Mein Herz zog sich zusammen.
So wie immer in den letzten Wochen, wenn jemand meine Mutter erwähnte. Ich wusste nicht mehr, was ich fühlte, wenn ich an sie dachte. Es waren zu viele Emotionen, die sich wie bunter Nebel miteinander vermischten, als dass ich sie auseinanderhalten könnte.
Da war Wut auf sie, weil sie mich so lange belogen hatte. Weil sie mich vor den Dunkeldieben gewarnt, aber selbst mit ihnen verkehrt hatte. Weil sie mir verboten hatte, mehr mit meiner Magie anzufangen, als Lügen zu lesen, aber selbst die mächtigste Rote Magierin ihrer Zeit gewesen war. Weil sie mir erzählt hatte, dass ich die Gesetze des Königshauses befolgen musste, sie es aber selbst etliche Friedensjahre lang als Spionin hintergangen hatte.
Doch gleichzeitig empfand ich auch Sehnsucht und eine merkwürdige Art der Hoffnung, wenn ich an sie dachte. Weil sie nichtsdestotrotz mein größtes Vorbild gewesen war. Mein Vater hatte mich die Hälfte meines Lebens angesehen, als wäre ich ein Dorn, der in seinem Daumen steckte. Doch meine Mutter hatte mich geliebt – und ich hatte den Glauben daran, dass alles, was sie getan und verbrochen hatte, aus gutem Grund geschehen war, noch nicht verloren.
Ich wusste, dass Nuthatch sie gekannt hatte. Er hatte es vor mir erwähnt. Doch mir war nicht klar gewesen, dass er einer der Diebe gewesen war, die für sie gearbeitet hatten, so wie Crow es mir gestern Abend erst verraten hatte.
»Du hast sie gelesen?«, wisperte ich und rang meine Hände. »Die Bücher, die du für sie besorgt hast?«
»Nicht alle«, sagte er knapp. »Aber ein paar. Genug, um zu wissen, warum sie dem Königshaus auf einmal misstraut hat. Eigentlich sollte ich ihr also dankbar sein, Fawn. Durch sie habe ich mich den Wissensjägern erst angeschlossen.« Er verzog zynisch die Mundwinkel. »Aber dann hat sie ja ihre Meinung geändert. Wollte alles vergessen, was sie herausgefunden hat, und hat alle Bücher, die wir je für sie gefunden haben, versteckt oder verbrannt oder was auch immer mit ihnen getan.«
Ich schluckte. Ich hatte meine Mutter kein einziges Mal mit einem Buch in der Hand gesehen. Es fiel mir schwer, mir vorzustellen, dass sie so viele von diesen verbotenen Gegenständen beherbergt, vielleicht sogar in unseren damaligen Räumlichkeiten versteckt haben sollte.
»Okay«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Schön. Mentano war vielleicht mal Teil des Bündnisses. Das muss überhaupt nichts bedeuten.«
»Es bedeutet, dass das Königshaus uns in dieser Sache bisher belogen hat«, murmelte eine dunkle angespannte Stimme. Caeden.
Mein Blick flackerte kurz zu ihm, dann hob ich die Schulter. »Ja. Sicher. Das Bündnis war vielleicht kein Zusammenschluss ferner Länder, sondern ein Zusammenschluss naher Länder. Und vielleicht haben wir mal zu ihm gehört. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass es uns angegriffen hat, um uns zu vernichten! Dass es das noch immer tut! Dass es uns berauben und versklaven wollte! Dass es alle Länder um uns herum dem Erdboden gleichgemacht hat! Oder etwa nicht?«
»Ja«, sagte Nuthatch leise. »Das lässt sich wohl nicht bestreiten. Aber das Warum, Fawn. Das Warum könnte ein gänzlich anderes sein. Und das ist es, was uns alle hier verbindet. Wir alle suchen nach dem Warum, das unser Land verändern könnte. Jeder hier ist auf mindestens ein Buch gestoßen, in dem etwas stand, was nicht zu dem passt, das uns das Königshaus erzählt. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, warum müssen sie dann ihre Bürgerinnen und Bürger belügen? Weil das System nur so besteht, weil sie es so wollen. Jeder hier zweifelt an, dass eine Monarchie und ein fester Platz innerhalb eines Rings wirklich nötig sind, um das Land zu schützen.«
»So wie die Dunkeldiebe es auch tun?«, wollte ich wissen.
