KAPITEL 13

Mein Puls beruhigte sich erst, als wir die schwarzen Massen aus Stein und Erz emporgeklettert und keine zweihundert Fuß mehr von dem Loch entfernt waren, das ich vor ein paar Mondschritten in den Berg geschmolzen hatte.

Es war noch immer tiefste Nacht. Die Morgendämmerung würde erst in drei Mondschritten eintreten und die Sternsplitter am Himmel glitzerten ruhig und still, als wäre nichts passiert. Robyn und ich schwiegen seit geraumer Zeit. Zu erschöpft, zu nachdenklich, um Worte auszutauschen. Ich wusste, dass es die gesammelte Lüge meiner Mutter sein sollte, die mir im Kopf herumgeisterte. Aber stattdessen waren es Lord Legg und sein Sohn, die Hände hoch in die Luft gestreckt, die sich in meine Gedanken gebrannt hatten. Die hastigen unverständlichen Worte, die über ihre Lippen gedrungen waren. Was genau hatten sie getan?

Nein, das war die falsche Frage. Ich ahnte bereits, was sie getan hatten. Traute mich jedoch nicht, das Wort wusste in den Mund zu nehmen. Denn was genau konnte ich schon wissen? Alles, was ich in den vergangenen Tagen und Wochen gelernt hatte, war, dass ich nichts wusste. Dass nichts sicher war. Und es war eines der schrecklichsten Gefühle, die ich je gehabt hatte.

Lügen sind die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft unseres Landes, Fawn. Wenn man nicht lernt, Lüge und Realität zu unterscheiden, wird man blind durchs Leben laufen.

Das war es, was meine Mutter einst zu mir gesagt hatte. Und erst jetzt verstand ich die Bedeutung und die Ausmaße ihrer Worte. Denn Lüge war nicht gleich Lüge. Realität erst recht nicht gleich Realität.

»Die Wissensjäger haben ihr Hauptquartier in den … Minen?«, fragte Robyn zögerlich und riss mich somit aus den Gedanken. Ich blickte auf und nickte lediglich. Die Hände ineinander verschränkt, mein Hals noch immer eng und von Angst und Tränen verklebt, die ich heute Nacht nicht zugelassen hatte.

»Das ist genial«, bemerkte sie verblüfft. »Niemand würde auf die Idee kommen, Verbrecher an dem Ort zu suchen, an dem sie landen würden, wenn man sie erwischt.«

Ich lächelte müde, konnte mich jedoch nicht ganz so sehr für die Genialität der Wissensjäger begeistern wie sie. Stattdessen fragte ich mich, ob ihnen aufgefallen war, dass ich mich nicht in meinem Bett befand. Ob sie bereits nach mir suchten. Als hätte Robyn meine Gedanken gelesen, wollte sie leise wissen: »Was willst du ihnen erzählen? Dass du ins Schloss eingebrochen bist? Erwischt wurdest? Willst du ihnen anvertrauen, was du herausgefunden hast?«

Aber was genau hatte ich herausgefunden? Was davon würden sie mir überhaupt glauben? Dass die Prinzessin nicht tot war? Dass die Wand nicht nur Mentanos Schutz diente? Dass die Angriffe, die täglich und jede Nacht auf die Kuppel hinabregneten, womöglich gar nicht echt waren? Und würde es überhaupt etwas ändern? Würde es sie überhaupt daran hindern, ihren Plan durchzuführen?

Sie waren so erpicht darauf, endlich Fortschritte zu machen, dass es ihnen vermutlich egal war, was für gute Argumente ich dagegen anbringen konnte.

»Was würdest du an meiner Stelle tun?«, erwiderte ich nach einer Weile monoton. Denn ich würde diese Entscheidung so gerne abgeben.

Unbehaglich zog Robyn die Schultern hoch. »Ich weiß es nicht. Wie ich bereits sagte … Wissen ist Macht, Fawn. Wissen sollte nicht einfach verschenkt werden. Ich meine, wie gut kennst du sie wirklich? Die Leute, mit denen du die letzte Woche verbracht hast?«

Ich schluckte und senkte den Blick auf den Boden. Die Wahrheit war, dass ich keine gute Antwort auf ihre Frage hatte. Ich war schon so oft davor gewarnt worden, mein Vertrauen in die falschen Leute zu setzen. Und wenn die Wissensjäger die falschen waren, dann könnte es katastrophale Ausmaße haben, falls ich ihnen davon berichtete, was ich gesehen hatte. Es würde sie wahrscheinlich nur darin anfachen, eine gewaltsame Rebellion loszutreten. Und was, wenn ich falschlag? Wenn meine Augen mir einen Streich gespielt hatten?

