KAPITEL
12
Seit das rund vierunddreißig Hektar große Gebiet im Herzen von Kopenhagen 1971 zu einem autonomen Stadtgebiet erklärt worden war, befand es sich fest in der Hand einer alternativen Szene. Das frühere Militärgelände hätte sich dadurch nicht grundlegender ändern können, denn schon seit Jahrzehnten ging es hier laut, bunt und nicht immer gesetzestreu zu. Zwischen dem Hafen und dem Ufer des Stadsgraven gelegen, befand sich die Freistadt Christiania auf einer der attraktivsten Flächen der dänischen Metropole. Die Bewohner hatten eigene Regeln aufgestellt, die nicht zwingend dänischem Recht entsprachen. So wurde Marihuana toleriert, Gewalt, Drogen und Waffen waren dagegen verboten. Natürlich kam es hin und wieder zu Verstößen, sodass auch Christiania nicht von Drogentoten oder bewaffneten Auseinandersetzungen verschont blieb.
Nach einem einschneidenden Erlebnis im Jahr 2016, bei dem während der Kontrolle eines Drogendealers zwei Polizisten und ein Passant verletzt worden waren, hatten sich die Bewohner zum Durchgreifen entschieden. Die Drogengangs mit ihren Dealern und Verkaufsständen waren verbannt worden, wodurch sich die einst berüchtigte Pusher Street verändert hatte. Heute beherrschten Restaurants, Cafés und Kunstboutiquen das Bild von Christiania – und zahlreiche Touristen. Auch für die
Besucher und Teilnehmer der Olympiade gehörte ein Abstecher in die Freistadt zum Pflichtprogramm, sodass Hannes immer wieder Sportler in Trainingsanzügen oder offizieller Mannschaftskleidung vorbeischlendern sah.
Er selbst hatte sich an diesem Abend erneut gegen die Kleidung der deutschen Olympiamannschaft entschieden. Zusammen mit Anna, Ben und seinen Eltern saß er an einem hölzernen Picknicktisch auf der Terrasse eines Cafés. In großen Pflanzenkübeln wuchsen Palmen und spendeten Schatten. Die Sonne büßte allerdings bereits ihre Kraft ein und näherte sich dem Horizont. Ihr mildes Licht tauchte die Szene in eine friedvolle Atmosphäre. Auf einer Bühne spielte eine Band, deren Mitglieder so aussahen, als wären sie schon bei der Gründung des alternativen Viertels mit dabei gewesen. Ihr Musikgeschmack deckte sich zwar nicht mit dem von Hannes, trug aber zu einem entspannten Flair bei.
Als vom Nachbartisch Marihuanaduft herüberschwebte, stieß Hannes seinen Freund in die Seite. »Fällt’s schwer, der Versuchung zu widerstehen? Oder hast du heute Nachmittag schon genug inhaliert?«
Ben nahm einen Schluck aus dem Bierglas. »Nee, weder noch. Komischerweise hat’s mir überhaupt nicht in den Fingern gejuckt. Ich werde alt.«
»Passt gut dazu, dass du Geschäftsmann werden willst«, zog Anna ihn auf.
»Vielleicht.« Ben näherte sich dem Ende seines Langzeitstudiums, wollte dem Studentenleben aber nicht völlig den Rücken kehren. Laut seiner Geschäftsidee plagten sich viele Menschen mit Dingen herum, die sie entweder hassten oder nicht konnten. Es würde genügend Studenten geben, die für vergleichsweise wenig Geld Abhilfe schaffen konnten und Spezialisten auf verschiedenen Gebieten waren. Er selbst wollte
als Vermittler agieren – und es natürlich besser machen als seine Konkurrenten.
»Steht die Finanzierung eigentlich schon?«, erkundigte sich Hannes.
»Hm …« Bens hellblaue Augen verschwanden hinter den Dreadlocks, als er den Kopf senkte und an einem Bierdeckel herumnestelte. »Das wird schon. Da kümmere ich mich als Letztes drum, wenn alle Details stehen.« Er sah auf. »Willst du etwa deine Erbschaft einsetzen?«
Hannes blickte zu seinem Vater, der glücklicherweise nur mit halbem Ohr zuzuhören schien. Immerhin ging es hier um den Nachlass von dessen Schwester, sodass Bens Bemerkung ziemlich pietätlos war. Auch bei Hannes löste sie ein Zwicken im Magen aus. Weniger, weil er den Tod seiner Tante noch betrauerte, sondern eher, weil er sich zuletzt intensivere Gedanken über die Verwendung der hunderttausend Euro gemacht hatte. Gedanken, die eng mit seiner Zukunftsentscheidung verwoben waren.
»Ich denke, ich scheide als Geldgeber aus«, meinte er. »Vielleicht spendiere ich dir einen Laptop, aber zu mehr fehlt mir der Mut.«
Ben nahm es nicht krumm, er kannte Hannes’ Skepsis in Bezug auf das neue Lieblingsprojekt. »Du könntest mir auch anders helfen. Als Werbefigur oder indem du aktiv einsteigst.«
»Mein Foto kannst du von mir aus verwenden, aber dein Geschäftspartner werde ich nicht.«
»Womit wirst du stattdessen deine neuen Freiräume füllen?« Offenbar lauschte sein Vater den Klängen der Hippie-Band doch nicht ganz so versunken, wie es den Anschein hatte.
Seine Mutter kam ihm mit einer Antwort zuvor. »So viel mehr Freizeit wird er gar nicht haben. Die Trainingszeit geht bald für den Polizeidienst drauf. Er kann ja nicht weiter halbtags arbeiten.« Ihr Blick war ernst, die Stimme fast schon
beschwörend. Sie wusste, wie intensiv sich Hannes in den letzten Monaten mit der Frage beschäftigt hatte, ob er weiterhin als Mordermittler aktiv sein wollte.
Wie konkret diese Überlegungen zuletzt gewesen waren, ahnte sie jedoch nicht – obwohl dieser Prozess unter ihrem eigenen Dach stattgefunden hatte. Nachdem Hannes seine letzte Ermittlung nur knapp überlebt hatte, war er für ein paar Tage zu seinen Eltern in die verschlafene Kleinstadt in der Nähe von Hannover geflüchtet und hatte dort die Entscheidung zu seiner beruflichen Zukunft getroffen.
Er hatte es ganz mit sich allein ausgemacht, an einem verregneten Tag, als er auf dem Bett in seinem Jugendzimmer gelegen hatte. Er hatte zur Decke gestarrt und die Gefühle, die der seltene Heimatbesuch auslöste, einzuordnen versucht. Es war einer dieser Augenblicke gewesen, in denen man merkte, dass sich nichts verändert hatte und nur man selbst nicht mehr derselbe war. Man passte nicht mehr so richtig ins Bild, und was für das Umfeld seiner Kindheit galt, traf genauso auf seinen Beruf zu. Diese Erkenntnis hatte ihm endlich die Gewissheit gebracht, nach der er gesucht hatte. Es war ihm wichtig, dass er nicht alles aus den falschen Gründen hinwarf. Zum Beispiel aufgrund der seelischen Erschütterungen, die durch die traumatischen Ereignisse hervorgerufen worden waren und sich hoffentlich wieder legen würden. In diesem Augenblick hatte er gewusst, dass er einfach nicht in die Schablone eines Mordermittlers passte. An irgendeiner Stelle würde es immer drücken, und er hatte keine Lust mehr, sich weiter zu verbiegen.
Nun atmete Hannes ein paar Mal tief durch, dann entschied er, dass es trotz Annas und Bens Anwesenheit der richtige Zeitpunkt war, um ein paar Dinge klarzustellen. »Ich habe weder halbtags noch ganztags Lust, Leichen zu betrachten und geisteskranke Mörder aufzuspüren. In den letzten Monaten hat es um die zwanzig Opfer gegeben, ich bin selbst fast umgekommen,
und beinahe hätte es auch Anna erwischt.«
Und selbst hier werde ich davon nicht verschont,
hätte er fast hinzugefügt, bremste sich aber rechtzeitig.
