Ich träumte von dunklen Gesichtern und leeren Versprechen. Von stumpfen Warnungen und knisternden Geheimnissen. Ich träumte von Stein und Licht … und von Caedens Lächeln. Immer wieder Caedens Lächeln, das zu schnell von seinen Zügen glitt.
Am nächsten Morgen wurde ich von einem Lichtstrahl geweckt, der direkt durch das runde Loch über mir auf mein Gesicht fiel. Wie freundlich von ihm, mich höflich daran zu erinnern, dass ich nicht im gemütlichen Bett bei den Falcrons lag, sondern unter Steinmassen begraben der Güte der Wissensjäger ausgeliefert war.
Verärgert verzog ich das Gesicht. Ich befand mich an einem fremden, kalten Ort und sollte demnächst als Ablenkungsmanöver bei einem blutigen Attentat dienen – und mein Kopf hatte nichts Besseres zu tun, als Caedens Gesicht heraufzubeschwören? Was stimmte nicht mit mir? Der Mistkerl hatte keinen Auftritt in meinen Träumen verdient.
Ich tastete nach meiner in Mullbinden verpackten Seite, die sich wund und steif anfühlte, als mein Blick auf die Gestalt fiel, die neben meinem Bett saß.
Erschrocken fuhr ich auf. Sofort griff ich nach dem Dolch unter meinem Kissen – nur um zu bemerken, dass ich keinen dort versteckt hatte. Also erhob ich hektisch meine leeren Fäuste, bereit zuzuschlagen … als ein vertrautes Lachen mich innehalten ließ. »Bei Sweft, ich sitze seit einem halben Sonnenschritt hier, Fawn! Der Moment, in dem du dich hättest erschrecken dürfen, ist vorbei.«
Seufzend sank ich zurück in die Kissen. »Jyn! Du musst wirklich aufhören, mich beim Schlafen zu beobachten.«
Sie zog eine Grimasse. »Ich wollte dich nicht wecken. Du sahst so erschöpft aus.«
»Woran das wohl liegen mag?«, gab ich trocken zurück. »Mein Körper verträgt sich wohl nur halb so gut mit Holzsplittern, Panik und zu wenig Schlaf, wie ich gedacht habe.«
Jyn hob die Mundwinkel, doch ihr Lächeln wackelte auf dem Gesicht. Ihr Blick wanderte über meine aufgeschürften Hände zu dem Verband um meinen Kopf.
»Wie geht es dir, Fawn?«, fragte sie vorsichtig. »Es tut mir wahnsinnig leid, dass es dich so übel erwischt hat. Nuthatch und die anderen wussten einfach nicht, wie sie die Kutsche sonst aufhalten sollten … Und außerdem musstest du gestern echt eine Menge Informationen auf einmal verkraften.«
Ich wandte den Blick ab und besah mir die diamantgespickten Wände. Die kleinen Steine spiegelten den einzelnen Lichtstrahl, der durch das Loch in der Decke drang, hundertfach wider, sodass es fast nicht auffiel, dass es keine Fenster gab. Fast.