»Ja und nein.« Nuthatch verengte die Augen. »Die Diebe denken zu engstirnig. Crow will eine Demokratie erschaffen und durchsetzen, dass die Menschen ihren eigenen Beruf wählen dürfen. Aber das reicht nicht.« Er atmete tief durch. »Wir werden eingesperrt. Wir werden für dumm verkauft. Eine Demokratie innerhalb der Roten Wand wäre eine Farce. Wir werden niemals denselben Rang wie Rote oder Weiße Magier innehaben, solange die Wand und Kuppel noch bestehen. Solange sie das Land schützen müssen, wird ihnen mehr Wichtigkeit und mehr Macht zuteil. Wir werden erst frei sein, wenn wir ohne Wand existieren können.«
»Also steckt ihr wirklich mit dem Bündnis unter einer Decke«, rutschte es mir heraus – und ich bereute es nicht einmal. »Ihr wollt die Wand stürzen«, sagte ich kopfschüttelnd. »Ihr wollt die Kuppel außer Kraft setzen, ihr wollt …«
»Wir können nicht mit dem Bündnis unter einer Decke stecken«, unterbrach Jyn mich und winkte ab. »Denn wir versuchen noch immer, Kontakt zu ihnen aufzunehmen! Und die Wand stürzen …« Sie zögerte. »Nun, das wollen wir auch nicht unbedingt sofort.«
»Nicht unbedingt sofort?«, sagte ich ungläubig. »Wie beruhigend! Ich wollte schon immer nicht unbedingt sofort sterben.«
»Wir möchten mit dem Bündnis reden«, sagte Wren mit sanfter und sonorer Stimme. »Licht ins Dunkel bringen. Die Wahrheit über den Schwarzen Krieg erfahren. Und vielleicht einen Kompromiss ausarbeiten. Der es uns allen ermöglicht, in Freiheit zu leben.«
Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Einen Kompromiss mit demjenigen schließen, der für Hunderttausende Tote zuständig war? In meinen Ohren klang es so, als wollten sie einen wild gewordenen Bären freundlich darum bitten, ihnen doch etwas von seinem Honig abzugeben. Sie würden ihm auch das Fell kraulen! Das konnte unmöglich ihr Ernst sein! Der Bär würde sie zerfleischen. Das wusste doch jedes Kind!
»Sie … Sie greifen uns an! Jeden Tag«, sagte ich perplex. »Immer noch. Innerhalb von Hunderten von Friedensjahren hat sich nichts geändert! Wie könnt ihr wissen, dass sie mit sich verhandeln lassen? Sie umzingeln uns. Wir sind in keiner Position, nett darum zu bitten, dass sie doch aufhören sollen, uns mit roter und weißer Magie zu bombardieren! Und was, wenn sie sich über eine Nachricht von uns freuen? Weil sie dann so tun können, als ob sie einsichtig wären, nur um uns endlich niederzumetzeln und unsere Bodenschätze zu rauben?«
Zögerlich blickte Nuthatch zu Caeden und auf einmal hatte ich die schreckliche Vermutung, dass er genau diesen Zweifel auch schon einmal geäußert hatte.
Meine Zähne knirschten. Nein. Das war inakzeptabel! Ich wollte nichts mit Lord Kaltherz gemein haben.
»Ja, das ist natürlich ein Risiko«, gab Nuthatch grimmig zu. »Aber das sollte uns nicht daran hindern, es zu versuchen. Wir wollen überlegt und vorsichtig an die Sache herangehen. Wer weiß, wen unsere Nachrichten überhaupt erreichen? Wenn es hier Rebellen gibt, wird es auch auf der anderen Seite der Wand welche geben. Wenn das Bündnis dort draußen noch immer in schrecklicher Tyrannei herrscht, wollen wir eine Allianz mit seinen Gegnern formen und gegen den gemeinsamen Feind angehen! So oder so wollen wir uns nicht länger einsperren lassen. Nicht von einem Königshaus, das uns offensichtlich belügt, wo es nur kann. Warum sonst sollte es uns Bücher verbieten, wenn es ihnen nicht schaden würde, wenn das Wissen darin publik wird? Aber um unseren Plan durchsetzen zu können, müssen wir kämpfen. Uns gewaltsam Gehör verschaffen. Verbündete innerhalb Mentanos finden. Das Land davon überzeugen, dass unser Weg der richtige ist. Und dafür …« Er zögerte. »Muss das Königshaus, wie wir es kennen, fallen.«
Ich rieb mir mit beiden Händen übers Gesicht. Mein Kopf fühlte sich an, als versuche jemand zwanghaft, ein Pfund Karotten durch meine Ohren hineinzuschieben. Und dem Übeltäter schien nicht klar zu sein, dass Karotten überhaupt nichts im Kopf zu suchen hatten!