»Ja, das war schlimm, aber du solltest trotzdem nichts überstürzen. Such dir in Ruhe was Neues, und solange …«
»Nein«, unterbrach er seine Mutter brüsk. »Dann wird ein Monat nach dem anderen ins Land gehen, und irgendwann arrangiere ich mich doch damit, nur weil mir nichts Besseres einfällt. Ich kenne mich, genau so würde es laufen.«
»Da dürfte was dran sein.« Ben nickte kräftig. Als ihn Hannes’ Mutter mit ihren Blicken aufspießte, verzichtete er auf weitere Kommentare und schlürfte erneut einen Schluck Bier.
»Geld fällt aber nicht vom Himmel«, sagte sie. »Ihr wollt heiraten und … vielleicht eine Familie gründen. Anna ist gerade auf Jobsuche und außerdem …«
»Mama!« Er zwang sich, nicht mit der Hand auf den Tisch zu schlagen und spürte, wie seine Freundin ihn mahnend am Oberschenkel berührte. »Das weiß ich alles selbst«, fuhr er begütigend fort. »Ich will doch gar nicht die Hände in den Schoß legen. Nur … nach allem, was passiert ist … verstehst du nicht, dass ich …«
»Du willst einen klaren Schnitt.« Sein Vater drehte der Bühne endgültig den Rücken zu. »Kann ich verstehen. Hand aufs Herz: Morgen endet deine Sportlerkarriere, was nach so vielen Jahren ein großer Einschnitt ist. Das wirft natürlich auch an anderer Stelle grundsätzliche Fragen auf.«
»Für eine Midlife-Crisis ist er zu jung«, wandte seine Frau ein.
»Von einer Midlife-Crisis bin ich weit entfernt«, empörte sich Hannes, obwohl er sich da gar nicht so sicher war. »Ich denke nur, dass es ein geeigneter Zeitpunkt ist, mich neu zu orientieren.«
Ergeben hob sie die Hände. »Mach, was du willst. Orientieren könntest du dich aber auch, während du erst mal weiterarbeitest. Wahrscheinlich sogar entspannter. Sobald du ein klares Ziel hast, kannst du dann immer noch woandershin wechseln.«
Sein Vater schmunzelte. »Je mehr du dagegen anredest, umso weniger wirst du es ändern können.«
»Findest du es etwa richtig?«
»Ich finde, dass es seine Entscheidung ist. Die er mit Anna besprechen muss, aber nicht mit uns. War doch schon früher so: Hannes brauchte ewig, um sich für oder gegen etwas zu entscheiden. Ein langwieriges Hin und Her mit Abwägen aller Vor- und Nachteile.«
»Kommt mir bekannt vor.« Anna biss sich auf die Lippen, ihre Belustigung war nicht zu übersehen.
»Dann kennst du schon mal sein zentrales Charaktermerkmal.« Sein Vater zwinkerte ihr zu. »Genauso typisch ist es aber auch, dass Hannes sich nicht mehr abbringen lässt, wenn er sich endlich zu einer Meinung durchgerungen hat. Und eigentlich hat sich das immer als eine gute Entscheidung herausgestellt. Mein Bauchgefühl ist deshalb ganz entspannt.«
Hannes war ihm für das Glätten der Wogen dankbar, auch wenn sein eigenes Bauchgefühl nicht ganz so überzeugend war. Um ehrlich zu sein, es spielte nur aus einem einzigen Grund nicht verrückt.
»Das klingt vielleicht … also ich meine … der finanzielle Druck ist ja gar nicht so groß«, druckste er herum. »Anna und ich leben nicht auf großem Fuß, deshalb wäre es kein Drama, ein paar Monate lang kein Gehalt zu bekommen.«
»Spielst du etwa auf …«
Mit einer beschwichtigenden Geste unterband sein Vater die aufkeimende Empörung seiner Frau. »Ich sehe dir an, dass du ein schlechtes Gewissen gegenüber Gabi hast. Das musst du
aber nicht. Deine Tante wollte, dass du und deine Schwester schon jetzt das Geld bekommt und nicht erst, wenn ihr es gar nicht mehr braucht. Je mehr ich darüber nachdenke, umso besser kann ich dich verstehen. Es ist wirklich der richtige Zeitpunkt, um mal für eine Weile auszusteigen.«
Ben hatte das Gespräch in den letzten Minuten schweigend, aber mit Interesse verfolgt. »Du könntest gleich hierbleiben.« Er deutete auf das bunte Treiben. »Einen besseren Ort zum Aussteigen wirst du wohl kaum finden. Mietet euch ein Hausboot!«
»Spinnst du?« Anna tippte sich gegen die Stirn. »Der Herbst steht vor der Tür, und wir sind hier in Skandinavien!«
»Also das schreckt mich nicht ab. Ich wäre sofort dabei.«
»Würde dir so gefallen.« Sie zeigte ihm noch mal den Vogel. »Was für Ideen hast du als Nächstes? Freie Liebe?«
Ben grinste, enthielt sich angesichts der Anwesenheit von Hannes’ Eltern aber einer anzüglichen Antwort.
»Ich dachte sicher nicht an eine Kommune.« Hannes war das Thema zu ernst für Foppereien. »Ich habe einfach das Gefühl, mal … durchatmen zu müssen. Es fühlt sich an, als liege eine Kreuzung vor mir. Und ich will mir in Ruhe überlegen, in welche Richtung ich abbiege.«
»Da haben wir’s.« Sein Vater lachte. »Wie ich’s gesagt habe.«
»Was sagst
du
überhaupt dazu?«, wandte sich Hannes’ Mutter an Anna.
Sie zögerte die Antwort hinaus und rieb sich mit dem Zeigefinger über die Nase. Es war eine für sie typische, unbewusste Übersprunghandlung, die Hannes vom ersten Tag an gemocht hatte. »Um ehrlich zu sein, für mich fühlt es sich ähnlich an wie für Hannes. Ich hab bisher kein Jobangebot entdeckt, das mich begeistert. Scheint so, als würde ich in die falsche Richtung marschieren.«
»Die Probleme eurer Generation hätten wir mal haben sollen.« Seine Mutter winkte ab, als Hannes Widerspruch einlegen wollte. »Aber so wie ihr unsere Lebenseinstellung nicht nachvollziehen könnt, geht es uns eben genauso mit euch. Ich hör jetzt auf, weiter auf dich einzureden.«
»Aber du bist sauer«, vermutete Hannes.
»Nein.« Sie strich über seine Hand. »Enttäuscht vielleicht … und ich mach mir Sorgen. Aber ich weiß, dass ihr nicht unter der Brücke landen werdet.«
»Darauf sollten wir anstoßen.« Ben hob sein Glas. »Und natürlich auf die Hochzeit! Was gibt’s da Neues? Habt ihr endlich die Musikfrage geklärt?«
»Die Band da vorn nehmen wir schon mal nicht.« Dankbar nutzte Hannes die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. Er war erleichtert, die Aussprache hinter sich gebracht und die Absolution seines Vaters erhalten zu haben. Das Gefühl, eine Dummheit zu begehen, war zwar noch nicht völlig verschwunden, aber abgeschwächt worden. Auch wenn die Zukunft noch wie eine leere Leinwand vor ihm stand, fühlte es sich doch richtig an, dass er sie nicht als Mordermittler mit Farbe füllen würde. Marcel, der nach den Olympischen Spielen sein neuer Vorgesetzter hätte werden sollen, wusste noch nichts davon, genauso wenig wie der Rest der Kollegen. Diese Mitteilung wollte Hannes ihnen erst nach seiner Rückkehr überbringen, und vor allem dem Gespräch mit Marcel sah er mit gemischten Gefühlen entgegen. Schließlich hatte der vor Monaten erfolgreich dafür gekämpft, dass Hannes in sein Team wechseln durfte und dafür auch atmosphärische Verwerfungen in Kauf genommen. Dieser hohe Einsatz würde nun ohne Lohn bleiben.
Der dritte Wettkampftag näherte sich mit den Abendveranstaltungen dem Ende. Im Gegensatz zu dem nordischen Austragungsort verwöhnten in Neapel noch subtropische
Temperaturen die Menschen. Entsprechend spielte sich das Leben überwiegend auf den Straßen und Plätzen ab, hie und da flimmerten Bilder von schwitzenden Athleten über die Bildschirme vor den Bars. Der Großteil der Gäste warf nur selten einen Blick darauf. Die Italiener waren an diesem späten Abend nicht mit aussichtsreichen Kandidaten vertreten, man wartete auf den kommenden Tag, wenn die Volleyballmannschaft ihr nächstes Spiel bestritt. Nach dem Auftaktsieg gegen Russland war sofort Euphorie ausgebrochen, immerhin handelte es sich bei den Russen um einen anderen Top-Favoriten.