»Was denkst du, was die Leggs auf dem Königshof getan haben?«, murmelte ich und warf meiner Freundin einen hastigen Seitenblick zu. »Du hast es nicht gesehen, oder?«

»Was habe ich nicht gesehen?«, fragte Robyn irritiert, die Augenbrauen zusammengezogen.

Ich leckte mir über die trockenen Lippen, wollte antworten, wollte zumindest mit einer Person teilen, was ich vermutete, beobachtet zu haben, doch in diesem Moment zog ein fahles Glimmen meine Aufmerksamkeit auf sich. Abrupt blieb ich stehen. Es drang aus dem Loch, das ich selbst erschaffen hatte. Die Kerzen, die ich dort hatte brennen lassen, hätten mittlerweile längst erloschen sein müssen. Was bedeutete … jemand wartete in meinem Zimmer auf mich.

Zögerlich rang ich die Hände und neue Unsicherheit überkam mich. »Robyn, sie werden nicht glücklich darüber sein, dass ich dich mitgebracht habe.«

Trotzig hob meine Freundin die Augenbrauen. »Nun, das ist ihr Pech. Jetzt bin ich nun einmal hier.«

Ich nickte, denn sie hatte recht. Wer immer uns da unten empfangen würde, musste damit zurechtkommen, dass ich nicht allein war. Tief atmete ich durch, bevor ich die letzten Schritte auf meinen selbst erschaffenen Eingang zumachte und Robyn voran die in Stein geschlagene Treppe hinabstieg.

Ich nahm vereinzelte Kiesel und Staub auf meinem Abstieg mit, doch mein Blick galt einzig und allein der einsamen Gestalt, die in meinem Zimmer stand. Einen dunklen Umhang um die Schultern geschlungen.

Sie stand mit dem Rücken zu mir, die Hände in den Taschen vergraben, den Blick auf die Glasscherben der zerbrochenen Vase gerichtet. Sie kam mir bekannt vor. Die Haltung, die Kopfneigung …

Sie musste unsere Schritte gehört haben, denn im nächsten Augenblick wandte sie sich um und sah mir mitten ins Gesicht.

»Du hast keine Ahnung, wie schön es ist, dich wiederzusehen, Fawn«, murmelte sie dunkel und ein breites Lächeln leuchtete mir entgegen.

Die heruntergeschluckten Tränen der letzten Mondschritte brannten sich einen Weg meinen Hals hinauf zu meinen Augen und eine vertraute selige Wärme flutete meine Brust. »Crow?«, hauchte ich ungläubig und presste die Hände auf mein erneut wild schlagendes Herz. »Was tust du hier?«

»Nun, ich habe den Wissensjägern zu verstehen gegeben, dass ich erst eine Zusammenarbeit mit ihnen in Betracht ziehen werde, wenn ich dich heil und in ganzen Stücken vor mir stehen sehe«, bemerkte er.

»Was? Zusammenarbeit?«, fragte ich irritiert.

»Ja. Ihr braucht wohl unsere Hilfe. Da du jedoch ausgeflogen warst, hat der äußerst erzürnte Nuthatch eingewilligt, mich hier auf dich warten zu lassen.« Crow runzelte die Stirn. »Er hatte Schwierigkeiten damit nachzuvollziehen, dass ich dich vermisst habe. Dennoch scheint er mir geglaubt zu haben und davon überzeugt zu sein, dass ich nicht vorhabe, dir etwas anzutun.« Seine schwarzen Augen funkelten amüsiert. »Schön zu wissen, dass du ihn dir zum Freund gemacht hast. Er scheint dich nur noch halb so sehr zu hassen wie vor ein paar Monaten. Ich bin sehr stolz auf dich, Fawn.«

»Das ist Crow?«, fragte Robyn leise hinter meinem Rücken, doch ich hörte sie gar nicht mehr. Ich war bereits die letzten Stufen hinabgesprungen und dem Anführer der Dunkeldiebe in die Arme gefallen. Crows Hände strichen behutsam über meinen Rücken, seine Wange an meinen Kopf gepresst … und es fühlte sich an, als hätte ich einen Teil meines Zuhauses wiederbekommen.

