Mein Herz stand still.
Mein Kopf war wie leer gefegt und meine Lunge versagte ihren Dienst. Als hätte ich vergessen, wie Atmen funktionierte, blieb die Luft einfach schal in meinem Rachen hängen und hinterließ einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge. Das konnte nicht sein!
Ich grub die Fingernägel in das Holz des Tisches und hinderte meine Hände so daran zu zittern. Das konnte nicht … Was tat er hier?! Er war nicht … Er konnte nicht … Ich verstand gar nichts!
Das alles hier war falsch. Er gehörte nicht an diesen Ort. Nicht in diesen Raum zusammen mit all diesen … all diesen normalen Leuten! Er gehörte in seinen kalten Palast. Auf sein arrogantes Podest. In sein Gespinst aus unleserlichen Halbwahrheiten. Er gehörte weit weg von mir. An irgendeinen Ort, an dem er mich nicht mehr verletzen konnte! An dem ich ihn nicht ansehen, nicht an ihn denken, nicht dieselbe Luft wie er atmen musste.
Sein Blick flackerte zu mir, suchend, nicht zielsicher, und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, während mein Herz in der Brust stolperte.
Seine Miene sah nicht freundlich aus, aber auch nicht kalt. Nur … unergründlich. Als würde Lord Kaltherz mich heute zum ersten Mal sehen. Als wäre er nicht überrascht, aber dennoch unzufrieden damit, mich hier anzutreffen.
Sein Blick verweilte einige Augenblicke lang auf meinem Gesicht, huschte zu dem Verband um meinen Kopf und wanderte dann zu meiner linken Seite hinab. So als wüsste Caeden, dass sich weitere Mullbinden unter meinem Mantel verbargen. Schließlich sah er mir wieder in die Augen. Unsere Blicke trafen sich, hielten einander fest … und heiße Lava der Wut kochte in mir hoch.
Meine Augen fingen an zu brennen, meine Haut begann zu kribbeln. Die Luft um mich herum wurde kälter, mein Herzschlag schneller, mein Kopf stand kurz davor zu platzen.
Caeden hatte mich belogen. Er hatte mich benutzt. Er hatte mich verraten. Und jetzt stand er hier – der Kerl, der mich dafür verurteilt hatte, eine Diebin zu sein – und wandte den Blick ab, um den Wissensjägern zuzunicken, so als wären sie seine besten Freunde?
Nein. Das Wort drang meinen Hals hinauf, zu groß und zu sperrig, um meinen Mund zu verlassen. Doch es setzte sich in meinem Herzen, in meinem Kopf, an meinem Gaumen fest.
Nein! Nein, verdammt, nein! Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.
Er hatte nicht das Recht, dort so dreist entspannt zu stehen, während er die letzten Wochen über so getan hatte, als wäre ich es, die sich falsch verhielt. Als wäre ich der Abschaum von Mentano. Als wäre ich das Problem. Das war nicht richtig! Das war nicht gerecht! Das war … Das war …
»Schön, dass du uns auch beehrst, Caeden«, sagte Nuthatch gespielt freundlich und lehnte sich knarzend auf dem Stuhl zurück.
Caeden, der Syla mit einem knappen Lächeln bedacht hatte, hob eine Augenbraue und wandte sich Nuthatch zu. »Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass es auch schön wäre, dich zu sehen, Nutty, aber wir alle hier wissen, dass das eine Lüge wäre«, erwiderte er gelassen.
Jyn seufzte und stieß den Ellenbogen in seine Seite. »Caeden, sei nett«, meinte sie streng, dann lächelte sie mir zu, berührte mich sanft an der Schulter und ging um die Tische herum.