Hatten vor dem Beginn der Olympischen Spiele die Schlagzeilen noch dem Selbstmord von Fabio Ricco und möglichen Auswirkungen auf seine Teamkameraden gegolten, war der Sport an sich wieder zurück in den Fokus gerutscht. Mit dem ungefährdeten und überraschend klaren Drei-zu-Null-Sieg hatte die Mannschaft die Frage nach negativen Effekten ohnehin nachdrücklich beantwortet: Es gab keine. Fabio wäre nach der Entscheidung des Trainers sowieso nicht mit nach Dänemark gereist, auch in emotionaler Hinsicht schien sein Tod die Mannschaft nicht so zu belasten, dass es ihre Leistungsstärke schmälerte. Auf den Straßen war die Olympiade an diesem Abend kein großes Thema, hier drehten sich die Diskussionen größtenteils um eine Regierungskrise und den immer wahrscheinlicher werdenden Rücktritt des Ministerpräsidenten.
In dem am Hang gelegenen Prachtbau verfolgte Claudio das olympische Geschehen dagegen ganz genau. Er hatte sich vor dem Fernseher quer über ein Sofa gelegt, auf den Knien balancierte er seinen Laptop. Wechselweise glitt sein Blick zwischen den beiden Bildschirmen hin und her. Ihm gefiel nicht, was er hier tat. Aber das galt für so vieles in seinem Leben. Wenigstens hatte er ein Mittel gefunden, um die Geschäfte hin und wieder mit innerer Genugtuung zu unterminieren. Allerdings nur auf niedrigem Niveau, denn sich der Polizei als
Spitzel zur Verfügung zu stellen, traute er sich bei den weitreichen Verbindungen seiner Familie dann doch nicht. Aber immerhin. Seit er die englische Studentin Julia als Angestellte von Hawk Eye demaskiert hatte, war ihm eine Möglichkeit gegeben worden, seinen Eltern, Brüdern, Cousins, Cousinen – und insbesondere dem Großvater – im Geheimen den Mittelfinger zu zeigen.
Anfangs war dies der einzige Grund gewesen, weshalb er den Kontakt zu Julia nicht abgebrochen hatte. Dann hatte er festgestellt, dass sie zwar nicht ganz so begabt war wie er selbst, dafür aber unerschrockener. Und schließlich hatte er sich für sie als Frau zu interessieren begonnen. Auch in Beziehungsangelegenheiten war er in der Familie ein Sonderfall, noch immer warteten alle darauf, dass der Zweiundzwanzigjährige mit den attraktiven Gesichtszügen endlich die erste Freundin präsentierte. Sticheleien über eine mögliche Homosexualität waren Alltag, trafen aber nicht zu. Die Gründe für sein Singledasein lagen im mangelnden Selbstbewusstsein und in der Scham über seine familiäre Herkunft, für die er zwar nichts konnte, die aber immer an ihm haften würde.
Der tiefer liegende Grund für all seine Probleme lag indes neun Jahre zurück. Kurz nach seinem dreizehnten Geburtstag hatte es angefangen und drei Jahre angedauert. Zunächst hatte er sich unsichtbar zu machen versucht – erfolglos. Dann war er zunehmend verstummt, bis er überhaupt kein Wort mehr von sich gegeben hatte. Auch dies hatte keine Wirkung gezeigt, genauso wenig wie die Depression, die ihn immer häufiger verschlungen hatte. Nichts hatte seinen Großvater abgehalten. Erst die tiefe Schnittwunde, die sich Claudio eines Nachts vorm Spiegel zugefügt hatte. Noch heute erinnerte die lange Narbe an diesen Wendepunkt. Die Finger, die bis dahin so gern über seine angeblich marmorähnliche Haut gefahren waren, hatten Claudio seitdem nicht mehr berührt.
Und doch ließ allein der ständige Anblick dieser kräftigen Hände zuverlässig Erinnerungen wieder lebendig werden. Wie oft hatte Claudio sich verflucht, den Absprung nicht zu wagen! Er hasste sich selbst für seinen fehlenden Mut. Doch irgendwann würde ein Neuanfang möglich sein! Weit entfernt von Neapel, irgendwo bei Leuten, für die die Mafia eine gruselige und zugleich aufregende Geschichte, aber keine greifbare Realität war. Ob er jemals den Schneid hätte, Julia auch in der realen Welt gegenüberzutreten, stand auf einem anderen Blatt. Ihr Äußeres gefiel ihm, ihre Art mochte er, ihre Interessen waren ähnlich, und sie hatte keinen Freund – sofern seine Nachforschungen ein einigermaßen vollständiges Bild lieferten.
Zuletzt hatten sie zunehmend private Dinge ausgetauscht, häufig schrieb sie dabei in einer Art über ihren Großvater, dass Claudio das Bedürfnis verspürte, ihn kennenzulernen. Aber was noch wichtiger war: Er meinte, aus ihren Zeilen auch Interesse an ihm selbst herauszulesen. Obwohl er noch nie eine Freundin gehabt hatte, waren ihm aufgrund seines attraktiven Aussehens derartige Signale durchaus bekannt. Sie erschien ihm immer stärker wie das personifizierte Gute, wie eine Jeanne d’Arc. Sie lebte in einer völlig anderen Welt, kämpfte gegen das Böse – gegen den Egoismus, der letztlich Kern allen Übels war.
Als Claudio erfahren hatte, dass das Gebäude von Hawk Eye dem Erdboden gleichgemacht werden sollte, war glücklicherweise gerade kein Auge auf ihn gerichtet gewesen. Ob er Julia rechtzeitig hatte warnen können? Im Internet hatte er nur kleine Meldungen über eine Explosion in Bristol gefunden, offenbar war vieles noch unklar. Knapp zwei Stunden lag der Anschlag zurück. Zwei Stunden, in denen er kaum fähig war, seiner eigentlichen Aufgabe nachzugehen. Dies entging auch seinem Großvater nicht, der unbemerkt das Zimmer betreten hatte und auf den Bildschirm spähte.
»So wenig hast du erst eingesammelt? Stimmten die Tipps nicht?«
Claudio fuhr zusammen. Wie immer, wenn er mit dem dominanten Mann allein in einem Raum war, beschleunigte sich sein Herzschlag, und er stotterte. »N-n-nein … also, ja … n-n-nicht alle. Aber ich soll doch un… unauffällig vorgehen!«
»Unauffällig, aber nicht verzagt.« Sein Großvater nahm einen Schluck aus dem Weinglas. »Die Asiaten bekommen schon nicht mit, dass wir auch auf eigene Faust aktiv sind. Und selbst wenn! Es war nie die Rede davon, dass wir ausschließlich über sie Wetten platzieren.«
Claudio nickte. Er wusste aber, dass die Asiaten dies voraussetzten, da sie wiederholt auf die Gefahren zu hoher Beträge hingewiesen hatten. Wenn nun auch die Italiener Geld auf eine unwahrscheinlich wirkende Wette schoben und tatsächlich gewinnen würden, sprängen zumindest bei Hawk Eye die Alarmsysteme an. Seit zwei Stunden konnten sie das aber nicht mehr, wie sein Großvater in Erinnerung brachte.
»Also geben wir jetzt mal Gas«, fuhr er fort und bedeutete Claudio unwirsch, Platz auf dem Sofa zu schaffen. »Was soll als Nächstes passieren?«
Claudio nahm die Füße herunter und setzte sich steif hin. Trotz der Klimaanlage rannen ihm Schweißperlen zwischen den Schulterblättern den Rücken hinunter. »Ähm … wir sind jetzt … das Turmspringen ist gleich zu Ende. Der Führende springt als L-l-letztes. Eigentlich hat er einen großen Punktevorsprung, aber den … den l-l-letzten Sprung wird er völlig vergeigen.«
»Wer gewinnt also?«
Claudio wich dem weingeschwängerten Atem aus, der dunkle Geister heraufbeschwor. »Der … ähm … Ukrainer.«
»Wieso bist du so nervös? Setz hunderttausend auf ihn.«
Claudio schluckte, führte den Befehl aber aus. Dann sahen sie zum Fernseher, der über einer Kommode an der Wand hing.