Die Wissensjäger mochten für mehr Gerechtigkeit sorgen wollen, aber selbst ich, das Mädchen, das mit sechs Friedensjahren versucht hatte, einen Salto vom Dach zu machen, fand, dass ihre Pläne absurd, gefährlich und lebensmüde klangen!
Red Dove zu bekämpfen, war das eine. Aber das gesamte Königshaus? Die gesamte Armee aus Roten und Weißen Magiern? Nur um danach gegen das Bündnis anzutreten? Das hörte sich nach einem blutigen Kapitel des Landes an.
Ich gab ihnen recht. Die Lügen, die das Königshaus verbreitete, mussten enttarnt, die Geheimnisse, die der rote Ring verbarg, aufgedeckt werden.
Aber nicht mit Gewalt. Nicht mit dem Ziel, wahllos Magier zu meucheln, nur weil sie höhergestellt waren als der Rest. Nicht alle Magier waren schlecht! Das bewiesen Jyn und … nun, das bewies Jyn doch! Doch das Königshaus würde sie zwingen zu kämpfen – und Abertausende Unschuldige würden ihr Leben verlieren.
Ich schluckte schwer und legte eine Hand auf mein wild schlagendes Herz. Es musste einen anderen Weg geben.
»Okay«, wisperte ich und setzte mich aufrechter hin. »Okay, ich verstehe. Ihr wollt eure eigene Art der Freiheit leben. Nach euren Ansichten, nicht nach denen des Königshauses. Das ist … verständlich. Aber wie wollt ihr euren Plan umsetzen? Wie wollt ihr Kontakt nach außen aufnehmen?«
»So wie auch sie vor langer Zeit Kontakt zu uns aufgenommen haben«, sagte Nuthatch schlicht. »Übers Meer. Zumindest haben wir Aufzeichnungen gefunden, in denen erzählt wird, dass die Wand nicht bis zum Grund des Meeres reicht und sie unter Wasser auch teilweise nicht massiv ist. Wir könnten in Mentano nicht überleben, wenn nicht Wasser nachfließen würde, es ergibt also Sinn. Allerdings haben wir noch nicht herausgefunden, in welcher Form die wenigen Nachrichten, die gemeldet wurden, auf diesem Weg zu uns gelangt sind oder was mit ihnen passiert ist.«
Mein Mund wurde trocken und augenblicklich fuhr mein Blick zu Caeden.
Er saß ungewohnt still da, weit auf seinem Stuhl nach hinten gelehnt, die Hände im Nacken verschränkt, und musterte mich.
Mir war klar, dass er dasselbe dachte wie ich. Wir wussten beide, dass Nuthatch die Wahrheit sprach. Wir wussten, in welcher Form die Nachrichten nach Mentano gekommen waren. Und wir wussten, wo sich besagte Nachrichten befanden – und dass es nicht nur wenige waren.
In meinem Leben war ich noch nicht so erleichtert darüber gewesen, dass niemand meine Klamotten durchsucht hatte.
Nuthatch sprach weiter, stellte Mutmaßungen darüber an, dass alle Nachrichten sicherlich zerstört worden waren – doch zum ersten Mal seit gefühlt endlosen Sonnenschritten war ich nicht daran interessiert, was er zu erzählen hatte. Denn ein anderer Gedanke hatte von mir Besitz ergriffen: Er hatte es ihnen nicht erzählt.
Caeden hatte den mit Hunderten von Flaschen gefüllten Raum im roten Ring vor den Wissensjägern verborgen gehalten. Vielleicht aus demselben Grund, aus dem auch ich nun schwieg: Ich vertraute Nuthatch nicht. Ich vertraute keinem von ihnen – und ich würde auch niemandem mehr vertrauen. Falsches Vertrauen war es, was mich überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte!
