KAPITEL 9

»Fawn? Fawn, mach die Augen auf.« Ich spürte raue drängende Hände an meinen Wangen. »Fawn, komm zu dir.«

Ich wollte ihnen gehorchen, den warmen Worten. Den zärtlichen Berührungen. Doch meine Lider waren unendlich schwer. Und es war so gemütlich hier. In den Armen der Schwärze.

»Fawn! Muss ich dir erst eine runterhauen?«

Okay, vielleicht sollte ich doch gegen die Ohnmacht ankämpfen. Langsam blinzelte ich und stöhnte auf, als helles Licht an meine Augen drang. Mein Kopf schmerzte, als hätte ich vor Kurzem versucht, zwei Gehirne darin zu beherbergen. Meine Glieder fühlten sich merkwürdig fremd und schwer an. Als wären sie gerade frisch angenäht. Ich blickte in Caedens Gesicht, das untypisch bleich war, sein Blick unangenehm intensiv. Hastig wandte ich meinen ab.

»Was ist passiert?«, murmelte ich, einen Augenblick lang irritiert darüber, dass ich am Boden lag. Mein Kopf auf Caedens Schoß gebettet.

»Das wollte ich dich gerade fragen«, sagte Caeden ungläubig. »Du bist … du bist durchsichtig geworden, Fawn! Du hast dich fast in meiner Magie verloren, aber warst trotzdem noch da, ich …« Er schüttelte fassungslos den Kopf.

»Ich war was? Durchsichtig? Wovon redest du?« Langsam rieb ich mir die Schläfen und richtete mich vorsichtig in eine sitzende Position auf. In den Armen der Schwärze zu liegen, war okay. In Caedens Armen? Nein, das beunruhigte mich.

»Ich konnte beinahe durch dich hindurchsehen, Fawn«, wisperte Caeden, seine Worte beängstigend ernst. »Als wärst du ein Geist. Es sah aus, als hätte meine Magie – nein, es war deine Magie –, denn du hast sie zu deiner gemacht – dich mitgerissen. Aber ich konnte dich trotzdem spüren. Du warst so unfassbar präsent. Du bist mir förmlich unter die Haut gekrabbelt. Du warst … Ich hab dich gespürt.« Er presste die Hand auf seine Brust. »Hier.« Er führte die Finger an seine Schläfen. »Und hier.«

Ich schluckte und nickte und schüttelte sofort wieder den Kopf. Obwohl ich wusste, was er meinte. Obwohl ich exakt dasselbe gespürt hatte. »Ich … ich war nicht durchsichtig. Das muss das Flirren der Magie gewesen sein. Du warst auch ständig verzerrt. Nur ein leuchtender … Schatten.«

»Du warst weniger als ein Schatten«, sagte er eindringlich. »Und wie in Swefts Namen hast du es geschafft, die Barriere zu zerstören? Ich möchte nicht arrogant klingen, Fawn, aber ich bin verdammt mächtig. Aber du … du … du bist unfassbar.«

Es klang nicht nach einem Kompliment.

»Es war schwer, wenn es dich beruhigt«, erwiderte ich und versuchte, meinen Atem zu beruhigen. »Anstrengend.«

»Das ist egal. Du solltest das nicht können. Du hättest bei dem Versuch in der Magie verglühen müssen. Ich meine … bisher hat es noch kein Roter Magier geschafft, meine Barriere zu sprengen. Außer er hat mich überrascht.«

Ich schluckte. »Ich bitte dich, Caeden. Ich schaffe es nicht einmal, die Illusion eines Steins heraufzubeschwören, ohne umzufallen. Dabei meinte Mae, dass das ihre Schüler und Schülerinnen normalerweise schon nach zwei Tagen können.«

Caeden rieb sich über das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich nicht, Fawn. Nichts an dir.«

»Bringe ich dich deswegen an den Rand der Verzweiflung?«, fragte ich leise und mein Blick flackerte kurz zu ihm.

»Was?«, fragte er verblüfft.

»Ich dachte, ich hätte da so etwas gespürt. Verzweiflung. Hoffnung … Ich …« Ich brach ab, denn meine Kehle schnürte sich angesichts seines schockierten Blickes zu.