Beide schwiegen. Minuten später folgte die Erlösung, als der bis dahin wie der sichere Sieger aussehende Sportler einen derart missratenen Versuch hinlegte, dass Claudio sich fragte, wer diesen Betrug nicht wittern sollte. Zwar hatte der Mann schon beim Absprung einen Fehler eingebaut, der einen runden Sprung von vornherein ausschloss, aber in der Luft hatte er es nach Claudios Meinung übertrieben. Sein Großvater schien sich darüber keine Gedanken zu machen. Er beugte sich über den Laptop, erneut konnte Claudio den Rotwein in seinem Atem riechen.
»Sechshundertfünfzigtausend! Hat sich gelohnt. Gut, dass ich rechtzeitig reingekommen bin. Morgen lässt du das wieder deine Brüder machen, die haben weniger Hemmungen.«
Er hob die Hand, und Claudio befürchtete schon eine Berührung. Sollte es jetzt wieder …? Doch unvermittelt und ohne ihn anzusehen zog der Patriarch die Hand wieder zurück, stand auf und verließ den Raum. Claudio atmete auf. Es war an der Zeit, endgültig! Fest entschlossen, die Flucht aus der Familie endlich anzugehen und sich ein Leben nach eigenen Regeln zu formen, überschlug er seinen Kontostand. Alles musste gut vorbereitet sein, doch in zwei oder spätestens drei Tagen sollte er in der Lage sein, unauffindbar abzutauchen. Schließlich beschäftigte er sich mit dieser Vision nicht erst seit eben!
Schnell wechselte er zu seinem Chatprogramm – noch immer keine Nachricht von Julia. Sein Mut sank, doch er klammerte sich an der Hoffnung fest. Klar, die Computer und Server von Hawk Eye waren sicher zerstört, und Julia befand sich logischerweise nicht mehr am Arbeitsplatz. Sie würde wohl auch kaum als Erstes im Kopf haben, sich einen anderen Computer zu suchen, um sich ins Darknet zu begeben und ihm zu schreiben. Aber … hatte sie überhaupt überlebt? Sein Magen schmerzte. Claudio öffnete ein Dokument, in dem er alle Informationen über sie gesammelt hatte. Mit den Zähnen bearbeitete er seine Unterlippe. Schließlich gab er dem inneren Verlangen nach. Er
musste einfach wissen, ob sie mit dem Schrecken davongekommen war oder ob seine Warnung sie zu spät erreicht hatte. Er gab ihre private Adresse in das Empfängerfeld ein und schrieb ihr eine Mail. Erst dann war er in der Lage, sich wieder den Planungen für sein neues Leben zu widmen, das er baldmöglichst beginnen wollte. Vielleicht sogar im englischen Bristol.
Längst zeigte sich der Mond über Kopenhagen, und die Straßen hatten sich nach Beendigung der Wettkämpfe geleert. Hie und da feierten noch vereinzelt Fans eine Medaille ihrer Landsleute, doch der Großteil von ihnen richtete den Blick bereits nach vorn auf die nächsten Entscheidungen. Die Olympischen Spiele schrieben jeden Tag aufs Neue Geschichten über Euphorie und Schmerz, sodass die jetzigen Sieger schon Stunden später bei den Ersten wieder in Vergessenheit geraten würden. Es waren kurze Blitzlichter des Glücks oder der Verzweiflung – zumindest wenn man die öffentliche Aufmerksamkeit als Gradmesser heranzog.
Auch in einem Vorort Kopenhagens herrschte Ruhe, von den klappernden Geräuschen eines vorbeifahrenden Güterzuges abgesehen. Entgegen dem Anschein war es in dem Industriegebiet nicht menschenleer, alle achteten lediglich darauf, nicht sichtbar zu sein. Rund um eine Lagerhalle hatten sich Dutzende schwarz gekleideter Personen verteilt. Einige von ihnen waren Scharfschützen, andere zählten zur Truppe für den direkten Zugriff. Gemein war allen, dass sie dicke Schutzkleidung und Helme trugen, um in einer bewaffneten Auseinandersetzung bestehen zu können.
Ellen war dagegen in Zivil gekleidet, genauso wie Max. Sollten sie tatsächlich in Kürze die Verhaftung von Terroristen beobachten können, wäre der Ermittlungsdurchbruch rascher als erhofft eingetreten. Beide saßen in sicherer Entfernung drei Straßenzüge vom Ort des Geschehens entfernt in einem
Kastenwagen. Auf den Monitoren war ein nur schwach beleuchtetes Gelände zu sehen, über die Kopfhörer konnten sie die Kommunikation unter den Einsatzkräften verfolgen. Hin und wieder übersetzte Ellen dem Kollegen von Europol das Gesagte auf Englisch, ohne dass er darauf reagierte. Regungslos starrte er weiter auf den Bildschirm.
Vor anderthalb Stunden hatte Sören in einem eilig einberufenen Meeting über die neuesten Entwicklungen informiert. Dabei hatte er auch von dem Angriff auf das Unternehmen Hawk Eye berichtet, den nicht nur er sofort in einen Zusammenhang mit den Geschehnissen bei der Olympiade gebracht hatte. Max hatte sich bestürzt gezeigt, da er das Unternehmen nicht nur kannte, sondern auch in einem regen Austausch mit dem Geschäftsführer und dessen Mitarbeitern stand. Wie es aussah, würde man auf die Hilfestellungen von Hawk Eye auf absehbare Zeit verzichten müssen.
Aufgrund von Videoaufnahmen und Zeugenaussagen hatte die britische Polizei das Geschehen rekonstruieren können. Kurz nach siebzehn Uhr war ein Krankenwagen mit Blaulicht vor dem Firmensitz vorgefahren. Die Besatzung hatte dem Sicherheitsdienst mit hektischen Bewegungen und Zurufen signalisiert, dass in der Tiefgarage ein Notfall vorliege, bei dem es auf jede Sekunde ankäme. Völlig überrumpelt hatten die beiden Männer die Schranke geöffnet und den Angreifern damit das Gebäude ausgeliefert.
Zehn Minuten später war der Krankenwagen wieder aus der Einfahrt gerast und erneut durchgewunken worden. Im Wageninneren hatte natürlich kein Patient gelegen, stattdessen hatte der Sprengstoff gefehlt, der sich zuvor darin befunden haben musste. Weitere drei Minuten später hatte es zwei heftige Detonationen gegeben. Die Tiefgarage war auf das darunterliegende Kellergeschoss durchgebrochen, wo die extra abgesicherten Server gestanden hatten. Auch die Decke zu den oberen
Geschossen hatte den Explosionen nicht standgehalten. Ein Teil des Gebäudes war eingestürzt, nicht nur die Mitarbeiter von Hawk Eye, sondern auch Angestellte anderer Firmen waren chancenlos gewesen. Bislang waren fünf Todesopfer und gut vierzig Verletzte zu beklagen, außerdem wurden noch zwanzig Personen vermisst.
Der Krankenwagen war an einer Landstraße außerhalb von Bristol gefunden worden – ausgebrannt. Die Spurensicherung versuchte dennoch ihr Möglichstes, aber Sören ging davon aus, dass dies eine Fleißaufgabe ohne Erfolg war. Die einzige Hoffnung, Licht in die Hintergründe des Anschlags zu bringen, fußte auf den Aussagen der Überlebenden. Eine junge Kollegin namens Julia sei fast zeitgleich mit der ersten Explosion von ihrem Stuhl aufgesprungen und habe in das Großraumbüro geschrien, dass alle sofort das Gebäude verlassen müssten. Sie sei soeben vor einem Angriff auf Hawk Eye gewarnt worden, von wem und in welcher Form hatte sie nicht mehr mitteilen können. Persönlich befragen konnte man sie nicht, da sie mit schweren Verletzungen im Koma lag.