Wenn Nuthatch wüsste, was sich zu diesem Zeitpunkt in meiner Tasche befand, würde er mir die Flasche mit dem Pergament darin wahrscheinlich abnehmen und gar nicht erst verraten, was dort drinstand. Nein, es war viel zu riskant, den Mund zu öffnen. Das hier war mein Geheimnis. Meines … und Caedens.
Lord Kaltherz sah mich noch immer unergründlich an. Als warte er darauf, dass ich den Mund öffnete und ihn verriet. Doch sosehr ich den Gedanken auch hasste – diesbezüglich befanden wir uns auf derselben Seite.
»… allerdings brauchen wir mehr Einfluss, um unsere Ziele durchzusetzen.«
Ich blinzelte, riss meinen Blick von dem Eisblock auf zwei Beinen los und konzentrierte mich wieder auf Nuthatch, der bereits weitersprach.
»Wir müssen mehr Menschen davon überzeugen, dass es sich lohnt, mit dem Bündnis zu sprechen. Wir müssen sie darüber informieren, dass das Königshaus uns manipuliert und belügt. Dass sie ihren Platz auf dem Thron nicht verdient haben. Denn zurzeit können wir die Meerenge nicht einmal erreichen. Sie wird von etlichen Roten Magiern bewacht. Abgesehen davon wissen wir nicht, wie wir die Nachricht durch die Wand bekommen sollen. Wir kennen ihre Beschaffenheit nicht. Wir wissen nicht, was sie verbirgt, was sich in ihr befindet und ob die Magie dort nicht doch mittlerweile weitreichender ist als noch vor hundert Friedensjahren. Wir wissen nicht, ob sie überhaupt zerstört werden kann.«
Ich nickte langsam, denn seine Worte traten eine Erinnerung an den Abend los, als sich mein Leben für immer verändert hatte. Als ich die blutrote Lüge aus Lady Falcrons Mund gestohlen hatte. Jyn hatte angezweifelt, dass die Rote Wand sicher war. Weil sie aus Glas bestünde. Doch Lord Heller hatte ihre Sorge als albern abgetan.
Die Wand ist unzerstörbar, Jyn. Die Magier aus dem roten Ring kümmern sich tagtäglich darum. Außerdem ist es nicht das Glas, was sie so stark macht, es ist das, was sich in dem Glas befindet, das Leben kostet. Das, was die fähigsten Roten Magier ihr jeden Tag zufügen.
Das waren seine Worte gewesen.
Die Kuppel, die direkt an der Roten Wand anlag, wurde tagtäglich von den Weißen Magiern mithilfe ihrer Magie aufrechterhalten. Das wusste jeder. Doch die Rote Wand … Niemand hatte einen Schimmer, was die Roten Magier ihr zufügten. Doch ich war mir zumindest sicher, dass noch immer Nachrichten von außen ankamen. Warum sonst sollten Magier das Meer bewachen? Die meisten Bewohner Mentanos konnten ja nicht einmal schwimmen. Sie standen sicherlich nicht dort, um Leute aus den äußeren Ringen an der Flucht in einen noch immer tobenden Krieg zu hindern.
»Das Problem ist, dass die Leute denken, dass wir machtlos sind«, fuhr Syla fort. »Dass sie glauben, dass es sich nicht lohnt, sich uns anzuschließen. Weil wir ohnehin nichts bewegen können. Doch wir müssen ihnen beweisen, dass sie falschliegen. Dass wir bereit sind, für sie zu kämpfen … dass wir mehr Macht haben, als sie denken.«
»Und wie wollt ihr das tun?«, fragte ich stirnrunzelnd.
»Wir töten den König und den Prinzen«, brummte Wren.
Mein Herz fiel in meinen Schoß und mit offenem Mund starrte ich ihn an. »Was?«, wisperte ich schockiert.