Crow war die letzten Friedensjahre über zusammen mit Finch und Cora die einzige Konstante in meinem Leben gewesen. Auf ihn hatte ich mich immer verlassen können. Er hatte mich verteidigt und beschützt und es tat gut, ihn endlich wiederzuhaben.

»Du hast mich gefunden«, wisperte ich mit belegter Stimme und kniff die Augen zusammen. »Ich war mir nicht einmal sicher, ob du mich überhaupt suchst. Ich dachte, du hättest mich vielleicht schon … aufgegeben.«

»Nun, ehrlich gesagt, hat vielmehr Nuthatch entschieden, dass er mich braucht. Ich hätte dich nicht allein gefunden. Das Versteck hier ist äußerst beeindruckend. Aber ich hab dir doch gesagt, dass wir deine Familie sind«, flüsterte er und fuhr mir sanft über die Haare. »Die Familie lässt man nicht im Stich. Und ich habe deiner Mutter schließlich versprochen, auf dich aufzupassen.«

Ich nickte und wischte fahrig die vereinzelten Tränen weg, die sich meine Wangen hinabgestohlen hatten. Ich musste mehrfach schlucken, bevor ich mich zusammenreißen konnte und wieder einen Schritt zurücktrat. Crow war nicht mein Vater, doch die letzten fünf Friedensjahre war er verdammt nah dran gekommen. »Nuthatch braucht dich?«, fragte ich verwirrt. »Mir hat er gesagt, dass man den Dunkeldieben nicht trauen könnte.«

»Ja, das mag für einige stimmen. Ich selbst weiß nicht mehr, wer auf meiner Seite steht. Aber Nuthatch scheint der Auffassung zu sein, dass er dieses Risiko in Kauf nehmen muss, um seine Wünsche durchzusetzen. Was immer die auch sein mögen.« Erwartungsvoll hob er eine Augenbraue, als hätte er gerne von mir eine Erklärung. Doch die würde ich ihm nicht geben. Seinen bescheuerten Plan sollte Nuthatch mal schön selbst vorstellen. Ich rieb mir über die Augen und nickte lediglich. Dann trat ich beiseite und streckte den Arm aus. »Das hier ist Robyn, sie ist …«

»Ja, wer sie ist, wüsste ich auch gerne!«, dröhnte eine wütende Stimme aus Richtung der Tür.

Nuthatch stand im Rahmen. Die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt, den düsteren Blick auf meine Freundin gerichtet. »Du bist eine Gefahr für dich selbst und für uns, Fawn«, knurrte er. »Wo in Swefts beschissenem Namen warst du? Und wer hat dir erlaubt, eine Fremde mit in unsere Reihen zu bringen?«

Ich malmte mit dem Kiefer und sah ihn feindselig an. »Sie ist keine Fremde. Sie ist eine Freundin. Du kennst sie.«

Nuthatch verengte die Augen und durchleuchtete Robyn mit seinem Blick. »Bist du das Mädchen, dass Rogue schon einmal teures Besteck verkauft hat?«

Robyn nickte nur knapp.

»Schön. Dennoch hat sie hier nichts verloren.«

»Sie musste mitkommen«, beharrte ich. »Sie haben ihr Gesicht gesehen. Sie kennen sie. Hätte ich sie nach Hause geschickt, wäre das ihr Todesurteil gewesen.«

»Wer hat ihr Gesicht gesehen?«, fragte der Anführer der Wissensjäger scharf. »Wer kennt sie? Wo wart ihr? Was habt ihr getan?«

Ich biss die Zähne aufeinander. »Du weißt doch ganz genau, wo ich war«, stellte ich schließlich tonlos fest.

Nuthatchs Kopf lief dunkelrot an. »Wenn du mir jetzt erzählen willst, dass du ins Schloss eingebrochen und lebend wieder herausgekommen bist, muss ich anfangen zu hinterfragen, ob du nicht doch eine königliche Spionin bist!«

»Dann schweige ich lieber«, erwiderte ich selbstzufrieden.

Fassungslos öffnete Crow den Mund und Nuthatch sah nicht minder erschrocken aus.