Ob es eine Verbindung zu den Vorfällen in Kopenhagen gab, war nicht nur für Max eine hypothetische Frage. Sören hatte für diese Annahme sogar fundierte Gründe, da ihm vom Nachrichtendienst bedrohliche Neuigkeiten übermittelt worden waren. Diese Informationen – zusammen mit der Vermutung, dass sämtliche Vorkommnisse miteinander in Bezug standen – hatten dafür gesorgt, dass Ellen nun neben dem Schnupftabak inhalierenden Max in einem Transporter saß, anstatt sich schlaflos im Bett hin- und herzuwälzen.
Der Tipp war von der CIA gekommen. Die Amerikaner hatten ernst zu nehmende Hinweise aufgeschnappt, nach denen eine Splittergruppierung einer bekannten islamistischen Terrororganisation einen Angriff auf eines der olympischen Dörfer vornehmen wollte. Genauer gesagt auf die Sportler
Israels. Sollten sich die Ereignisse der Olympischen Spiele 1972 damit in Kopenhagen wiederholen? Die Bestätigung war eine Stunde später erfolgt. Die Amerikaner hatten eine Kommunikation aufgezeichnet, bei der man eigentlich von einem anderen Hintergrund ausgegangen war.
Seit Monaten wurde ein Italiener überwacht, der im Verdacht stand, im Auftrag eines italienischen Mafiaclans den Drogenschmuggel in die USA zu organisieren. Während der Olympischen Spiele hatte er aber offenbar einen anderen Auftrag bekommen. Mit einem noch nicht identifizierten Gesprächspartner hatte er letzte Details einer bevorstehenden terroristischen Aktion besprochen und eine Geldübergabe im Nahen Osten organisiert. Die gelieferten Waffen befänden sich allerdings bereits in Kopenhagen, und zwar in genau jenem Gebäude, das mittlerweile von Sondereinsatzkräften umzingelt war. Dass es noch in dieser Nacht zum Showdown kommen würde, stand außer Frage. In dem Telefonat war von ein Uhr die Rede gewesen, bis dahin waren es noch zwei Stunden. Da man nicht wusste, ob noch an anderen Stellen Waffen versteckt worden waren, hatten die Dänen die Sicherheitsvorkehrungen vor den olympischen Dörfern verstärkt, ohne dass diese allzu sichtbar wurden. Die Terroristen sollten keinen Verdacht schöpfen, es war
die
Gelegenheit, sie gesammelt zu stellen und auszuschalten.
Ellen trank die Wasserflasche leer, es ermüdete sie, auf die flimmernden Bildschirme zu blicken. Überhaupt war sie der Meinung, hier als Mordermittlerin völlig fehl am Platz zu sein, schließlich waren für die Terrorabwehr andere zuständig. Da sich Max seine Anwesenheit aber nicht hatte nehmen lassen, hatte sie sich verpflichtet gefühlt, seinem Beispiel zu folgen. Weiter stumm herumsitzen wollte sie jedoch nicht, man konnte die Wartezeit auch sinnvoller nutzen. Sie zog das Haargummi ab und richtete ihre Haare neu, dann nahm sie Max die Kopfhörer
von den Ohren. Er zuckte zusammen, als habe er vergessen, dass er nicht allein in dem Kastenwagen saß.
»Du siehst aus, als würdest du einen spannenden Thriller und kein Standbild anschauen«, meinte sie. »Wärst du am liebsten bei der Eingreiftruppe dabei?«
»Da liegst du gar nicht so falsch.« Ein melancholischer Ausdruck trat in seine Augen. »Ich war früher tatsächlich bei einer Spezialeinheit.«
»Weshalb hast du aufgehört? Aus Altersgründen?«
»Na hör mal! Ist ja nicht so, dass ich schon auf die Rente zuginge.« Nur kurz erwachten die Lachfalten an seinen Augen zum Leben. »Ich bin mit der Belastung nicht zurechtgekommen. So einfach ist das. Vor den Einsätzen hatte ich Panik und hinterher unruhige Nächte. Eine Weile konnte ich es überspielen, aber dann wurde mir klar, dass ich auch meine Kollegen gefährde.«
Ellen nickte, wollte das Thema aber nicht weiter vertiefen. Sie hatte das Schweigen nicht unterbrochen, um Small Talk zu betreiben oder den Kollegen besser kennenzulernen. Nach den Olympischen Spielen würde man sich vermutlich nie wiedersehen.
»Denkst du immer noch, dass dieser angebliche Terrorangriff auf die Israelis im Zusammenhang mit der Wettmafia steht?«
»
Angeblicher
Terrorangriff? Wir reden nicht von einem Gerücht, sondern von einer Information der CIA.«
»Ist ja nicht so, dass die nicht schon mal falschgelegen hätte.«
»Unabhängig davon, was ich von der CIA halte, ja, ich gehe von einem Zusammenhang aus. Wenn die Camorra Islamisten unterstützt oder sogar beauftragt, dann bestimmt nicht aus religiösen Motiven. Vielleicht hat man die Terroristen die Drecksarbeit bei Hawk Eye erledigen lassen und unterstützt sie im Gegenzug bei einem anderen Vorhaben.«
»Mit was?«
»Geld, Waffen, Logistik. Was weiß ich. Trotzdem überrascht es mich.«
Ellen tat der Rücken weh, sie stand auf, konnte sich aber aufgrund der Wagenhöhe nicht durchstrecken. Auch Max wirkte wie ein Bär, den man in einen zu engen Käfig gesperrt hatte.
»Das, was dich irritiert, lässt mich daran zweifeln, dass wir beide hier irgendetwas verloren haben«, verkündete sie. »Wenn israelische Sportler von islamistischen Fanatikern getötet werden, stehen die Spiele vor dem Abbruch. Dann ist Schluss mit Wetten.«
»Möglicherweise sind gar keine Morde geplant. Man will nur Aufmerksamkeit.«
»Und auf welche Weise? Indem man zeigt: Seht her, wir hätten die israelische Mannschaft auslöschen können, haben es aber nicht getan? Ergibt doch keinen Sinn!«
Max hob die Hände zu einer ahnungslosen Geste. Dann griff er nach den Kopfhörern, aber Ellen war nicht bereit, ihn wieder abtauchen zu lassen. Max mochten gerade die Bilder aus den Anfangsjahren seiner Karriere vor Augen stehen, sie selbst hatte aber auch genügend zu verarbeiten – und das stammte aus einer bei Weitem nicht so entfernten Vergangenheit. So war das nun mal in diesem Job. Jeder trug mindestens ein Päckchen mit sich herum, doch darunter durften die zu erledigenden Aufgaben nicht leiden. Seinen Dämonen hatte man sich zu Hause zu stellen. So, wie es Ellen tat.
»Was meinst du, wurde auch der Giftanschlag auf Tom Thompson von den Terroristen durchgeführt?«, fragte sie.
»Nein, das wäre für Islamisten untypisch und vergleichsweise unspektakulär. Wir sind uns aber hoffentlich einig, dass in diesem Fall definitiv die Wettmafia dahintersteckt?«
»Nach dem, was Tom mir mitgeteilt hat, muss man davon ausgehen. Eins geht mir nicht aus dem Kopf: Weshalb hat sein Manager den Kontaktversuch der Russin nicht wie versprochen gemeldet?«
»Dem Manager geht das wohl genauso wenig aus dem Kopf.« Max runzelte die Stirn. »Er wird sich ewig Vorhaltungen machen, dass er eine Überreaktion seines Schützlings vermutet hat.«
»Kann sein.« Ellen nagte an ihrer Unterlippe, bemerkte aber nicht, dass sie mal wieder dieser Angewohnheit nachging. »Der Manager wirkte geschockt und schuldbewusst, als wir mit ihm sprachen. Aber eher so, als … trage er persönlich die Schuld.«
»Na und? Ist ein typisches Muster. Außerdem ist er ja auch nicht ganz unschuldig.«
»Aber vielleicht viel schuldiger, als wir und Tom annehmen.«
Nun hatte sie Max’ volle Aufmerksamkeit. »Das leuchtet mir nicht ein. Er verdient doch am Erfolg seines Sportlers viel mehr, als …«
»Du hast selbst gesagt, dass man mit Wetten oft noch einiges mehr gewinnt.«
»Das stimmt, aber er muss ja auch an die Marke Tom-Tom denken. Ein schlechtes Abschneiden bei Olympia schadet dem Image. Ein toter Tom-Tom wäre erst recht eine Katastrophe.«
»Den Tod muss er nicht gewollt haben. Er könnte aber was angeleiert haben, das außer Kontrolle geraten ist. Denn genau so wirkte er auf mich.«
Max musterte sie schmunzelnd, doch sie erwiderte den Blick regungslos. Manche mochten von ihr denken, dass sie empathielos und hartleibig war, dabei hatte sie sich lediglich eine Schutzschicht zugelegt. Ausgelöst von einer Ermittlung, die sie bis ans Lebensende nicht vergessen würde. Privat war sie ganz anders – zumindest hoffte sie das. Worauf sie sich aber sowohl privat als auch beruflich verlassen konnte, waren ihre
Antennen. Und ihr Instinkt sagte ihr, dass Toms Manager aus gutem Grund von heftigen Selbstvorwürfen geplagt wurde.