»Fawn«, sagte Nuthatch schroff. »Wir müssen handeln. Uns wird die Zeit knapp. Die Roten Magier suchen immer hartnäckiger nach uns, Familie Legg meint eine neue Informationsquelle gegen uns zu haben, und niemand weiß, was Red Dove genau plant, doch sie scheint ihrem Ziel näher zu kommen – wir sind hier gut versteckt, doch es reicht nicht, ewig nach weiteren Büchern zu forschen. Wir müssen die Leute von unseren Plänen überzeugen. Wenn nötig mit Gewalt!«
Bewegungslos sah ich ihn an. Eine Gänsehaut zog sich meinen Nacken hinauf und eine nervöse Unruhe erfasste mich. »Das könnt ihr nicht ernst meinen«, hauchte ich. »Und was genau ist Red Doves Ziel?«
Neben mir brummte Wren. »Uns zu vernichten, Fawn. Die Wissensjäger. Liegt das nicht auf der Hand? Sie will die einzige Gruppe zerschlagen, die dem Königshof ein Dorn im Auge ist. Was könnte der König ihr denn sonst für einen Auftrag gegeben haben?«
Meine Gedanken fingen an zu rattern und obwohl ich wusste, dass es Sinn ergab, dass das natürlich ihr Ziel sein musste, hatte ich dennoch Probleme zu verstehen. »Aber … wozu?«, fragte ich verwirrt. »Was springt für sie dabei raus?«
»Was interessiert uns, was König Sweft ihr im Gegenzug dafür angeboten hat? Er will uns zum Schweigen bringen … und er nutzt Red Dove, um es zu tun«, meldete sich Greg zu Wort.
Mich interessierte es. Denn wenn man wusste, aus welchem Grund Menschen handelten, verstand man sie so viel besser.
»Red Dove soll beenden, was deine Mutter nicht geschafft hat, Fawn«, erklärte Nuthatch. »Und sie wird sich nicht umstimmen lassen. Denn da sie anscheinend aus dem roten Ring heraus agiert …«, er warf Caeden einen Blick zu, »… wird sie genug Geheimnisse des Königshauses kennen – und offenbar interessiert sie sich für keines davon.«
»Wissensjäger sind aber anscheinend nicht mehr die Einzigen, die unter ihrer Befehlsgewalt gejagt werden«, bemerkte Mae neben ihm leise. »Rote Magier verschwinden ebenso.«
»Nun, Weiße Magier offenbar auch«, sagte Jyn seufzend.
»Genauso wie die Dunkeldiebe«, setzte Nuthatch hinzu.
»Sie schürt Angst«, meinte Mae nun mit lauterer Stimme. »Angst davor, etwas falsch zu machen. Zu viel nachzufragen. Zu viel zu wissen. Und wenn die Bewohner Mentanos zu viel Angst haben, werden sie sich den Wissensjägern nicht anschließen.«
»Weshalb wir agieren müssen!«, sagte Nuthatch diesmal lauter. »Wir müssen dafür sorgen, dass niemand mehr vor dem Königshaus Angst haben muss!«
»Indem ihr den König und den Prinzen tötet?«, fragte ich laut und meine Stimme zitterte.
Alle nickten. Alle bis auf Caeden. Er saß mir noch immer bewegungslos gegenüber, die Hände hinterm Kopf verschränkt, die Augen verengt.
Niemand widersprach – und da es irgendwer tun musste, übernahm ich diese lästige Aufgabe. »Das ist Wahnsinn!«, platzte es aus mir heraus. »Wahnsinn und sinnlos. Ich meine: Was macht das für einen Unterschied? Sie werden doch nur durch einen weiteren königlichen Narren ersetzt werden. Ihr werdet nur noch mehr gejagt werden …«
»Nein, du liegst falsch, Fawn«, bemerkte Nuthatch und sein Gesicht verzog sich zu einer grinsenden Fratze. »Denn dank des Buchs, das du Caeden abgenommen hast, wissen wir, wer im Falle des Todes eines jeden königlichen Nachfahrens den Thron übernehmen wird. Der höchste Fürst des Königshofs – den wir dank Jyn zufällig auf unsere Seite ziehen konnten. Wenn die Swefts fallen, wird somit ein von uns bestimmter König den Thron erklimmen, der sich dazu bereit erklärt hat, uns zu unterstützen. Und sobald du uns das Buch zurückgibst, können wir es zu Ende lesen, sichergehen, dass unsere Recherchen stimmen – und den nächsten Schritt einleiten.«
Ein Kloß in der Größe von Nuthatchs Kopf kämpfte sich meinen Hals hinauf und meine gesamte Brust brannte.