»Ich fürchte, ich weiß nicht, wie. Dieser Ort inspiriert mich einfach nicht dazu, die beste Version meiner selbst zu sein.«
Jyn verdrehte die Augen und zog den Stuhl gegenüber von Nuthatch nach hinten. »Entschuldige, Nuthatch. Er hat schlechte Laune. Wir hatten einige Rote Magier zu Besuch, die wissen wollten, woher wir Fawn kennen, wieso wir sie bei uns haben wohnen lassen und wieso uns allen nicht aufgefallen ist, dass sie mit den Wissensjägern verkehrt. Es war recht ungemütlich und wir kamen nicht weg.«
Nuthatch verengte die Augen. »Schöpfen sie Verdacht? Wissen sie, dass ihr Fawn angeheuert habt?«
Caedens Kiefer knackte hörbar. »Natürlich wissen sie es. Fawn war ja schließlich so freundlich, es lauthals vor ihnen rauszuposaunen!«
Der Vorwurf, der in seiner Stimme mitschwang, feuerte meine Wut nur weiter an und ließ meine Eingeweide brennen. Wie konnte er es wagen, mir die Schuld zu geben?
»Das ist nicht gut«, bemerkte Nuthatch angespannt und warf mir einen düsteren Blick zu. »Wenn ihr auffliegt …«
»Wir werden nicht auffliegen, denn wir sind nicht dumm«, sagte Caeden kalt und folgte seiner Schwester durch den Raum, um sich ebenfalls auf einen Stuhl sinken zu lassen. Dem mir direkt gegenüber. »Sie haben unsere Mutter befragt. Sie weiß nichts von euch, also konnte sie auch nicht lügen. Ihre nachweisbare Ehrlichkeit wird uns den Hals retten. Jyn hat überzeugend schrecklich geweint und sinnlose Wahrheiten erzählt, ich habe unleserliche Halbwahrheiten von mir gegeben – so wie alle verdammten Roten Magier es bereits von mir kennen … Sie glauben jetzt, dass wir eine einfache Diebin angeheuert haben, in der Hoffnung herauszufinden, wer in das Wachhaus einbricht. Dieses ganze Debakel hilft jedoch nicht dabei, den König davon zu überzeugen, dass wir noch immer vertrauenswürdig sind und es eine brillante Idee ist, uns die Wächter weiter beaufsichtigen zu lassen.«
»Nein«, erklang eine sanfte Stimme von meiner Linken. »Aber ich befürchte, das Vertrauen kann auch nicht wiederhergestellt werden.«
Alle wandten sich gleichzeitig zu der Roten Magierin um, die gesprochen hatte. Ihr Gesicht war freundlich, aber ernst. Sie saß kerzengerade in ihrem Stuhl, die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet. Die Blicke der anderen waren skeptisch, manche sogar ein wenig feindselig und mir wurde klar, dass die Rote Magierin nicht nur für mich ein neues Gesicht darstellte.
Doch sie ignorierte die misstrauischen Mienen und fuhr unbeirrt fort: »Seit euer Vater unbefugt im roten Ring herumgeschnüffelt hat, zweifelt der König an der Loyalität der Falcrons. Ich gehe davon aus, dass er innerhalb der nächsten Monate einen Machtwechsel erzwingen wird.«
Syla stöhnte und legte den Kopf in den Nacken, Wren brummte etwas Unverständliches und Greg legte sich eine Hand über die Augen. Doch Caeden zuckte nicht einmal mit der Wimper. Als wäre das keine Neuigkeit für ihn. Als hätte sie ihm lediglich mitgeteilt, dass seine Haare schwarz waren.
Jyn jedoch öffnete verblüfft den Mund. »Woher wissen sie, dass unser Vater im roten Ring war?«, wollte sie wissen. »Das ist nicht bekannt … Das ist …«
»Lord Hixton prahlt zu gerne, Jyn«, erklärte die Magierin bedauernd. »Er war es, der euren Vater in den Ring ließ … Er war es, der es nach seinem Tod überall herumerzählte. Also, Caeden: Ich bin mir sicher, dass du schon darüber nachgedacht hast, was du zu tun gedenkst, sobald der König weitere Gründe findet, euch zu misstrauen und in Verruf zu bringen. Dir ist bewusst, dass er euch dazu zwingen wird, euren Posten aufzugeben? Was sind deine Pläne? Dann kann ich dir bei ihrer Umsetzung helfen.«
Caeden antwortete nicht. Er starrte sie nur berechnend an, bevor er sich ruckartig an Nuthatch wandte. »Wer zum verdammten Henker ist sie?«
»Sie ist neu und auf unserer Seite«, erklärte Nuthatch schlicht.