Diesmal brach Max das Schweigen. Er sah nun nicht mehr amüsiert, sondern nachdenklich aus. »Bei jedem B- oder C-Sportler würde ich dir sofort zustimmen. Aber bei einem Kaliber wie Tom? Andererseits … vielleicht bin ich betriebsblind geworden. Es wäre ungewöhnlich, aber deshalb ist es natürlich nicht ausgeschlossen. Wir sollten den Manager in die Überwachung mit aufnehmen.«
»Hab ich schon angeleiert.«
»Und … wann wolltest du mir das sagen? Wieso hast du es nicht mit mir …«
Seine Fassungslosigkeit gefiel Ellen. »Du bist nicht mein Chef. Mit Sören hab ich es natürlich abgeklärt.«
»Ich bin zwar nicht dein Chef, aber … ach, egal.« Er zwinkerte ihr zu. »Deine Kollegen haben es nicht immer leicht mit dir, oder?«
»Es hat sich noch niemand beschwert.«
»Verrätst du mir, ob bei der Überwachung schon was rausgekommen ist?«
»Er latscht in der Gegend rum. Zumindest bis vor einer halben Stunde. Der Schock scheint ihm also tief in die Knochen gefahren zu sein.«
»Hat er telefoniert?«
»Nein.« Darüber war Ellen auch enttäuscht, denn wenn ihre Theorie zutraf, hätte sich der Manager wohl sofort empört ans Telefon gehängt. Für sein Schweigen konnte es aber einen anderen Grund geben. »Vielleicht hat er Angst. Tom wird nach Meinung der Ärzte zwar nicht sterben und auch keine Schäden davontragen – ich habe ihm wohl noch rechtzeitig den Finger in den Hals gesteckt. Aber der Manager könnte Panik haben, dass man auch ihn loswerden will. Zum Beispiel, weil er etwas zugesagt hat, das er nicht halten konnte.«
»Kein unrealistisches Szenario. Denn wenn es um Toms Tennisspiel geht, reden wir von richtig hohen Beträgen. Ein hartes Verhör könnte Wunder bewirken.«
»Sollte man probieren«, stimmte Ellen zu. »Wir haben ihn bisher als Zeugen und nicht als Verdächtigen vernommen.«
»Diese Nacht sollten wir trotzdem noch abwarten.«
Die Zurückhaltung ging Ellen immer stärker auf die Nerven. »Ich frage mich, wie du bei meinem Chef damit so lange durchkommst. Was muss denn noch passieren? Wir haben schon jetzt viele Beweise, und sobald die ersten Leute in U-Haft sitzen, werden weitere Verdächtige dazukommen. Jeder wird seine Haut retten und die Schuld weiterschieben wollen.«
»Manche ja, andere werden schweigen. Und die großen …«
»Fang nicht wieder mit den großen Fischen an! Wir haben auch die Pflicht, Verbrechen abzuwehren. Weißt du, dass seit ein paar Stunden ein Radsportler vermisst wird?«
»Ja, hat mir Sören erzählt.«
»Hat er dir auch erzählt, dass der Mann vermutlich tot ist? In der Umgebung, in der sein Handy zuletzt geortet wurde, hat man einen Blutfleck gefunden. Zeugen haben ihn dort noch am Nachmittag auf der Landstraße radeln gesehen.«
»Ist mir bekannt, und ich bin genauso betroffen wie du.«
»Betroffen?« Ellen spürte, wie ihr Blut in Wallung geriet. »Ich bin stinkwütend. Vielleicht hätten wir es verhindert, wenn wir schon zugeschlagen hätten.«
»Und vielleicht auch nicht. Das werden wir nie erfahren. Aber du musst dich nicht mehr lange gedulden. Ich habe mit Sören vereinbart, dass wir das Ergebnis dieser Nacht noch abwarten, anschließend die Lage neu bewerten und dann eine Entscheidung treffen. Wenn uns hier wirklich Terroristen und Waffen ins Netz gehen, ist für mich der Punkt gekommen, an dem ich für einen Zugriff plädiere.«
»Wie schön, dass auch ich von dieser Planung erfahre.«
»Jetzt weißt du’s, so wie ich jetzt über Toms Manager im Bilde bin.« Max blieb gelassen, dann gerieten seine Finger – die gerade wieder das Tabakdöschen öffnen wollten – ins Stocken. »Es geht los!« Seine Stimme klang auf einmal heiser.
Auch Ellen konnte auf den Bildschirmen sehen, dass sich zwei Transporter näherten. »Klappst du jetzt gleich zusammen?« Selbst in dem matten Licht war zu erkennen, dass Max bleich geworden war.
»Psst«, machte er und stülpte sich die Kopfhörer über.
»Von mir aus«, murmelte Ellen und sank auf ihren Stuhl zurück. Sie verzichtete auf die Kopfhörer und beschränkte sich darauf, die weitere Entwicklung zu beobachten. Leise glitt die Tür des Kastenwagens auf, Max bemerkte es gar nicht. Sören stieg ein und stellte sich zwischen die beiden. Er deutete auf die Transporter.
»Vorn an der Straße steht noch einer, dort ziehen wir gerade Einsatzkräfte zusammen. Der Tipp scheint zu stimmen.«
»Na hoffentlich. Denn ich will, dass das alles endlich zu Ende geht.«
»Wie meinst du das?«
»Max hat mir gesagt, dass ihr beide entschieden habt, nach diesem Einsatz …«
»Entschieden ist gar nichts. Wir haben nur besprochen, dass wir anschließend eine Entscheidung treffen müssen. Es gilt immer noch, das Für und Wider abzuwägen.«
Ellen ließ dies so stehen. Auch ihre Erregung nahm zu. Die Transporter hatten auf der Zufahrt zur Lagerhalle gewendet und fuhren nun rückwärts an das Tor heran. Die Halle gehörte einer Spedition, wurde von ihr selbst aber nicht genutzt, sondern war monatsweise zu mieten. Aktuell hatte ein Geschäftsmann aus Aalborg das Nutzungsrecht. Angeblich lagerte er hier gebrauchte Motorräder zwischen, die Miete hatte er für ein halbes Jahr im Voraus gezahlt. Offenbar war dies für
das Speditionsunternehmen Grund genug gewesen, ihn sich nicht näher anzusehen. Hätte man das getan, wäre vielleicht aufgefallen, dass sowohl der Name seiner Firma als auch sein eigener frei erfunden waren.
Was sich im Inneren der Halle befand, wusste man noch nicht. Um die Operation nicht zu gefährden, hatte sich die Polizei im Vorfeld keinen Zugang verschafft. Das Zeitfenster war zu knapp gewesen, um eine Vorabuntersuchung zu ermöglichen. Ellen hoffte, dass es nicht zu einer Schießerei käme, denn auch wenn aus den Transportern nur sechs Leute ausstiegen, dürfte deren Kampfbereitschaft nicht zu unterschätzen sein. Eine Person machte sich am Schloss zu schaffen, dann wurde das Tor zur Seite gerollt, und die Gestalten verschwanden im Inneren. Die beiden Transporter folgten ihnen im Rückwärtsgang. Max’ Gesicht zeigte hektische Flecken.