»Weißt du«, murmelte ich zögerlich und zupfte an dem Laken, das ich diese Nacht als Decke missbraucht hatte. »Ich habe mein Leben lang Fragen gestellt. Immer und zu jeder Zeit. Meinen Eltern, meinen Lehrern, meinen Freunden … Und allesamt haben sie mir gesagt, dass ich doch endlich damit aufhören möge. Und ich dachte immer, dass sie schwiegen, weil sie keine Lust hatten zu antworten. Oder weil die Antworten zu prekär, zu interessant oder nicht für junge Ohren bestimmt waren. Aber niemand hat mir gesagt, dass ich aufhören soll, Fragen zu stellen, weil ich die verdammten Antworten nicht hören wollte! Weil die Wahrheit zu sehr wehtut. Weil sie zu hässlich ist, um sie zu ertragen!« Wie von selbst ballten sich meine Finger zu Fäusten. »Ich wurde innerhalb der letzten Wochen so oft belogen, verraten und vorgeführt, dass ich aufgehört habe zu zählen«, wisperte ich. »Doch trotzdem sitze ich jetzt hier und trauere jeder Lüge und Täuschung nach – weil die Wahrheit so viel kälter und schwerwiegender ist. Weil Lügen alles einfacher machen, während die Wahrheit und die Suche danach alles nur verkomplizierten.«
Mitfühlend streckte Jyn die Hand aus und strich sanft über meine Schulter. »Die Wahrheit ist es wert.«
»Ist sie das?«, fragte ich zweifelnd. »Wenn sie mich mit schmerzender Brust und kochendem Blut zurücklässt? Wenn sie zu erzwingen, in euren Augen bedeutet, das Leben Tausender unschuldiger Menschen zu riskieren?«
Jyn seufzte schwer. »Ich weiß, dass der Plan riskant ist. Und wenn es einen anderen Weg gäbe, würde ich gern darauf verzichten, König Sweft und seinen Sohn umzubringen. Aber … es wird niemals Veränderung geben, Fawn, wenn wir sie uns nicht nehmen. Man kann Mord und Gewalt nicht mit einem Lächeln und Blümchen begegnen. Das Königshaus hat meinen Vater umbringen lassen. Es belügt sein Volk. Haben wir nicht verdient herauszufinden, warum?«
»Doch, das haben wir«, sagte ich leise. »Aber nicht, indem wir uns auf ihre Ebene herablassen. Wir müssen weitere Informationen sammeln, wir …«
»Man schlägt einen Krieg nicht mit Büchern, Fawn«, sagte Jyn ernst. »Man schlägt ihn mit Soldaten.«
Ich wusste nicht, ob ich das gutheißen konnte. Wie selbstverständlich Jyn davon sprach, eine Revolution loszutreten. Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Einen Krieg innerhalb der Wand zu führen, nur um einem weiteren dahinter beizutreten.
Doch ich war erschöpft und wahrscheinlich machte es ohnehin keinen Sinn, mich weiter dagegen auszusprechen. Also hielt ich fürs Erste den Mund. Denn jetzt gerade brauchte ich nichts weiter als eine Verbündete. Jemanden, der auf meiner Seite war. Und Jyn war immer nett und freundlich zu mir gewesen. Eine … Freundin.
Sie konnte ja nichts dafür, dass sie so einen hässlichen, untragbaren Bruder besaß.
Ich seufzte. »Der Spruch kommt von Nuthatch, oder?«
Jyn lief rosa an und richtete sich auf. »Nuthatch ist nicht so übel, Fawn. Mach ihn dir nicht zum Feind. Er hat eine Menge durchgemacht.«
Ich schüttelte den Kopf. »Er ist nicht mein Feind. Er ist nur wirklich nicht mein Freund.«
Jyn lachte auf. »Natürlich. Wie viele Leute kennst du, die wirklich nicht deine Freunde sind?«
Weniger, als ich womöglich verdiente. »Ich kann sie noch an einer Hand abzählen.«
Ein weiteres Grinsen huschte über ihr Gesicht, bevor sie aufstand. »Ich hoffe, ich lerne die anderen nie kennen. Aber ich lass dich jetzt erst mal wieder allein. Ich war eigentlich nur hier, um dich zu wecken. Wir haben heute viel vor und du solltest essen und dich fertig machen.«
Sie nickte zu dem kleinen Tisch neben dem Stuhl, auf dem tatsächlich ein gefüllter Teller und ein Glas mit Wasser standen. Erst als mein Blick auf das Brot, den Käse und die Trauben fiel, bemerkte ich, wie unglaublich hungrig ich war. Mein Magen war ein gähnendes Loch.
»Also, iss auf, ja? Damit du groß und stark wirst. Dann wasch dich, zieh dich in Ruhe um, lass Syla deine Verbände wechseln … und lies das hier, da steht ausnahmsweise eine Menge interessantes Zeug drin.« Sie tippte auf das Wochenblatt, das unter dem Teller mit Brot und Käse klemmte. »Ich hole dich in einem Sonnenschritt wieder ab.«
»Wohin ab?«, fragte ich verwundert.