Sie hatten einen Plan. Aber er würde zu viele Leben kosten. Ein Attentat auf den König und seinen Sohn konnte nur bei einem ihrer Besuche der oberen Ringe stattfinden. Sie würden es in einer großen Menschenmenge tun … Die Roten Magier würden jeden niedermetzeln, der sich zu schnell bewegte.
»Ihr könnt euch nicht sicher sein, dass der Fürst wirklich auf eurer Seite ist.«
»Natürlich ist er das: Wir beschaffen ihm den Thron.«
»Und danach? Wenn ihr ihm zum Aufstieg verholfen habt?«, fuhr ich ihn bissig an. »Wer sagt, dass er euch dann nicht den Rücken kehren und seine Versprechen brechen wird?«
»Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen.«
»Es ist zu groß!« Meine Stimme wurde mit jedem Wort lauter.
»Es muss eine andere Möglichkeit geben.«
»Aber die gibt es nicht«, sagte Nuthatch harsch.
»Es muss«, widersprach ich hitzig. »Ich glaube, das Königshaus verbirgt ein Geheimnis, das es auch ohne Gewalt zu Fall bringen könnte. Das es so in Verruf bringen wird, dass selbst die Roten Magier ihm den Rücken kehren werden. Warum sonst bringen sie zurzeit eine Menge Leute um, die zu viel wissen?«
»Der Plan steht fest, Fawn«, beharrte Nuthatch stur. »Wir müssen nur noch entscheiden, wann und wie wir es machen. Wir brauchen ein großes Publikum. Am besten, wir tun es auf dem Markt, wenn der König und sein Sohn sich mal wieder dazu herablassen würden eine Menge zu kommen …«
»Aber was ist, wenn das Attentat schiefgeht, Nuthatch?«, unterbrach ich ihn laut. »Sie werden euch niedermetzeln. Jeden töten, der ihnen verdächtig erscheint. Ihr habt keine Chance, den König und den Prinzen zu ermorden, während ihre Wachen sie schützen. Sie beherrschen weiße und rote Magie. Du warst doch heute Morgen selbst dabei! Die Magier haben euch innerhalb weniger Minuten eingekesselt und handlungsunfähig gemacht!«
»Und dennoch konnten wir fliehen.«
»Ja! Aus purem Glück und weil die Magier nicht mit mir gerechnet haben.«
Ein kleines Lächeln zog an Nuthatchs Mundwinkeln. »Du sagst es. Sie haben nicht mit dir gerechnet – und diese Tatsache werden wir uns zunutze machen.«
»Was?« Das Wort aus meinem Mund klang klein und unbedeutend, aber es trug dennoch so viel Gewicht, dass es meine Zunge schwer machte.
»Fawn«, sagte Nuthatch ernst. »Uns ist das Risiko bewusst. Doch wir haben keine andere Wahl. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir nie wieder die Möglichkeit dazu haben. Red Dove wird jeden Einzelnen finden und umbringen, bevor wir unser bisher gesammeltes Wissen weitergeben können! Bevor wir unseren Plan …«
»Aber das ist Wahnsinn! Ihr könnt es nicht schaffen.«
»Wir können: wenn wir unsere eigenen guten Kämpfer haben. Wenn wir sie überraschen und überfordern können«, meinte er langsam, blickte mich, seine Frau … und dann Jyn und Caeden an.
Caeden ließ die Arme fallen und lehnte sich vor. »Wir hatten das bereits, Nuthatch«, erwiderte er kühl. »Wir werden nicht für euch kämpfen. Ich werde keinen arglosen Prinzen umbringen. Es würde nichts bringen. Die Roten Magier werden sich nicht von einem jungen Fürsten mit zweifelhaften Absichten befehligen lassen. Das ist meine Meinung und dabei bleibe ich.«
Ich senkte den Blick und sah verärgert in meinen Schoß. Großartig! Ich war einer Meinung mit Lord Kaltherz.
»Aber, Caeden«, widersprach Jyn mit geröteten Wangen. »Wir könnten einen Unterschied machen!«
»Nein«, sagte er kalt, seine Stimme ungewohnt leise. »Der einzige Unterschied wäre, ob wir ebenfalls tot am Boden liegen oder nicht.«
»Du vergisst Fawn, Caeden«, sagte Nuthatch streng.