»Nicht zu lange warten, nicht zu lange warten«, murmelte er auf Deutsch, aber Ellen verstand es trotzdem. Spielte diese Mahnung auf einen Vorfall in seiner Vergangenheit an?
Sie kam nicht dazu, sich entsprechende Szenarien vorzustellen, da sich die Lage auf einen Schlag änderte. Die Transporter waren in der Halle verschwunden, das Licht war nicht eingeschaltet worden. Von beiden Seiten näherten sich die Sondereinsatzkräfte, sie liefen geduckt und nutzten die Wand als Sichtschutz. Ellen registrierte ihre schwere Bewaffnung und die Schutzausrüstung. Dann verharrten die Polizisten, die Sekunden verrannen. Plötzlich rasten zwei gepanzerte Fahrzeuge heran und versperrten die Zufahrt. Ihre Ankunft war das Startsignal, übergangslos stürmte die Eingreiftruppe ins Innere der Halle.
Nun griff Ellen doch nach den Kopfhörern, hörte aber nur die Stimmen der Einsatzleitung und keine Umgebungsgeräusche. Auf den Bildschirmen wurde es heller, ein Einsatzfahrzeug
mit aufmontierten Scheinwerfern fuhr vor und tauchte den Platz in Licht. Dann ertönten Schreie. »Down on your knees, down on your knees!« Kurz herrschte Stille, danach erklangen Rufe in einer Sprache, die Ellen nicht verstand. Auf einmal hörte sie Schüsse, sie kamen aber nicht aus den Kopfhörern, sondern von der Straße. Von dort, wo der dritte Transporter stand. Das Geräusch eines Hubschraubers drang nach innen, Sekunden später folgte das Geheul von Martinshörnern. Auch Krankenwagen standen in Bereitschaft – ob jemand angeschossen worden war?
»In der Halle ist alles unter Kontrolle«, wurde gemeldet. »Wir haben acht Personen festgesetzt.«
Wenig später wurden die Verhafteten auch schon nach draußen geführt, während die Lage auf der Straße noch immer unklar war. Nach dem, was Ellen mit anhören konnte, hatten Fahrer und Beifahrer den dortigen Transporter zwar verlassen, aber im Laderaum befanden sich weitere Männer, die mit einer Sprengung drohten. Tatsächlich war kurz darauf das Geräusch einer Detonation zu hören, allerdings klang sie verhalten.
»Die Tür ist aufgesprengt, drinnen liegen zwei Personen mit Maschinengewehren«, informierte eine Frauenstimme. »Die beiden …«
Ihre Stimme wurde von einer Maschinengewehrsalve verschluckt, dann war gar nichts mehr zu hören. Ellen hielt den Atem an, spürte, wie sich Sörens Finger in ihre Schulter gruben, während Max seine Hände so hart ineinander verschränkt hatte, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die Stille dehnte sich aus. Bis zwei einzelne Schüsse fielen, dicht hintereinander – und effektiv.
»Alles unter Kontrolle«, verkündete nun auch die Frauenstimme. So emotionslos, als habe man gerade ein Segelboot vertäut und nicht zwei Terroristen ausgeschaltet.
Ellen fragte sich, was dies konkret bedeutete, aber eigentlich war es ihr egal, solange keine Kollegen verletzt worden waren. Sie wischte Sörens Hand von ihrer Schulter und atmete aus. Dass man es tatsächlich mit Terroristen zu tun hatte, bewies nicht nur deren Gegenwehr, sondern auch der Inhalt der Halle. Die Meldung eines Polizisten verdeutlichte, dass man eine Katastrophe gerade noch verhindert hatte. Neben weiteren Maschinengewehren, Munition und Handgranaten waren auch Sprengstoff und sogar eine Panzerfaust gefunden worden. Ein paar Kisten waren noch ungeöffnet, aber auf deren Inhalt kam es schon gar nicht mehr an.
Auch das Ziel der Terroristen stand eindeutig fest, denn in einer Fahrerkabine lagen Pläne von einem der olympischen Dörfer. Darauf waren die von Israelis bewohnten Zimmer markiert, genauso die Positionen der Security. Zu klären war nun, wer genau diesen Anschlag hatte durchführen wollen und wer ihn aus welchen Gründen finanziert hatte. Unabhängig von den Antworten auf diese Fragen waren Max und Sören endgültig an einem Punkt angekommen, an dem jede ihrer Entscheidungen weitreichende Folgen haben konnte. Ellen war froh, nicht in ihrer Haut zu stecken, auch wenn ihre persönliche Meinung zur gebotenen Vorgehensweise schon vor der nächtlichen Aktion festgestanden hatte.
Trotz der fortgeschrittenen Stunde hatte es auch Ivko nicht in seinem Bett gehalten. Nachdem er sich stundenlang hin- und hergewälzt hatte, war er schließlich aufgestanden und hatte die Pension verlassen. Er hatte einen Plan gefasst, den er so schnell wie möglich zu realisieren gedachte. Auf seinem nächtlichen Streifzug durch die Straßen Kopenhagens war er zufällig Tom Thompsons Manager über den Weg gelaufen und hatte sogar kurz darüber nachgedacht, ihn um eine Zigarette
anzuschnorren. Eigentlich rauchte er nicht mehr, war aber schon mehrere Male rückfällig geworden.
Seine Nervosität steigerte sich, als die Frau vor ihm die Straße verließ und auf ein Mehrparteienhaus zuging. Sie trug ein helles Sommerkleid und hatte vor wenigen Minuten ein Restaurant verlassen. Sofort hatte er sie als das ideale Opfer eingeschätzt. Mittleres Alter, zierlich – und offensichtlich allein. Sie war kurz stehen geblieben, hatte das Handy kontrolliert, es dann aber in die Handtasche gesteckt und war davongegangen. Sie wirkte angeheitert und bemerkte noch immer nicht, dass er ihr folgte. An der Haustür gab sie einen Code ein und betrat dann den Flur.
Rasch blickte Ivko sich um. Im Freien war niemand zu sehen, alle Fenster des Gebäudes waren dunkel. Das Treppenhaus wurde kurz darauf von einem flackernden Licht erhellt. Mit schnellen Schritten rannte er nach vorn und bekam gerade noch seine Hand zwischen Rahmen und Tür, bevor sie ins Schloss fiel. Im Inneren hörte er Schritte auf der Treppe. Er hielt sich außen auf den Stufen und bewegte sich lautlos nach oben. Kurz bevor er die dritte Etage erreichte, kam die Frau wieder in sein Sichtfeld. Sie kehrte ihm den Rücken zu und durchsuchte ihre Handtasche. Dann klimperte es, und sie zog einen Schlüssel heraus.
Ivko wartete auf den richtigen Moment, und als sie die Tür öffnete, war die Gelegenheit da. Er nahm zwei Stufen auf einmal und überließ sich seinen Instinkten. Gerade als sie die Diele ihrer Wohnung betrat, warf er sich von hinten auf sie, legte ihr gleichzeitig die Hand auf den Mund und drückte sie mit seinem Körper auf den Boden. Wie erstarrt lag sie da, leistete keine Gegenwehr. Ivko zog ein Springmesser aus seiner Tasche und legte es an ihre Kehle.
»Wenn du schreist, stech ich zu«, flüsterte er auf Englisch in ihr Ohr. »Verstanden?« Er spürte die Andeutung eines Nickens.
Ivko verlagerte sein Gewicht auf die Knie, dann stand er auf und zog sie mit sich. Mit dem Fuß drückte er die Wohnungstür zu, das Messer hielt er weiter an ihre Kehle. In diesem Moment musste er an Branko denken. Gänsehaut überfiel ihn. Wie es sich wohl angefühlt hatte, als das Messer durch die Haut gedrungen und … Er biss die Zähne zusammen und entfernte die Klinge ein wenig.
»Dir wird nichts passieren«, sagte er leise. »Ich brauch nur dein Handy.«
»Hier … in der Tasche«, krächzte sie. Er spürte, dass sie zitterte.
Sanfter, als er üblicherweise vorgegangen wäre, schob er sie den Flur entlang. Alle Türen standen offen, er wählte den Durchgang zum Schlafzimmer. Als er sie in Richtung Bett schob, versteifte sie sich. Natürlich. Wie hätte sie auch ahnen sollen, dass Sex das Allerletzte war, woran er dachte?