»Du hast … meine Emotionen gespürt?«

Nein. Es waren auch meine, wollte ich antworten, doch ich ließ es. Wenn noch etwas Verrücktes aus meinem Mund kam, platzte womöglich Caedens Kopf. »Wahrscheinlich habe ich es mir nur eingebildet«, murmelte ich und rieb mir den Nacken. »Ich bin etwas … durcheinander.«

Aber das stimmte nicht. Seit Monaten hatte ich mich nicht mehr so klar gefühlt.

»Meine Emotionen haben nichts bei dir verloren, Fawn«, sagte er angespannt.

Tatsächlich? Dabei hatte es sich angefühlt, als würden die meisten durch mich hervorgerufen. Hatte ich dann nicht irgendwie ein Anrecht auf sie?

»Ich weiß«, sagte ich hastig und sah auf meine Hände. »Es ist Schwachsinn. Es war nur deine Magie. Sie war vertraut und … Vergiss, was ich gesagt habe.«

Ich winkte ab, spürte jedoch Caedens skeptischen Blick auf meinem Gesicht. Meine Haut kribbelte überall dort, wo er mich berührt hatte. Meine Atmung kam noch immer hektisch und angestrengt. Aber ich wusste nicht, ob das an ihm lag oder daran, dass ich gerade so viel Magie gewirkt hatte.

Eine bleierne schwere Stille senkte sich über uns. Ich blickte zu Boden. Meine Hand lag nur Zentimeter von Caedens entfernt und ich fragte mich, was er tun würde, wenn ich meine Finger gegen seine presste. Mir die Nähe nahm, die ich eigentlich gerade brauchte. Denn Caeden war nicht der Einzige, der beunruhigt war. Das Gefühl, das ich gehabt hatte, als ich in seine Magie getreten war, hatte ich noch nie verspürt. Ich hatte mich übermächtig und schwach zugleich gefühlt. Es hatte sich so natürlich angefühlt. Teil von ihr … von ihm zu sein.

Caeden hatte recht: Ich sollte das nicht können. Wieso konnte ich es?

Ich räusperte mich und strich mir die Haare aus dem Nacken. »Meinst du … Mae kommt gleich zurück?«, fragte ich unsicher.

»Keine Ahnung«, antwortete Caeden dunkel.

Könnte er bitte aufhören, mich anzustarren? Hatte seine Mutter ihm nicht beigebracht, dass das unhöflich war? »Nuthatch sah sehr aufgewühlt aus.«

»Das passiert des Öfteren.«

»Er … scheint dich zu hassen. Ich meine, klar, du bist arrogant und anstrengend, aber … das ist bloß meine bescheidene Meinung. Wieso hat Nuthatch dieselbe?«

Er schüttelte den Kopf, doch lächelte nicht, so wie ich es beabsichtigt hatte. »Es ist nichts Persönliches. Er hasst alle Weißen Magier.«

Ich runzelte die Stirn. »Was? Warum?«

Caeden seufzte und erhob sich langsam vom Boden. Er schien zu wissen, dass ich lediglich von dem ablenkte, was passiert war – aber vielleicht war er sogar dankbar dafür. Jedenfalls murmelte er: »Hast du ihn nie gefragt, woher er seine Narbe hat?«

Verdutzt öffnete ich den Mund. »Ich … Nein. Nun, er hat sich eine Menge Feinde gemacht. Ich bin davon ausgegangen, dass er …« Zögerlich hob ich die Schultern. »Dass er sich mit dem Falschen angelegt hat.«

»Nuthatch hat erst begonnen, sich Feinde zu machen, nachdem … nein, weil er die Narbe bekommen hatte.«

»Was hat er getan, um sich eine solche Wunde zu verdienen?«, fragte ich perplex. Nuthatchs Gesicht glich einem umgegrabenen Acker!