Caeden verzog verächtlich den Mund. »Wie naiv bist du? Du kannst nicht einfach Rote Magierinnen rekrutieren, ohne das vorher mit uns zu besprechen!«
»Wir können ihr vertrauen«, sagte Nuthatch mit steinernem Gesicht.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Caeden scharf.
»Weil ich mit ihr verheiratet bin.«
Überrascht riss ich die Augen auf und für einen kurzen Moment vergaß ich sogar den roten Ball der Wut in meinem Bauch.
Was? Nuthatch, der Dunkeldieb und Wissensjäger, war mit … mit einer Roten Magierin verheiratet? Das schien unmöglich!
»Aber … sie ist so hübsch«, bemerkte Jyn taktvoll irritiert.
Doch damit sprach sie anscheinend nur aus, was alle anderen dachten, denn reihum senkten die Anwesenden beschämt die Blicke.
»Danke für deine erleuchtende Sicht der Dinge, Jyn«, knurrte Nuthatch, der im Vergleich zu seiner Ehefrau tatsächlich noch hässlicher schien. »Aber ja, sie hat mich freiwillig geheiratet.«
»Ich bin Mae«, sagte die zierliche Frau vergnügt und legte beschwichtigend eine Hand auf Nuthatchs Arm. »Und ich bedanke mich für das freundliche Hallo.«
Wren grinste breit, Greg hob die Achseln … und Caeden presste die Hände auf den Tisch und stand auf.
»Mir ist egal, ob sie deine Frau, deine Mutter oder die Königin der Minen ist. Was tut sie hier?«, wollte er wütend wissen.
»Wir brauchen sie«, erwiderte Nuthatch grimmig. »Fawn hat keine Ahnung von ihren Fähigkeiten. Sie ist heillos überfordert. Sie weiß nicht, wie sie sie kontrollieren kann, wozu sie in der Lage ist, wo ihre Grenzen liegen … Und so weit ich weiß, beherrschst du keine rote Magie, Caeden. Du kannst ihr dabei ebenso wenig helfen wie ich. Mae jedoch schon.«
Caedens Kiefer war mittlerweile so hart, dass er drohte zu zerspringen. »Du willst Fawn ausbilden?«, fragte er scharf und die Härchen in meinem Nacken richteten sich auf, als er meinen Namen sagte. »Bist du des Wahnsinns? Sie stiftet jetzt schon überall Chaos, wo sie geht und steht! Wie wird das wohl laufen, wenn sie auch noch weiß, was sie da tut?«
Ich biss mir so fest auf die Unterlippe, dass ich auf einmal Blut schmeckte. Ich war es, die Chaos stiftete? Die Wut, die zeitweilig abgeflaut war, kochte wieder hoch.
»Könnten wir versuchen, nicht abzuschweifen?«, meldete sich die Heilerin Syla zu Wort. »Fawn ist jetzt gerade nicht wichtig. Wichtig ist, dass Caeden versucht, solange wie möglich die Zügel der Wächter in der Hand zu behalten. Denn ohne ihn und seine Position verlieren wir einen gewaltigen Vorteil. Der König kann die Falcrons nicht einfach plötzlich absetzen. Er muss es langsam tun, damit die Sicherheit des Landes nicht gefährdet und die Aufrechterhaltung der Kuppel gewährleistet wird. Er muss legitime Gründe vorbringen, damit die Bewohner der äußeren Ringe keinen Verdacht schöpfen und nicht bemerken, dass sonderbare Dinge in den Reihen der Weißen vor sich gehen.«
»Die äußeren Ringe werden Verdacht schöpfen, sobald morgen das Wochenblatt erscheint«, sagte Mae ruhig. »Die Leggs können nicht wie geplant unter Verschluss halten, dass sich eine Spionin in ihre Reihen geschlichen hat. Sie werden Fawn erwähnen müssen, denn sie wollen sie unbedingt finden und …«, sie räusperte sich und warf mir einen flüchtigen Blick zu, »… nun, befragen.«
»Ja, ich weiß«, knurrte Caeden. »Ich musste deshalb eine Stellungnahme für das Wochenblatt abgeben.«
»Was für eine Stellungnahme?«, wollte Nuthatch sofort wissen.