»Du lügst.« Die zwei Worte drängten mit so viel Bestimmtheit über Nuthatchs Lippen, dass ich nicht einmal versuchte, ihm zu widersprechen. Ich wollte ihm ohnehin nicht erzählen, was ich herausgefunden hatte. Nicht, bevor ich mir sicher war, was es bedeutete.

Also neigte ich nur den Kopf und lächelte ihn süßlich an. »Wieso brauchst du auf einmal Hilfe?«, fragte ich im Plauderton. »Du hattest doch nie vor, die Dunkeldiebe einzuweihen.«

»Jetzt, da Caeden und Jyn nicht beim Plan mitmachen, brauchen unsere Truppen Verstärkung. Die Dunkeldiebe sind unsere einzige Möglichkeit.«

»Die Möglichkeit wofür?«, wollte Crow in ruhigem Ton wissen, doch sein Blick war aufmerksam und scharf.

»Dazu kommen wir jetzt. Doch dafür brauchen wir kein Publikum.« Er sah vielsagend zu Robyn. »Das besprechen wir lieber unter vier Augen.« Sein nächster wütender Blick galt allein meiner glücklichen Person. »Dieses Gespräch ist noch nicht beendet, Fawn«, warnte er mich düster. »Ich will wissen, wo du warst. Was du getan und was du herausgefunden hast. Und du schuldest mir noch immer eine Entscheidung. Aber dafür habe ich jetzt keine Zeit.« Er wandte sich an Crow. »Du hast sie gesehen. Sie lebt. Ihr geht es gut. Jetzt wird es Zeit, dass du deinen Teil der Abmachung einhältst und mich erzählen lässt, was wir vorhaben. Sonst kommen wir zu spät zur Versammlung der Dunkeldiebe.«

»Eine Versammlung der Dunkeldiebe?«, wollte ich verwirrt wissen. »Eine Versammlung weswegen?«

»Das geht dich nichts an«, sagte Nuthatch abgehackt. Dann winkte er ruckartig Crow, bevor er an Robyn gewandt hinzufügte: »Du kommst auch mit.«

»Sie wird nicht mitkommen!«, rief ich ungläubig.

Nuthatch verdrehte die Augen. »Ich will sie nicht umbringen. Ich bringe sie zu Syla, Fawn. Das Mädchen braucht eine Heilerin. Sie blutet den Boden voll.«

Überrascht blickte ich zu Robyn, deren weiße Bluse tatsächlich bereits scharlachrot war und an ihrer Haut klebte. Ich schluckte schwer. Das war meine Schuld. Jede einzelne Schramme lastete auf meinem Gewissen.

»Ist das okay?«, fragte ich leise. »Ich kann dich auch begleiten.«

»Du wirst nichts dergleichen tun!«, donnerte Nuthatch. »Du bleibst genau hier stehen, bis ich mit Crow fertig bin. Dann werden wir beide reden.«

»Ist schon in Ordnung«, murmelte Robyn und lächelte mir aufmunternd zu. »Ich komme zurecht. Meine Kratzer sollten wirklich desinfiziert und verbunden werden.«

Ich schluckte, nickte jedoch. »Syla ist sehr freundlich. Du bist bei ihr in guten Händen.«

Robyn lächelte erneut, diesmal jedoch etwas abwesend. Ihr Blick klebte an Nuthatch und ich konnte es ihr nicht einmal verdenken. Man gewöhnte sich nur sehr schwer an sein Gesicht und sie hatte ihn erst einmal gesehen. Der Anführer der Wissensjäger trat nach draußen, hielt Robyn die Tür auf und wartete mit hochgezogenen Brauen auf Crow. Doch weder Robyn noch der Dunkeldieb bewegten sich. Stattdessen zog Crow mich erneut in eine Umarmung. »Das Treffen findet kurz vor Morgengrauen im Hause der Treggs statt«, flüsterte er nah an meinem Ohr. »Du bist nicht seine Gefangene, Fawn. Du hast das Recht, jeder Versammlung beizuwohnen, die du für wichtig erachtest. Außerdem muss ich mit dir reden. Zu zweit. Es gibt etwas, das ich dir schon vor langer Zeit hätte erzählen sollen.«

Keinen Atemzug später ließ er mich los und verschwand hinter Nuthatch. Robyn blickte noch ein letztes Mal unsicher zu mir – vermutlich hatte sie gehört, was Crow mir zugeflüstert hatte –, dann folgte sie den beiden. Die Tür fiel mit einem zufriedenstellenden Krachen ins Schloss … und ich war allein.