»Gar nichts«, meinte Caeden schlicht. »Das ist die eigentliche Tragik dahinter.« Er kratzte sich an der stoppeligen Wange, bevor er mit leiser Stimme sagte: »Er war nicht immer Teil der Dunkeldiebe. Früher war er sogar regelrecht vernarrt in die richtige Seite des Gesetzes. Er hat als Lehrer im blauen Ring gearbeitet. Hat Mae kennengelernt, als sie seinen Unterricht besucht hat, um den Kindern zu erklären, was die Aufgabe einer Roten Magierin sei. Sie haben sich verliebt, sich gegen die gesellschaftlichen Konventionen aufgelehnt und geheiratet – ähnlich wie deine Eltern hatten sie es deswegen nicht immer leicht. Aber das war ihnen wohl egal. Sie sind trotzdem in den weißen Ring gezogen und haben eine kleine Tochter bekommen. Lyria.« Er senkte den Blick und ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Ich hab mal ein Bild gesehen. Hatte diese dunklen Korkenzieherlocken, die sich wie von selbst um deinen Finger wickeln. Wenn du das Bild siehst, kannst du dir vorstellen, dass Nuthatch, bevor er die Narbe bekommen hat, vielleicht sogar mal ganz ansehnlich war.« Er räusperte sich. »Ist ja auch egal. Der Punkt ist: Nuthatch hat jedes verdammte Gesetz befolgt, das sich der König ausgedacht hat.«

»Was hat sich geändert?«, fragte ich leise und ein unruhiges Kribbeln setzte in meiner Brust ein.

»Er wollte eines Tages Mae vom Wachhaus abholen. Hat seine Tochter bei der Hand genommen und ist dorthin gelaufen. Mae war noch nicht fertig, sie musste noch ein paar Lügen in die Archive bringen oder was auch immer. Also haben sie gewartet. Nuthatch hat sich mit irgendwem unterhalten, hat Lyria kurz losgelassen, ein paar Herzschläge lang nicht darauf geachtet, was sie tut … und als er das nächste Mal aufgeblickt hat, ist sie gerade in Richtung eines dunklen Gangs gerannt. Der Gang, in dem ihre Mutter sein sollte.« Caeden presste die Lippen zusammen. »Es war der Flur, der zu den Lügenarchiven führt. Du kennst ihn, wir sind dort gewesen.«

Ich schluckte und nickte. Einer der Flure war mit schwarzem Marmor ausgekleidet und von Fackeln in eisernen Halterungen beleuchtet gewesen. Als hätten die Wächter sich den Aushang Geheim, nicht betreten! sparen wollen.

»Jemand hat das gesehen. Irgendjemand. Hat beobachtet, wie sie in die Richtung gerannt ist, und gerufen: ›Nein, nicht in die Lügenarchive, das ist verboten!‹ Die Eingangshalle war überfüllt. Dutzende Weiße Magier waren da – und sieben von ihnen haben zeitgleich eine Barriere im Gang erschaffen. Sie hatten nicht bemerkt, dass es ein Kind war, ein fünf Friedensjahre altes Mädchen, das dort hineinlief. Sie haben nur den Ruf gehört und gehandelt. Lyria jedoch hat gar nicht gemerkt, was passiert ist. Sie hat sich bei den vielen Rufen umgedreht … und ist mitten in die Barriere hineingelaufen. In die Barriere, gefüllt mit der Kraft von sieben ausgewachsenen Magiern auf der Höhe ihrer Macht.«

Mein Magen zog sich zusammen und Übelkeit drängte meinen Hals hinauf. »Was ist passiert?«, wisperte ich, auch wenn ich die Antwort eigentlich nicht hören wollte. Sie kannte und mich gleichzeitig vor ihr fürchtete.

»Sie wurde verbrannt. Jeder Zentimeter ihrer Haut hat Blasen geworfen. Sie ist so schnell verglüht, dass sie nicht einmal mehr schreien konnte. Dann warf die Barriere sie zurück gegen eine der Steinwände … und es war fast ein Gnadenstoß, dass sie sich dabei das Genick brach. So hat sie zumindest nicht mehr lange leiden müssen.«

Ich starrte Caeden mit aufgerissenen Augen an, die Finger an meine zitternden Lippen gelegt. Meine Brust brannte und die Luft schmeckte so bitter und fahl, dass ich mich davon abhalten musste zu würgen.