Mein Blick flog zwischen den beiden hin und her, während Wren sagte: »Moment, wenn die äußeren Ringe misstrauisch werden, sollten wir das nicht nutzen, um neue Mitglieder zu rekrutieren?«
»Schwachkopf, natürlich nicht!«, sagte der alte Greg und kratzte sich am Kinn. »Die Roten werden Fawn als Ausrede dafür nutzen, verdächtige Leute aus dem grauen Ring zu befragen! Wenn wir uns jetzt dem Falschen offenbaren, ist die kleine Lügendiebin hier unser geringstes Problem.«
Problem. Ich war das Problem? Wovon sprachen sie? Ich hatte mir das hier nicht ausgesucht. Ich wollte nicht in den Minen sein und ebenso wenig wollte ich, dass es da draußen eine Menge Leute gab, die mich suchten und vermutlich umbringen wollten!
»Können wir uns auf die wichtigen Punkte zuerst konzentrieren?«, fragte Syla mit Nachdruck.
Die wichtigen Punkte? Die mein Schicksal nicht mit einschlossen? Was ich hier tat, was mit mir passieren würde, was die Wissensjäger überhaupt wollten … das war nicht wichtig? Meine Lippen zitterten und ich presste sie aufeinander.
Nein, natürlich nicht. Ich brauchte ja keine Antworten. Ich sollte dankbar dafür sein, dass sie mich beinahe umgebracht, dann ausgeknockt und schließlich an diesen trostlosen, kalten Ort geschleppt hatten!
Warum sollten sie mir erklären, weshalb sie mir eine Lehrerin gesucht hatten? Wieso erklären, warum Caeden mit den anderen sprach, als wäre er ihr verdammter Anführer?
Ich war ja nur die kleine Lügendiebin, die ihnen so viele Scherereien gemacht hatte! Ich war unwichtig, bis sie mich brauchten!
»Nein!«, rief ich laut.
Es reichte. Ich hatte genug gehört!
»Nein?« Wren hob die Augenbrauen und verwirrt wandten sich auch die anderen zu mir um. »Was, nein?«
»Nein, wir können nicht zuerst über eure wichtigen Dinge reden. Ich meine … was soll das hier?«, platzte ich heraus und sprang auf. Mein Stuhl kippte nach hinten und krachte lautstark zu Boden. »Ihr redet über mich, als ob ich nicht da wäre! Als ob ich keine Fragen, keine Meinung, keinen Kopf hätte! Würdet ihr die verdammte Güte besitzen, mir zu erklären, was hier überhaupt vor sich geht, bevor ich durchdrehe!« Schwer atmend ballte ich die Fäuste, darum bemüht, Caeden nicht anzusehen. Sein Gesicht würde das Fass zum Überlaufen bringen. »Was genau tut ihr hier überhaupt? Was wollt ihr von mir? Warum habt ihr mich gerettet?« Die Fragen sprudelten unaufhaltsam über meine Lippen und mit jedem Wort, das den Raum erfüllte, wurde ich wütender. »Ich möchte Antworten haben. Sofort!«
Eine abrupte Stille senkte sich über die Tische und betreten sahen Syla, Wren und Greg zwischen Caeden und Nuthatch hin und her. Als hätten die beiden ihnen verboten zu sprechen.
»Niemand von euch hat ihr erklärt, warum sie überhaupt hier ist?«, fragte Jyn schließlich ungläubig und sah vorwurfsvoll zu Nuthatch.
»Ich wäre noch dazu gekommen«, antwortete er gereizt.
»Wann?«, fuhr ich ihn an und meine Brust hob und senkte sich schwer. »Nachdem ihr mich zu einer Soldatin ausgebildet habt, was offenbar euer Plan ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Niemand möchte dich zu einer Soldatin machen.«
Caeden schnaubte und meine Hand fuhr abrupt zu dem Dolch unter meinem Mantel. Noch ein Ton aus seinem Mund und ich würde ein sehr schlechter Mensch werden. Ich würde das erste Mädchen sein, das an seinem Hals hing, um ihn aufzuschlitzen, nicht um ihn zu küssen.