»Zu deiner ersten Magieeinheit.« Ihre Augen leuchteten. »Wir sind alle schon sehr gespannt, was du alles kannst. Caeden war ziemlich beeindruckt von dir – und er ist normalerweise nicht so leicht von den Socken zu hauen.« Sie lächelte mir ein letztes Mal zu und verschwand im nächsten Moment aus der Tür.
Einige Augenblicke lang sah ich ihr nach. Es war schön, jemanden hierzuhaben, der mich nicht verabscheute. Das nahm einen Teil der Last von meinen Schultern. Aber Caeden war beeindruckt von mir? Das war schwer zu glauben.
Als mein Blick wieder auf den gefüllten Teller fiel, vergaß ich Caeden und die Last jedoch für einige Augenblicke. Ich würde nicht behaupten, dass ich mich aufs Essen stürzte … aber ich schob es definitiv auch nicht auf dem Teller herum. Ich schlang die erste Scheibe Brot in drei Bissen hinunter, bevor ich die zweite zusammen mit den Trauben folgen ließ. Lady Falcron wäre schockiert gewesen. All die schönen Manieren, die sie mir über die letzten Wochen hinweg beigebracht hatte! Tja, sie hätte ihre Zeit lieber damit verbringen sollen, ihrem geliebten Sohn etwas Anstand einzubläuen. Damit wäre mir – ach, sicherlich dem ganzen Land – geholfen gewesen.
Ich stürzte das Wasser hinunter, aß den Rest auf und zog, erst als mein Magen nicht mehr knurrte und meine Kehle keiner Wüste mehr glich, das Wochenblatt zu mir heran.
Ich hatte fest damit gerechnet, dass ich es auf der Suche nach den interessanten Dingen, von denen Jyn gesprochen hatte, von vorne bis hinten durchblättern musste. Doch wie sich herausstellte, lag ich falsch. Denn als ich auf die Titelseite blickte, begrüßte mich ein vertrautes Gesicht. Meins. Mein Mund klappte auf und die letzte Traube fiel mir aus den Fingern. Gesucht, prangte in großen schwarzen Lettern darüber. Mein Herz stand still und hastig hob ich das Papier höher an meine Augen. Was zum …?
Die Magier hatten meine Festnahme doch gar nicht melden wollen! Aber jetzt, da die Wissensjäger ihre Hände im Spiel hatten, war ihnen wohl keine andere Wahl geblieben. Fahrig strich ich die Zeitung glatt und fing an zu lesen:
Am Grautag dieser Woche wurde das 18 Friedensjahre alte Mädchen Fawn Tresten festgenommen.
Ich schluckte und das Blut wich aus meinem Gesicht. Da stand mein Name. Das ganze Land kannte nun meinen verdammten Namen!
Die vergangenen Wochen über schleuste sie sich als Spionin in das Haus der hochgeachteten Weißmagierfamilie Falcron ein, indem sie sich fälschlich als Leya Tromin, Bewohnerin des weißen Rings, ausgab. Gezielt und heimtückisch verdrehte sie Caeden Falcron, Erben von Reks Falcron, den Kopf, um die Ressourcen der Familie für ihre Zwecke zu nutzen.
Sie hat mich getäuscht, so Lord Falcron, Ich schäme mich sehr für meinen schwachen Willen und meine fehlende Menschenkenntnis – doch ich habe mich von ihren Reizen und ihren Lügen blenden lassen. Was soll ein Mann tun, wenn sich eine solch hartnäckige Frau an seinen Hals wirft?
Ungläubig riss ich die Augen auf. Reize? Von welchen Reizen redete er? Ich hatte keine. Da waren sich doch alle einig gewesen. Und wenn ich mich an seinen Hals geworfen hätte, dann nur, um ihn zu strangulieren!
Die aus dem grauen Ring stammende Tresten wurde jedoch mithilfe solider Arbeit der zuständigen Roten Magier enttarnt und sollte vergangenen Morgen abgeführt werden. Doch die zuständige Kutsche erreichte ihr Ziel nie.
Mitglieder der gewalttätigen Gruppierung der Wissensjäger lockten die Kutsche in einen Hinterhalt, töteten ihre Insassen und befreiten Tresten. Seitdem ist sie auf freiem Fuß.