»Nein«, erwiderte er scharf und richtete sich in seinem Stuhl auf. »Ich vergesse sie nicht. Wie könnte ich, wenn sie mir direkt gegenübersitzt und mir charmante Todesblicke zuwirft? Aber ich glaube nicht, dass sie uns nützlich sein wird.«
Ich presste die Lippen zusammen, doch sagte nichts. Ich hasste ihn für seine Worte – aber noch mehr hasste ich, dass ich ihm zustimmte.
»Bei aller Höflichkeit …«, knurrte Nuthatch in einem Tonfall, der vermuten ließ, dass Höflichkeit keine Tugend war, die er wertschätzte, »… sie ist das Ablenkungsmanöver, auf das wir gewartet haben! Sie wird uns die Zeit liefern, die wir brauchen, um zuzuschlagen.«
»Was?« Mir kam es vor, als wäre dies das einzige Wort, das ich noch zur Verfügung hatte, doch ich musste die Frage stellen.
Widerwillig wandte Nuthatch sich mir zu. »Sie suchen dich, Fawn. Du verunsicherst sie, denn du solltest nicht existieren. Wenn du lernst, deine Magie zu kontrollieren, kannst du Illusionen erschaffen und so eine Menge Roter Magier auf die falsche Fährte locken. Sie werden dich verfolgen, während wir die Zeit nutzen und uns um die Swefts kümmern.«
»… und noch immer halte ich das für keine gute Idee«, wisperte Caeden. Seine Stimme war kaum hörbar und dennoch sahen alle direkt zu ihm. Als hätte allein die drohende Note seiner Worte gereicht, um sie alle aufzuschrecken. »Nuthatch, ich weiß nicht, wie gut du Fawn kennst, aber sie ist in etwa so gut als Ablenkungsmanöver geeignet wie ich als Teppich.«
Ich hatte keine Zeit, ihm vorzuschlagen, sich auf den Boden zu legen und mich seine These ausprobieren zu lassen, denn Nuthatch unterbrach meine Gedanken.
»Wenn Fawn lernt, ihre rote Magie zu kontrollieren …«
»Aber das wird sie nicht. Sie konnte sich ja nicht einmal auf ein paar Tanzschritte konzentrieren! Geschweige denn auf eine Kraft in ihrem Inneren, von der sie keine Ahnung hat!«
Ich biss meine Zähne zusammen, die ein unheilvolles Knacken von sich gaben. Wenn er meine Todesblicke nicht mehr abbekommen wollte, wählte er den falschen Weg!
»Ihre Magie ist etwas Besonderes!«, sagte Nuthatch scharf. »Das hast du selbst gesagt! Sie kann Dinge, die ein Roter Magier nicht können sollte.«
»Was die Sache umso gefährlicher macht«, fuhr Caeden ihn an. »Beim verdammten Hause Sweft, Fawn ist viel zu leichtsinnig und ungeduldig, um eine so wichtige Aufgabe anvertraut zu bekommen! Sie wird sich schneller umbringen lassen, als mir die Worte Ich habe es doch gesagt über die Lippen kommen.«
»Du unterschätzt sie.«
»Nein, du überschätzt sie, weil dein Plan ohne sie nicht umsetzbar ist.«
»Es war dein Wunsch, sie …«
»Es reicht!«, dröhnte Syla dazwischen und erhob sich, die Hände auf die Tischplatte gestützt. »Ihr benehmt euch wie Kleinkinder – und dafür haben wir bereits Greg.« Sie nickte zu dem alten Mann, der trotzig die Unterlippe vorschob. »Ihr seid es nicht, die diese Entscheidung treffen. Es ist Fawns Sache, ob sie dem Plan zustimmt oder nicht. Ob sie rote Magie erlernen will oder nicht. Ob sie überhaupt Teil der Wissensjäger werden will oder nicht!«
Wieder wandten sich alle Blicke mir zu und meine Brust wurde eng. Da waren Erwartungen. So viele Erwartungen in diesen fremden und vertrauten Gesichtern.
Ein trockenes Lachen blieb mir im Halse stecken. Wusste denn keiner von ihnen, dass ich bereits mein Leben lang darin versagte, Erwartungen gerecht zu werden? Ich hatte meinen Vater enttäuscht. Ich hatte meinen Bruder enttäuscht. Ich hatte Crow enttäuscht. Ich hatte Finch enttäuscht. Und ich würde sie enttäuschen.