»Was tut er überhaupt hier?«, rief ich und deutete mit dem Arm zu dem Grund für meine brennenden Augen. »Ich meine … ihr kennt euch?« Zornig, aber auch verunsichert blickte ich zu Nuthatch. »Wie kann das sein?«
Ich musste Nuthatch zugutehalten, dass er meinen bösen Blick der Finsternis stur erwiderte. Denn wenn ich nur halb so wütend aussah wie meine Schwester Cora, als sie herausgefunden hatte, dass ich ihr Lieblingskleid zu einer Hängematte umfunktioniert hatte, war er ein sehr tapferer Mann.
»Es ist egal, wie wir uns kennengelernt haben«, sagte Nuthatch leise. »Denn jetzt kennen wir uns und Jyn und …« Er holte tief Luft und verzog grimmig das Gesicht. »Jyn und Caeden sind seit Monaten wertvolle Mitglieder der Wissensjäger.«
»Seit Monaten wertvolle Mitglieder der … der …« Ich stockte, schluckte und sah zu Jyn, die entschuldigend zu mir aufsah und kurz zu ihrem Bruder hinüberblickte. Doch ich brachte es nicht über mich, Caeden anzuvisieren. Seine marmorne Miene hätte mir den Rest gegeben. Stattdessen sah ich wieder zu Nuthatch, während ein dumpfes bitteres Gefühl von meiner Brust Besitz ergriff.
»Aber … du wusstest, dass ich bei den Falcrons Lügen stehle. Ich habe dir die Lüge von Lady Falcron verkauft und du …« Kopfschüttelnd streckte ich die Schultern durch, während mir langsam dämmerte, was mir hätte klar sein müssen, sobald Caeden zur Tür hereinspaziert war. »Du warst es«, flüsterte ich und starrte Nuthatch mit geöffnetem Mund an. »Du hast mich verraten. Deinetwegen wusste Caeden, dass ich einbrechen würde!« Meine Stimme zitterte nun und ich versuchte, mich zu beruhigen. Doch es schien unmöglich! Wie hatte ich so blind sein können? Natürlich war Nuthatch es gewesen, der Caeden meinen Namen genannt und ihn vor mir gewarnt hatte. Eine andere Erklärung gab es nicht. Er hatte die Lüge an Crow weitergegeben und wahrscheinlich selbst vorgeschlagen, dass er mich noch am nächsten Abend erneut zum Falcron-Anwesen schickte. »Ihr habt die ganze Zeit unter einer Decke gesteckt?«, wisperte ich tonlos und mittlerweile ballte ich meine Hände so fest zu Fäusten, dass ich mir mit den eigenen Nägeln ins Fleisch schnitt. Ich fühlte mich so unglaublich dumm. »Ihr habt das alles geplant? Dass Caeden mich erwischt? Dass ich von seiner Familie als Spionin angeheuert wurde? Hast du etwa auch an meinen Bruder weitergegeben, dass wir in den roten Ring eingebrochen sind, damit er mich verrät? Damit er die Roten Magier auf mich hetzt, ihr mich retten und somit dazu zwingen könnt, Teil von euch zu werden? Du hast gemeint, du willst mich gar nicht hierhaben, aber das stimmt nicht, oder?« Mit jedem meiner Worte wurde meine Stimme lauter. »Du bist der Verräter! Du bist derjenige, den Crow so verzweifelt sucht!«
Heiße Säure stieg meinen Hals hinauf und verätzte meine Zunge – und dennoch schaffte ich es, meine Sinne zu leeren. Den beißenden Geschmack der etlichen Lügen zu verdrängen. Den Geruch der drückenden feuchten Wände zu vergessen. Das taube Gefühl des Verrats in meiner Brust zu ignorieren. Denn ich musste wissen, ob Nuthatch mich anlog. Brauchte die Wahrheit mehr als meinen nächsten Atemzug.
»Nein, Fawn. Das verstehst du falsch«, sagte Nuthatch ruhig und die weiße Wahrheit auf seinen Lippen ließ mich wissen, dass er zumindest glaubte, was er da sagte.
