch mit mir, nicht mehr mit Ivko. Morgen Abend treffen wir uns hier zur gleichen Zeit. Bis dahin solltest du Fortschritte gemacht haben. Und wenn du die Polizei einschaltest, taucht das Messer dort ganz schnell auf. Außerdem wird dann noch eine andere Klinge Blutspuren abbekommen. Ich denke an ein kleines Reihenhaus in Aachen.«
Als er sich wegdrehte und davonging, gaben Ralfs Beine endgültig nach. Er sackte in den Sand und kauerte sich eng zusammen. Das Gesicht verbarg er in seinen Händen, während die Tränen flossen und er von Schluchzern geschüttelt wurde. Es hatte keine befreiende Wirkung, alles blieb trost- und ausweglos. Vor seinem inneren Auge sah er das schmale Haus in Aachen, in dem er seine gesamte Kindheit verbracht hatte und in dem noch heute seine Eltern lebten.