Blinzelnd starrte ich auf das Holz, hinter dem sie gerade alle verschwunden waren. Crow musste mir etwas erzählen? Was?

Zitternd schloss ich die Augen, sog Luft durch die Nase ein und stieß sie durch den Mund wieder aus. Als ich die Augen wieder öffnete, fiel mein Blick auf den Wasserkrug neben meinem Bett. Hastig durchquerte ich das Zimmer und leerte ihn in gierigen Zügen. Die großen Schlucke setzten meine Speiseröhre in Brand, doch mein Durst war stärker als der Schmerz.

Ich wischte mir mit dem Handrücken über den Mund, ließ mich auf die Strohmatratze sinken und meine Beine bedankten sich mit einem wohligen Gefühl der Erleichterung. Die Erschöpfung, die ich die letzten Mondschritte über zwanghaft verdrängt hatte, flutete meinen Körper und ließ meine Glieder schwer werden. Auch wenn die Müdigkeit nur noch halb so schlimm war wie nach dem Moment, als ich die halbe Bibliothek hatte zusammenbrechen lassen. Meine Energiereserven – oder vielleicht waren es auch meine Magiereserven – luden sich schneller auf, als ich gedacht hatte. Was gut war, wenn ich in wenigen Mondschritten auch noch an einer Besprechung der Dunkeldiebe teilnehmen wollte.

Ich lachte trocken auf und rieb mir über das müde Gesicht. Ich war so unendlich verwirrt. Ich wusste nicht, ob ich meinen Sinnen noch trauen konnte. Ob ich den Lügen meiner Mutter, den Lügen des Königshauses nicht schon zu tief verfallen war, um sie von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Neue Lügen aufgedeckt zu haben, kam mir nicht mehr wie ein Triumph vor. Es bedeutete nur, dass ich weiter von der Wahrheit entfernt war, als bisher angenommen.

Die Wahrheit. Die Wahrheit von was? Meine Wahrheit? Mentanos Wahrheit? Gab es überhaupt die eine Wahrheit? Dichteten wir uns nicht alle unsere eigene zusammen und überzeugten uns davon, dass es die richtige war? Dass wir die Klugen und alle anderen die Dummen waren?

Seufzend rieb ich mir übers Gesicht. Warum hatte meine Mutter mir keine Anleitung hinterlassen?

So bringen sie das Königshaus Schritt für Schritt zu Fall – nach einer Idee von Lyn Tresten.

Ich wollte mich gerade erschöpft in die Kissen zurücklehnen, zumindest etwas meine Augen ausruhen, als ich schwere Schritte auf dem Gang wahrnahm. Es hörte sich an, als wolle jemand Löcher in den Boden stampfen. Stirnrunzelnd richtete ich mich wieder auf. Ich hatte eine vage Vermutung, wer da kam. So eine charmante Gangart konnte nur zu …

Die Tür flog auf und schlug mit einem Krachen gegen die dahinter liegende Steinwand. Ich zuckte zusammen und sprang wie automatisch auf die Füße. Caeden stand im Rahmen. Und ausnahmsweise sah er nicht aus wie eine Steinwand. Er sah aus wie Kohle, die in Brand gesetzt worden war. Sein sonst so emotionsloses Gesicht hatte jegliche Kontrolle verloren. Seine schwarzen Haare standen zu allen Seiten von seinem Kopf ab. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. In seinen grauen Iriden spiegelten sich Flammen aus Schatten und Feuer wider.

Mein Herz stolperte in meiner Brust und schlug dann in dreifacher Geschwindigkeit. Es war eine Erleichterung, ihn zu sehen. Die Last, die auf meinen Schultern lag, verlor sofort an Gewicht. Die Kälte in meiner Brust wurde wärmer. Der Gedankensturm in meinem Kopf ruhiger. Doch gleichzeitig wollte ich instinktiv vor seinem zornigen Blick zurückweichen. Aber das Bett in meinen Kniekehlen hinderte mich daran.

»Du bist in den verdammten Palast eingebrochen?«, schrie er mich an und schlug die Tür so heftig wieder ins Schloss, dass die Laterne über unseren Köpfen wackelte.