»Also hast du Caeden nicht gesagt, dass ich in jener Nacht wieder bei ihnen einbrechen würde?«, fuhr ich ihn zornig an.
Nuthatch seufzte schwer und hob beide Hände. »Doch. Doch, das habe ich. Aber ich bin nicht der Verräter, nach dem Crow sucht. Und ich wollte ganz bestimmt nicht, dass die Falcrons dich als ihre persönliche Spionin anheuern und dich dein eigener Bruder verrät. Ich habe kein Wort mit ihm gewechselt und ich habe keine Ahnung, woher er von eurem Einbruch wusste.«
»Du hast die Dunkeldiebe hintergangen, Nuthatch!«, rief ich wütend und umklammerte die Tischkante, um mich davon abzuhalten, handgreiflich zu werden. Zu viele Leute, die stärker waren als ich, befanden sich in diesem Raum. »Du hast Crows Vertrauen ausgenutzt und mich ins offene Messer laufen lassen!«
»Nein!«, sagte er kalt und sah mich grimmig an. »Du hast dich ins offene Messer gestürzt, Fawn! Du hast das Buch gestohlen.«
»Na und?«, wollte ich hitzig wissen. »Was hat dich das interessiert?« Ich hielt meine Hand mit reiner Willenskraft davon ab, zu besagtem Buch, das sich zurzeit in meiner Tasche befand, zu fahren.
»Es gehört uns. Wir haben es unter großer Anstrengung und Gefahr beschafft – und ich musste Caeden die Möglichkeit geben, es von dir zurückzuverlangen. Das war alles, was ich bezwecken wollte«, sagte er angriffslustig, sein Gesicht nur noch eine erzürnte Fratze. »Also habe ich mit ihm abgemacht, dass er dich erwischt, dich dazu erpresst, ihm das Buch zurückzugeben – und dich dann laufen lässt. Du hättest versagt. Du wärst nicht bei den Dunkeldieben aufgenommen worden. Aber dir hätte keine Gefahr gedroht, da niemand außer Caeden dein Gesicht gekannt hätte. Du wärst in Sicherheit gewesen. Wir hätten das Buch zurückbekommen, Crow hätte seinen Willen bekommen, ich hätte mich nicht mit dir herumschlagen müssen. Alle wären glücklich gewesen. Doch Lady Falcron musste ja früher von dem Bankett zurückkommen. Sie musste euch beide ja finden und dir dieses absurde Angebot machen! Und Caeden hat versagt, dich davon zu überzeugen, dass es Selbstmord wäre mitzumachen.« Er verengte die Augen und ließ den Blick zum gegenüberliegenden Tisch wandern. »Er hat sich offensichtlich zu sehr darauf gefreut, Prinz und Bettlerin zu spielen.«
»Ich habe ihr mehr als deutlich gemacht, dass sie keine Ahnung hat, auf was sie sich da einlässt«, drang ein Knurren von der anderen Seite des Raumes und jetzt konnte ich nicht mehr anders – ich sah zu Caeden.
Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Zorn und Verachtung vielleicht. Die Gesichtszüge, die ich so gut von ihm gekannt hatte, bevor … bevor ich geglaubt hatte, dass wir vielleicht Freunde waren. Bevor ich gedacht hatte, dass er … dass wir …
Ich blinzelte und schluckte. Es war egal, was ich wann geglaubt hatte. Was jetzt interessierte, war, dass es keine Wut war, die seine scharfen Gesichtszüge zierte. Es war Frustration.
Als würde ich an seinen Nerven ziehen und sie zu einem hübschen Zopf flechten. Als wäre ich der Ursprung allen Ärgers, der sein Leben bestimmte.
Sein Blick lag eisern auf meinem Gesicht und die nächsten Worte sagte Caeden so leise und eindringlich, dass es schien, als hätte er vergessen, dass noch weitere Leute im Raum waren. Denn sie waren nur für mich bestimmt.