»Ich …« Ich atmete tief durch und wisperte: »Ich möchte mich nicht umbringen lassen.« Ebenso wenig, wie ich eine Mörderin werden wollte. »Aber ich würde gerne rote Magie erlernen.« Das wollte es schon mein Leben lang, war von meiner Mutter jedoch daran gehindert worden. »Aber ich halte es nicht für den richtigen Weg, den König und den Prinzen umzubringen. Nicht, solange es möglicherweise ein Geheimnis gibt, dessen Enthüllung das Ganze nichtig macht.«
»Wir haben fast jeden möglichen Ort nach Informationen abgesucht«, sagte Syla störrisch.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht alles. Nicht den roten Ring. Nicht … Nicht das Schloss. Denn es ist doch klar, wo all das Wissen versteckt liegt, das ihr braucht! Wo all die Bücher stehen, die euch erklären, was wirklich damals beim Schwarzen Krieg passiert ist – in der königlichen Bibliothek.« Dort, wo auch festgehalten wurde, um was es in den Lügen ging, die aus den Archiven unterhalb des Wachhauses gestohlen worden waren. In der Lüge, die meiner Mutter wahrscheinlich das Leben gekostet hatte.
»Und da behauptest du, dass du dich nicht umbringen lassen willst«, murmelte Wren, während Greg anfing zu kichern.
»Was ist daran so witzig?«, wollte ich feindselig wissen.
»Sie meint es ernst, Greg«, sagte Caeden schnaubend.
Abrupt hörte der alte Mann auf zu lachen. »Was? Nein. Es ist unmöglich, in die königliche Bibliothek zu gelangen! Sie befindet sich nicht einmal direkt im Palast. Sie befindet sich in einem eigenen Gebäude im Innenhof des Palastes!«
»Bis vor ein paar Tagen habt ihr auch noch geglaubt, dass es unmöglich ist, in den roten Ring einzubrechen!«, zischte ich. »Und dennoch haben Caeden und ich es getan!«
»Es ist etwas vollkommen anderes, sich mit der Autorität eines Falcrons Eintritt in den roten Ring zu erbitten, als widerrechtlich in den Palast einzubrechen, an den etlichen Wachen vorbei bis in den Innenhof zu gelangen und sich dann gewaltsam Zutritt zu einem weiteren Gebäude zu verschaffen!«, sagte Nuthatch bedrohlich leise.
»Natürlich ist es nicht einfach«, erwiderte ich aufmüpfig. »In etwa genauso wenig, wie die Familie Sweft umzubringen!«
Nuthatch öffnete den Mund, sicherlich um mir höflich zu widersprechen, doch Mae streckte die Hand nach seinem Arm aus und brachte ihn so zum Schweigen.
»Ich glaube, wir kommen heute nicht weiter«, sagte sie freundlich. »Es ist schon spät. Fawn ist verletzt. Sie hat eine Menge durchgemacht. Sie braucht Ruhe. Alles andere kann warten. Ich werde ihr morgen die erste Unterrichtseinheit in roter Magie geben, sehen, wozu sie in der Lage ist … Und danach können wir immer noch besprechen, was die nächsten, klugen Schritte sind.« Ihr Blick wanderte zu Caeden. »Wir alle brauchen Zeit, um darüber nachzudenken, welchen Weg wir einschlagen möchten. Denn sobald wir ihn genommen haben, können wir nicht mehr zurückkehren.«
Ich war in diesem Moment so dankbar für ihre Worte, dass es egal war, ob sie einen roten Umhang trug oder nicht. Das alles hier war zu viel auf einmal. Ich war so unendlich erschöpft, dass mir nichts mehr sinnvoll erschien.
Mein Kopf tat weh, meine Rippen taten weh, meine gesamte linke Seite tat weh … und ich wollte nur noch, dass dieser Tag endlich vorbei war.
»Schön«, sagte Nuthatch knapp. »Wir beenden die Diskussion für heute.« Mit verengten Augen sah er mich an. »Aber niemand von uns wird losziehen und ins Schloss einbrechen.«
Ich senkte lediglich den Blick. Ich wusste, dass es keine Feststellung war – es war eine Drohung. Doch Drohungen hatten mir noch nie Angst eingejagt.