Sie war fünf Friedensjahre alt gewesen. Ihr Leben hatte kaum begonnen – und war ihr innerhalb eines Wimpernschlags genommen worden. Weil die Magier ihre Geheimnisse hatten schützen wollen. Weil die Lügen, die sie verbargen, wichtiger als das Leben eines unwichtigen Mädchens waren.

»Nuthatch ist ausgerastet«, murmelte Caeden und senkte den Blick. »Hat den Weißen Magier attackiert, der ihm am nächsten stand. Hat auf ihn eingeschlagen, seinen Dolch gezogen … Sie mussten ihn mit weiteren Barrieren beruhigen. Einer der Weißen Magier hat ihn im Durcheinander jedoch im Gesicht getroffen und es verbrannt … Also ja, daher stammt die Narbe.« Caeden sah in mein Gesicht. So als wolle er sich noch einmal versichern, dass ich keine Narben davongetragen hatte – obwohl ich doch selbst gerade in seine Barriere hineingelaufen war.

Er räusperte sich, als er nichts fand. »Für ihn ist sie eine ständige Erinnerung daran, dass er seine Tochter verloren hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es leicht für ihn ist, in den Spiegel zu sehen.«

Meiner Lunge fiel es schwer, ihre Arbeit zu verrichten. Die Ungerechtigkeit … die Grausamkeit … die Schrecklichkeit dieses Vorfalls pressten unnachgiebig meinen Brustkorb zusammen.

Nuthatch hatte seine Tochter verloren und obendrein noch eine klaffende Wunde im Gesicht bekommen? All seinem seelischen Leid war noch mehr körperliches hinzugefügt worden? Weil die Weißen Magier sich nicht ohne ihre Magie hatten wehren können?

»Aber …« Ich schluckte fest und drückte mir die Faust auf meinen flauen Magen, damit er sich beruhigte. »Wieso weiß ich davon nichts? Ein solcher Vorfall muss doch die Runde gemacht haben! Die Weißen Magier wurden doch sicherlich zur Rechenschaft gezogen und verurteilt. Das wird das Land in Aufruhr gebracht haben! Und so lange kann das nicht her sein, ich müsste doch …«

»Sie haben es vertuscht, Fawn«, unterbrach Caeden mich nüchtern. »Die Weißen Magier haben es vertuscht. Selbst ich wusste es nicht, bis Nuthatch es Jyn und sie es mir erzählt hat – und ich bin der verdammte Anführer von ihnen! Doch mein Vater hat dafür gesorgt, dass diese Geschichte nie erzählt wird. Das Wochenblatt hat nie über Lyrias tragischen Tod berichtet. Niemand außer den damals Anwesenden weiß, was passiert ist. Sie haben es aussehen lassen, als wäre es nie geschehen. Als hätte es Nuthatchs und Maes Tochter nie gegeben.«

»Aber …« Fassungslos starrte ich ihn an. »Was ist mit den sieben Weißen Magiern geschehen, die für ihren Tod verantwortlich waren?«

Ein bitterer Zug entstand um Caedens Mund. »Was soll schon geschehen sein? Es war ein Versehen. Das hätte doch jedem passieren können. Sie wurden ermahnt und dazu angehalten, das nächste Mal besser aufzupassen. Aber ansonsten … ansonsten sind sie nur ihrer Pflicht nachgegangen, das Land zu schützen.«

»Das Land zu schützen?«, würgte ich hervor und ich spürte, wie das Blut aus meinem Gesicht sank. »Vor einem fünf Friedensjahre altem Mädchen, das nicht wusste, dass es etwas Falsches tat?«

»Falsch ist falsch, Fawn. Egal, wie alt oder jung du bist. Das Königshaus ist da sehr strikt.«

Tränen der Wut brannten in meinen Augen und ich presste die Lippen aufeinander.