»Ich habe dir gesagt, dass du enttarnt und getötet werden wirst!« Seine grauen Augen waren mittlerweile fast schwarz. »Ich habe dich gehen lassen. Ich habe dir die Möglichkeit gegeben, unversehrt das Haus zu verlassen, so wie ich es Nuthatch verdammt noch mal versprochen hatte! Es war deine Entscheidung zurückzukehren. Deine Entscheidung, für meine Mutter zu spionieren. Das hier.« Er deutete wirsch mit der Hand im Raum umher. »Das hier ist nicht meine Schuld. Das liegt nicht in meiner Verantwortung.«
Ich presste die Lippen zusammen und erwiderte stur seinen Blick. Ich war zu stolz, um zuerst wegzusehen. Zu wütend und verletzt, um ihm auch nur einen Fingerbreit entgegenzukommen. Denn er hatte unrecht! Er hätte die Wahl gehabt. Er hätte mich retten können. Er besaß genug Macht und Einfluss, um ein paar Rote Magier davon zu überzeugen, mich gehen zu lassen.
Ich wollte ihn anschreien – doch keines der Worte, die ich loswerden wollte, war für die Ohren dieser fremden Leute bestimmt. Also schwieg ich. Biss mir auf die Zunge und starrte in das Gesicht, das ich gelernt hatte zu mögen.
Ich Dummkopf.
»Okay«, durchschnitt Nuthatch die angespannte Stille. »Wir alle haben Fehler gemacht. Daran sollten wir uns nicht aufhängen.«
Oh, dafür war es zu spät. Ich hing bereits und nur ein paar lächerlich dünne Fäden hielten mich davon ab zu fallen.
»Richtig«, unterstützte Syla ihn und hob die Hände. »Wir dürfen untereinander nicht so streiten. Wir haben bereits zu viele Feinde, als dass wir uns welche in den eigenen Reihen leisten könnten.«
Nun, dann war dieses Unterfangen wohl zum Scheitern verurteilt. Denn Caeden war wieder die charmante marmorne Wand von früher … und ich war die Spitzhacke, die ihn zu Fall bringen wollte.
»Also, Fawn.« Die Heilerin wandte sich an mich und ich blinzelte. Widerstrebend riss ich den Kopf herum, um sie anzusehen. »Du hast weitere Fragen erwähnt?« Sie hob die Augenbrauen. »Welche sind das? Setz dich doch und stelle sie. Dann können wir alle Unklarheiten aus dem Weg schaffen und weitermachen.«
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich noch immer stand. Doch jetzt bückte ich mich mühsam nach dem Stuhl, stellte ihn wieder hin und ließ mich darauf fallen. Ich musste mich beruhigen. Wenn ich hier alles kurz und klein schlug, würden sie mich auch nicht für vertrauenswürdiger halten. »Was ist euer Plan?«, fragte ich scharf. »Welches Ziel verfolgt ihr überhaupt?«
Das Wochenblatt hatte nur spärliche Informationen über die Wissensjäger preisgegeben. Doch eine war mir besonders ausgeprägt im Gedächtnis geblieben: Sie waren Freunde des Bündnisses. Sie wollten die Rote Wand zerstören.
Ich für meinen Teil hielt es für keine brillante Idee, die Wand einzureißen und dem Bündnis freie Hand darin zu lassen, die Bewohner Mentanos zu meucheln. Aber hey, das war nur meine bescheidene persönliche Meinung!
»Liegt das nicht auf der Hand?«, brummte Wren und hob die Augenbrauen. »Wir sind Wissensjäger. Wir sammeln Wissen.«
Ich schnaubte. »Ja, vielen Dank. Das erklärt natürlich alles. Schuhmacher machen Schuhe, Holzfäller fällen Holz, Feldwebel webeln Felder. Kinderleicht. Dann weiß ich ja alles, was ich brauche.«
»Ich kann Sarkasmus nicht ausstehen, Kleine!«, meinte Greg verärgert.
»Und ich mag keine Erbsen«, gab ich zurück. »Schön, dass wir uns jetzt ein wenig besser kennen!«
Nuthatch gab ein tiefes Seufzen von sich, das vermuten ließ, dass er mich für sehr anstrengend hielt. Dabei hatte er noch gar keine Ahnung, was es bedeutete, wenn ich anstrengend wurde. Ich hatte nicht einmal damit angefangen, mir wirklich Mühe zu geben!