Sie ist gefährlich und bewaffnet und jeder Bürger Mentanos wird dazu angehalten, jegliche Informationen, die er über das Mädchen sowie seinen Verbleib hat, direkt an das Wachhaus oder einen Roten Magier zu melden. Jeder nützliche Hinweis wird mit 100 Menti entlohnt.
Ich presste die Lippen zusammen. Was für ein Blödsinn. Niemand war getötet worden! Das war eine Lüge. Die Magier waren mit wenigen Blessuren davongekommen.
Hastig blätterte ich weiter, erhoffte mir weitere Informationen, doch das war offenbar das Ende des Artikels gewesen. Auf der nächsten Seite ging es zumindest um eine gänzlich andere Ankündigung. Prinz Arlon würde in einer Woche, einen Tag vor dem Friedensfest und seiner offiziellen Krönung, auf dem Marktplatz des gelben Rings vorgestellt werden und eine Ansprache halten. Uninteressant, also blätterte ich wieder zurück und starrte die erschreckend akkurate Zeichnung von mir an.
Ein Dieb war nur so viel wert, wie die Anzahl der Menschen, die sein Gesicht einem Namen zuordnen konnten. Es sah aus, als hätte ich auf ewig meine Arbeit verloren.
Wütend kniff ich die Augen zusammen und ballte die Fäuste. Hundert Menti auf meinen Kopf … das ließ selbst den loyalsten Dunkeldieb zum Petzer werden!
Zittrig atmete ich ein und versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Doch neue Panik strömte auf mich ein, als ich daran dachte, was Cora, Finch, Crow und Robyn wohl glauben mussten, wenn sie diesen Artikel lasen.
Meine Schwester würde sich die Augen aus dem Kopf weinen. Wenn sie tatsächlich glaubte, dass ich Teil der Wissensjäger war, sähe sie mich bereits mit schickem Strick um den Hals vor dem Schlosstor baumeln. Finch würde nur in seinen Zweifeln bestärkt, dass ich lebensmüde, geheimnistuerisch und leichtsinnig war. Robyn … Robyn würde den Kopf schütteln und denken: Ich habe sie gewarnt. Crow würde dem Blatt vermutlich nicht glauben. Er würde die Dunkeldiebe dazu anweisen, nichts zu verraten. Er war bisher immer auf meiner Seite gewesen. Aber was brachte mir das hier?
Wieder brannten meine Augen, als habe jemand sauren Wein hineingetropft, doch ich ließ die Tränen nicht gewinnen. Sie würden mir nicht helfen. Was passiert war, war passiert. Ich konnte die Vergangenheit nicht ändern – aber die Zukunft schon.
Und ich würde nur eine haben, wenn ich rote Magie erlernte, damit ich mich besser verteidigen und Red Dove sowie das Königshaus niederzwingen konnte.
Ironischerweise war die Tatsache, dass ich rote Magie beherrschte, die einzige Information gewesen, die das Wochenblatt vor den Bürgern und Bürgerinnen Mentanos geheim gehalten hatte. Es wunderte mich nicht. Es würde die Leute unnötig beunruhigen, wenn sie wüssten, dass ein einfaches Mädchen aus dem grauen Ring so viel rote Magie besaß, dass es selbst das Königshaus in Schrecken versetzte.
Eine gewisse Art der Genugtuung erfüllte mich. Ja, es war durchaus scheiße, dass der König und die Roten Magier mit vereinten Kräften nach mir suchten. Doch es bedeutete auch, dass sie Angst hatten. Dass die Geheimnisse, die sie hüteten, sie schwach machten. Dass sie nicht unverwundbar waren. Und das gab mir neue Hoffnung.
Als ich mich anzog, fielen mir erneut die Flasche mit dem Pergament darin und das Buch in die Hände. Ich hatte wieder keine Zeit, sie zu öffnen beziehungsweise zu lesen, also versteckte ich sie beide lediglich im Zimmer. Das Buch ließ ich in den Kissenbezug gleiten, während ich die Flasche in meine dreckigen Socken einwickelte. Ein Ort, an dem wohl niemand freiwillig suchen würde. Hoffte ich.