Das Bild von dem jungen Mädchen mit den schwarzen Korkenzieherlocken und möglicherweise dem Lächeln ihrer Mutter … Ich kniff die Augen zusammen und atmete kontrolliert durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. »Deswegen ist er Teil der Dunkeldiebe geworden. Teil der Wissensjäger.«

Caeden nickte. »Nuthatch ist in ein Heilhaus eingeliefert worden, damit seine Wunde behandelt wurde. Syla war seine zugeteilte Heilerin. Sie war bereits eine Wissensjägerin und hatte seine Geschichte gehört. Er war der perfekte Rekrut. Hatte einen Grund, das System und die Magier mit voller Inbrunst zu hassen. Also hat sie ihm gesagt, dass er sich bei ihr melden soll, wenn er bereit ist, gegen die Ungerechtigkeit Mentanos zu kämpfen. Und als Nuthatch ein paar Friedensjahre später dank deiner Mutter über die vielversprechenden Bücher gestolpert ist … hat er Syla beim Wort genommen.«

Ich nickte. An seiner Stelle hätte ich es vermutlich genauso gemacht. Hätte jedes Gesetz, jede Regel von dem Königshaus, das die Mörder meiner Tochter auf freiem Fuß ließ, vergessen und nach meiner eigenen Art der Gerechtigkeit gesucht.

»Das hast du damit gemeint«, sagte ich erschöpft. »Dass jeder einzelne der Wissensjäger eine eigene Agenda verfolgt. Dass sie nicht hier sind, weil sie noblen Absichten nachjagen – sondern aus persönlichen Gründen.«

Caeden nickte nur steif. »Syla hat als Heilerin einfach schon zu viel gesehen. Sie heilt etliche Verletzungen – die meisten von ihnen bei Bewohnern der äußeren Ringe, die sie zusammenflickt und dann möglichst schnell zur Arbeit zurückschickt. Sie hat mir mal erzählt, dass es lächerlich ist, wie viele Unfälle und gewaltsame Übergriffe zwischen Magiern und Leuten aus dem grauen Ring es tagtäglich gibt – und wie wenige von ihnen im Wochenblatt erwähnt werden. Wren hatte mit einer Menge Gefangener Kontakt, die für lächerliche Verbrechen in die Minen gewandert sind. So auch seine Tochter. Sie hat vor ihren Freunden angegeben, dass sie die Wand besucht hätte. Dafür hat sie zehn Jahre in den Minen bekommen. Gregs Frau ist sehr früh gestorben. Er hat sie mit hohem Fieber ins Heilhaus gebracht, musste jedoch ewig lange warten, bis sie an die Reihe kam, da eine Menge Magier vor ihr behandelt wurden, obwohl ihre Wunden nicht drängend waren. Er ist der festen Überzeugung, dass seine Frau überlebt hätte, wenn er ein Weißer Magier gewesen wäre und auch sie eine bevorzugte Behandlung bekommen hätte.« Ein zynisches Lächeln breitete sich auf Caedens Gesicht aus. »Und dann wären da noch Jyn und ich … die ihren Vater verloren haben.«

Einige Augenblicke lang schloss ich die Augen. Nahm lange qualvolle Atemzüge, ließ mir die Geschichte der Wissensjäger durch den Kopf gehen.

Schließlich schüttelte ich müde den Kopf. »Und trotzdem denkst du nach all diesen Geschichten noch immer, dass es sich nicht lohnt, gegen das Königshaus zu kämpfen? Dass wir nicht zumindest versuchen müssen, etwas zu ändern?« Ich blickte auf und sah Caeden fest in die Augen.

»Nur weil ich etwas ändern würde, heißt es nicht, dass ich etwas ändern kann, Fawn.«

»Woher willst du das wissen? Du versuchst es doch gar nicht! Du siehst nur tatenlos zu und tust nichts.«

Ich hörte Caedens Kiefer knacken. »Also hältst du die Idee der Wissensjäger jetzt doch für klug, ja? Also würdest du auf einmal doch gerne zur Mörderin werden, weil du ein paar traurige Geschichten gehört hast?«

»Nein!«, sagte ich laut und Verzweiflung kroch in meine Stimme. »Nein, nur weil ich etwas gegen das Königshaus unternehmen will, heißt das nicht, dass ich das Vorhaben der Wissensjäger gutheiße. Ich verstehe nur, warum sie etwas tun wollen! Etwas tun müssen.« Ich schluckte und holte tief Luft. »Caeden: Es ist offensichtlich, dass die Wissensjäger einen Rachefeldzug führen, okay? Sie behandeln alle Magier wie Verbrecher. Sie sind nicht viel besser als das Königshaus! Vergeltung steht bei ihnen an erster Stelle. Veränderung und Gerechtigkeit an zweiter und dritter. Und das ist falsch! Aber einfach nichts zu tun, ist ebenso falsch!«