»Fawn«, sagte er mit durchdringender tiefer Stimme. »Hast du einmal darüber nachgedacht, warum das Königshaus Bücher verbietet?«
Ich blinzelte verwirrt und wandte mich dem Dunkeldieb zu. »Ja. Natürlich. Weil noch eine Menge Bücher im Umlauf sind, die das gefährliche Gedankengut des Bündnisses verbreiten könnten. Oder so ähnlich.«
Wren neben mir schnaubte und Syla lachte laut auf.
»Ja, das würde das Königshaus dich gern glauben machen«, sagte Nuthatch verächtlich. »Aber es stimmt nicht. In all den Friedensjahren, in denen wir bereits auf der Suche nach Wissen sind, haben wir noch kein einziges Buch gefunden, in dem die Pläne des Bündnisses überhaupt erwähnt werden.«
»Aber …« Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Warum sollte das Königshaus die Bücher denn sonst verbieten?«
»Weil es Bücher gibt, die jedem Bürger von Mentano Wissen schenken, das sie nutzen könnten, um das bestehende System zu stürzen. Wissen, das sie nutzen können, um die Lügen Mentanos aufzudecken und die Autorität des Königshauses zu untergraben. Wenn sie sich selbst einfach eine Meinung mithilfe von Büchern bilden können, wie sollen die Swefts dann das Gedankengut ihres Volks kontrollieren?«
Ich blinzelte und versuchte zu verstehen, was Nuthatch gerade gesagt hatte.
»Das ist alles?«, fragte ich perplex. »Es geht wirklich nur um … Wissen? Bücher, die euch erklären, worüber das Königshaus lügt?«
»Du unterschätzt Wissen, Fawn«, meinte Jyn ernst. »Wenn ein Volk nur eine einzige indoktrinierte Wahrheit kennt, die ihr keinen Anlass bietet, ihre Anführer zu hinterfragen … warum sollte es sich dann wehren? Warum sollte es etwas ändern wollen, wenn es glaubt, nichts ändern zu können? Doch wenn man ihm eine zweite Wahrheit bietet … eine Wahrheit, die das Königshaus in sehr schlechtes, lügnerisches Licht wirft, ihnen erklärt, dass ihre Lebenssituation besser werden kann, wenn nur genug es wollen … könnten wir ganze Massen bewegen, sich uns anzuschließen und für ihre Freiheit zu kämpfen. Die meisten wissen nur, was das Königshaus ihnen erzählt. Was das Wochenblatt berichtet. Wir jedoch wissen mehr. Es ist unsere Aufgabe, sie davon zu unterrichten. Ihnen ihre Möglichkeiten zu zeigen. Denn sonst tut es niemand.«
»Ihr wisst mehr? Was denn?«, hakte ich nach.
»Zum Beispiel, dass Mentano einst Teil des Bündnisses war«, sagte Nuthatch.
Mit aufgerissenen Augen sah ich ihn an. »Was? Nein!« Ich schüttelte meinen schmerzenden Kopf. Mit jedem weiteren Herzschlag schien er mit mehr Unsicherheiten, mehr Halbwahrheiten, mehr Fragen gefüllt zu werden. Er war mittlerweile so schwer, dass ich mich darüber wunderte, dass mein Hals ihn überhaupt noch halten konnte. Zu viel passierte auf einmal!
Ich atmete schwer, versuchte, meine wirren Gedanken zu ordnen und mich nur auf diesen Moment zu konzentrieren. »Nein«, wiederholte ich. »Das Bündnis ist unser Feind. Jeden Tag gehen ihre Angriffe auf uns nieder. Mentano kann nicht … warum sollten wir … nein!«
»Doch«, beharrte Nuthatch und ich konnte von seinen Lippen ablesen, dass er wieder glaubte, die Wahrheit zu sagen.
»Woher willst du das wissen?«, fragte ich hitzig.
»Weil ich es gelesen habe«, murmelte er leise und blickte in meine Augen. »In einem Buch, das ich für deine Mutter gestohlen habe.«