»Keine Vergewaltigung«, versprach er. »Wenn du mir dein Handy gibst, bin ich schnell wieder draußen.«
»In meiner … Tasche«, wiederholte sie.
»Ich weiß. Wo hast du deine Schals?«
»Meine …? Warum?«
»Weil ich dich fesseln muss. Ich brauche Vorsprung.«
»Bitte nicht!« Ihre Stimme war laut, viel zu laut! Er presste die Klinge wieder fester an ihren Hals.
»Leise!«, zischte er. »Oder willst du sterben?«
»Ich … ich … nimm das Handy. Ich rufe keine Polizei.«
»Wo sind deine Schals?«
»Da, im Schrank. Es … sind aber eher …«, sie schluchzte, »… Halstücher.«
»Das reicht mir.«
Als er ihre Fuß- und Handgelenke fixierte, vermied er es, ihr ins Gesicht zu sehen. Dann zog er das Kleid, das fast bis zur Taille hochgerutscht war, wieder zurecht. Die Erinnerung
an seinen Bruder ließ ihn nicht los. Er war nie ein besonders friedfertiger Mensch gewesen, aber nun kamen ihm Gedanken, wie sich diese Frau gerade fühlen mochte. Diese ungewohnten Überlegungen lösten kein echtes Mitleid aus, eher … Ekel vor sich selbst. Mit einem lockeren Knoten band er ihre Arme am Gestell fest. Wenn sie keine völlige Bewegungslegasthenikerin war, müsste sie sich in spätestens einer Stunde befreit haben. Er griff in ihre Handtasche und nahm das Handy heraus. Wie vermutet, war es gesperrt.
»Die PIN?«
»4, 3, 2, 1«, antwortete sie so leise, dass er es kaum verstand.
»Solltest dir eine bessere überlegen.« Er probierte die Zahlenkombination aus und löste die Sperre. Beruhigt bemerkte er, dass der Akkustand achtzig Prozent anzeigte.
Noch einmal ging er zum Kleiderschrank, nahm ein weiteres Tuch und eine Socke heraus, um die Frau zu knebeln. Dabei sah er ihr dann doch in die Augen und hätte fast abgebrochen. Ihre Angst war wie ein Spiegelbild seiner eigenen Gefühle. Nur hatte sie vor
ihm
Angst und nicht – wie er selbst – vor … Schwerkriminellen, Auftragsmördern oder Terroristen. Er wandte sich ab.
»Tut mir leid«, presste er hervor, dann sah er zu, dass er die Wohnung schnellstmöglich verließ.
Im Treppenhaus begegnete er niemandem, und auch auf der Straße war es menschenleer. In Gedanken versunken lief er umher, fest umklammerte seine Hand das geraubte Telefon. Ohne dieses Ziel bewusst angesteuert zu haben, fand er sich auf einmal vor dem Pavillon wieder, an dem er zuerst Jessica Lee und dann Hannes getroffen hatte. An dem Tag war alles noch beherrschbar gewesen, auch wenn ihn der Druck seiner Auftraggeber belastet hatte. Jetzt stand er zwischen den Fronten, und das war ein noch beklemmenderes Gefühl.
Er sank auf eine Bank. Aus seiner Sicht war klar, welcher Seite er mehr zuneigte. Die Polizei musste dieses Gefecht gewinnen! Rache war der eine Antrieb, denn man musste davon ausgehen, dass es tatsächlich nicht Milan gewesen war, der Branko die Kehle durchgeschnitten hatte. Zur Rache gesellte sich Angst. Alles, was Ivko wusste, hatte er Max mitgeteilt und damit viel zu viel, um sich in Sicherheit zu wähnen. Der Tod seines Bruders zeigte ihm, welche Qualität mögliche Vergeltungsmaßnahmen besaßen. Denn dass Branko irgendein krummes Ding gedreht haben musste, war keine absurde Spekulation.
Einerseits erleichterte es Ivko, nun die Polizei an seiner Seite zu wissen. Andererseits schenkte er Max’ Beteuerungen, dass man für seine Sicherheit sorgen werde, wenig Glauben. Er wusste zwar nicht, wer genau an der Spitze der Wettmafia stand, ging aber davon aus, dass genug Einfluss vorhanden war, ihn selbst im verborgensten Winkel aufzuspüren. Daneben gab es aber noch einen Grund, weshalb das Zeugenschutzprogramm auf tönernen Füßen stand. Die Polizisten gingen nicht nur davon aus, dass Laslo den Tod Brankos beauftragt hatte, auch die Ermordung von Milan Jurić wurde der Wettmafia zugerechnet. Das stimmte im Grunde sogar.
Als Laslo ihm Milan als Brankos Mörder präsentiert hatte, waren keine Überredungskünste nötig gewesen, um Ivko als Todesengel zu engagieren. Er hätte den Mord sogar mit eigenen Händen ausgeführt, aber Laslos Idee, den Kanuten vor aller Augen mit einem Nervengift aus der Welt zu schaffen, war noch verlockender gewesen. Zumal dadurch das Risiko geringer war, als Killer enttarnt zu werden. Sobald Laslo aber in Haft saß, würde es wahrscheinlich nur eine Frage von Stunden sein, bis dieser den wahren Täter präsentierte. Schon allein, um Schuld von sich selbst wegzuschieben.
Ivko steckte in einem Dilemma. Musste er einerseits auf einen Erfolg der Ermittler hoffen, drohten ihm in diesem Fall
aber anderweitig ernsthafte Konsequenzen. Immer schwerer fiel es ihm, sich innerhalb der Wettmafia weiter so zu verhalten, als habe sich an seiner Situation nichts geändert. Er versuchte, die Kontakte zu Laslo, zu seinen Untergebenen und zu Sportlern auf ein Minimum zu begrenzen, auch wenn dies nicht Max’ Anweisungen entsprach, der an der Sicherstellung von belastendem Material interessiert war. Wann der Zugriff erfolgen sollte, entzog sich Ivkos Kenntnis, er ging aber davon aus, dass es nicht mehr lange dauern würde. Aus diesem Grund beschloss er, nicht mehr zweigleisig zu fahren, sondern sich eine dritte Option zu eröffnen.
Erneut blickte er auf das Handy, das er der Frau in ihrer Wohnung abgenommen hatte. Dann zog er sein eigenes Telefon hervor, von dem er wusste, dass jedes Gespräch von der Polizei mitgehört wurde. Er blätterte durch sein Telefonbuch und übertrug eine Nummer auf das gestohlene Handy. Ein kurzes Gespräch folgte, dann wiederholte er die Prozedur drei weitere Male. Anschließend öffnete er die Gehäuse beider Apparate und entfernte die Akkus. Sein Geld würde sich in wenigen Stunden auf einem Offshore-Konto befinden. Wie gut, dass er einen Plan B für Krisensituationen vorbereitet hatte!
Eine Unterkunft hatte er ebenfalls organisiert, zunächst in Köln, wie es dann weiterging, konnte er in Ruhe überlegen. Ein Cousin von ihm lebte in Mexiko, das war eine Möglichkeit. Oberste Priorität hatte, dass er Dänemark so schnell wie möglich verließ, bevor hier endgültig das Chaos ausbrach. Zuerst hatte er einen Autodiebstahl in Erwägung gezogen, sich dann aber dafür entschieden, am nächsten Morgen das Gewimmel am Bahnhof zu nutzen, um Kopenhagen unerkannt per Fernzug zu verlassen.
Als er in der Ferne Sirenengeheul hörte, schreckte er zusammen. Es kam nicht näher, wurde aber intensiver. Es musste sich um mehrere Einsatzfahrzeuge handeln – war schon wieder etwas
passiert? Ivko stand von der Bank auf und verließ den Pavillon. Er überquerte den Rasen, bis er am Ufer des Sees angekommen war. Die Luft schmeckte feucht und mild. Kraftvoll warf er die Mobiltelefone und Akkus von sich. Er hörte sie auf das Wasser platschen und fühlte sich auf einen Schlag wie befreit. Er war ein Überlebenskünstler, dieses Talent hatte ihm sein Vater vererbt. Was sollte schiefgehen?