»Ich weiß«, sagte er tonlos. »Deswegen tue ich das Einzige, was ich kann: Ich versuche, den Wissensjägern weiszumachen, dass noch mehr Tod und Verderben nicht die Antwort ist. Aber sie lassen sich nicht von ihren Plänen abbringen.«

»Dann gibst du dir nicht genug Mühe, Caeden«, sagte ich hart und stand auf. »Und es reicht nicht. Es ihnen ausreden zu wollen und nicht selbst nach einem anderen, besseren Weg zu suchen, dafür zu sorgen, dass das Königshaus nicht weiter wahllos Menschen tötet. Magier verschwinden. Väter, Mütter, Geschwister und Kinder sterben. Der Prinz und der König sollen ermordet werden. Und alles, woran du denken kannst, ist, Jyn zu verbieten mitzumachen? Dich und deine Familie zu schützen?«

»Es ist das Einzige, worüber ich Macht habe, Fawn«, erwiderte er kühl.

»Nein! Du bist ein verdammt mächtiger Weißer Magier. Du trägst nicht nur die Verantwortung für dich selbst. Du trägst sie auch für unendlich viele andere. Du könntest etwas verändern! Wenn du nichts tust, hast du genauso viel Blut an deinen Fingern kleben, wie die Wissensjäger es haben werden, Caeden!«

»Das ist nicht gerecht«, wisperte er abgehackt und erhob sich ebenfalls. »Du kannst mir nicht die Verantwortung für Tausende Menschen auf die Schultern laden, nur weil ich stark bin!«

»Aber so ist es. Mit Macht kommt Verantwortung. Die Königsfamilie entzieht sich ihrer Verantwortung – und wenn wir dasselbe tun, was unterscheidet uns dann von ihr? Die Wissensjäger wollen Gerechtigkeit durch Vergeltung erzwingen. Aber sie können kein neues, gerechtes Land erschaffen, wenn sie Blut mit Blut heimzahlen! Gerechtigkeit muss neutral sein, oder nicht? Gerechtigkeit muss … ehrenwert sein.«

Caeden schnaubte verächtlich. »Ehrenwert? Fawn, vergisst du, wer du bist? Du bist eine verdammte Lügendiebin! Du stiehlst von den Reichen, um dir selbst zu geben. Du belauschst ihre tiefsten Geheimnisse, um sie damit zu erpressen. Und auf einmal sprichst du von Ehrgefühl?«

»Dinge ändern sich«, sagte ich leise und meine Wangen wurden heiß. »Menschen ändern sich. Situationen ändern sich. Ich bin nicht mehr … ich denke nicht mehr so wie noch vor drei Wochen. Es ist zu viel passiert. Zu viel hängt von mir ab. Von uns ab. Ich will auch etwas ändern. Nein, ich will alles ändern. Aber ich will es richtig machen.«

»Es gibt kein universelles Richtig, Fawn.«

»Doch«, widersprach ich hart. »Je weniger Menschen sterben müssen, desto richtiger wird es. Ich bin es leid, dass willkürlich Leute verschwinden und umgebracht werden.«

»Mit dieser Einstellung wirst du nicht weit kommen«, murmelte Caeden und lächelte auf einmal traurig. »Wenn du niemanden verletzen und jeden einzelnen Magier erst einmal kennenlernen willst, bevor du entscheidest, ob er gut oder schlecht ist … wirst du als Erste draufgehen.«

»Ja. Vielleicht. Aber dafür mit reinem Gewissen.«

Caeden seufzte schwer und rieb sich mit der Hand über die geschlossenen Augen. »Ich wünschte, du würdest nicht so reden«, murmelte er. Seine Stimme auf einmal erschöpft.

»Wie reden?«

»Als könntest du Leichtsinn und Mut nicht unterscheiden.«

»Manchmal sind die beiden ein und dasselbe.«

Er lachte trocken, öffnete den Mund … doch kam nicht mehr dazu, mir zu widersprechen.