Ich streckte die Schultern durch und sah ihn kühl an. Erschuf Kälte gegen seine Hitze. »Nein, nicht wenn man Nuthatch fragt«, erwiderte ich gespielt gelassen.

»Ich frage aber nicht Nuthatch, ich frage dich!«, rief er zornig und trat mit verengten Augen auf mich zu. »Scheiße, ich wusste, dass du etwas Dummes tun würdest! Ich habe diesen Blick in deinen Augen gesehen und … und wusste es.« Er fuhr sich mit beiden Händen in die Haare und schüttelte immer wieder den Kopf. »Ist dir klar, dass ich die halbe Nacht den verdammten Minenausgang überwacht habe? Dass ich mondschrittelang auf einem kalten harten Felsblock saß und auf ein Loch im Berg gestarrt habe, weil ich Angst hatte, dass du etwas Leichtsinniges, Dummes tun würdest? Aber du kamst nicht, also dachte ich mir: Hey, Fawn wird vernünftig gewesen sein! Sie wird dazugelernt haben.« Er lachte trocken auf. »Aber nein. Stattdessen bist du … stattdessen hast du …«

»… meinen eigenen Ausgang erschaffen«, beendete ich seinen Satz und nickte zur steinernen Treppe. »Und du hättest den richtigen Ausgang wirklich nicht überwachen müssen.« Ich biss mir auf die Unterlippe und friemelte an meinem Hemdsaum herum. Die Vorstellung, dass er die letzten Mondschritte lang in der Kälte gesessen hatte, um … um mich abzufangen …

Was zur Hölle sollte ich mit dieser Information anfangen?! Ich wusste es nicht und trotzdem brachte der Gedanke mein Herz zum Flattern. Meine Lippen zum Zittern.

Ich räusperte mich und wich seinem Blick aus. Seinem viel zu intensiven Blick. »Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, wo der richtige Ausgang ist«, gab ich schließlich zu.

»Das kann ich sehen!«, fuhr er mich an und machte eine rüde Geste zum Loch in der Decke hin.

Ich seufzte schwer und zwang mein Kinn nach oben. »Wieso bist du so sauer, Caeden?«

»Wieso bin ich … was?« Ungläubig riss er die Augen auf, bevor er mich an den Schultern packte und schüttelte. »Was stimmt nicht mit dir? Wieso kannst du nicht besser auf dich aufpassen? Warum …?«

»Mir ist nichts passiert, Caeden!«, unterbrach ich ihn wütend und versuchte, seine Hände abzustreifen. Doch seine Finger gruben sich nur fester in mein Fleisch.

»Aber dir hätte etwas passieren können!«, rief er und bei jedem seiner Worte wurde seine Stimme lauter. »Du hättest gefasst werden können – und niemand hätte dir helfen können, weil niemand wusste, wo du bist!«

»Caeden!«, erwiderte ich hitzig. »Mir geht es schon bescheiden genug, ohne von dir derartig angefahren zu werden. Du kannst auch in normaler Stimmlautstärke mit mir reden.«

»Nein, kann ich nicht! Denn du ignorierst meine Worte, wenn ich es tue.«

»Ach komm.« Verärgert sah ich ihn an. »Ich ignoriere ständig Worte, egal, wie laut oder leise sie ausgesprochen werden!«

»Fawn!« In seine Stimme mischte sich kalte Verzweiflung, die mein Herz überraschend schmerzhaft zusammenzucken ließ.

So hatte er noch nie mit mir gesprochen. Seine Stimme hatte sich noch nie so rau angehört. Noch nie so unkontrolliert. Es war, als stünde ein anderer Mensch vor mir.

Und auf einmal wurden seine Hände weicher. Seine Augen heller. Mit dem Zeigefinger strich er zitternd über den schnell schlagenden Puls an meinem Hals, bevor er tief ein- und ausatmete. »Das ist nicht witzig«, wisperte er eindringlich. »Du kannst nicht einfach …« Er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht allein. Nicht ohne mich! Hast du verstanden?«

Meine Haut kribbelte dort, wo er mich berührte, und meine Handflächen wurden feucht. Mein Atem unruhig. »Was hätte ich denn tun sollen, Caeden?«, erwiderte ich leise. »Ich konnte nicht einfach still sitzen bleiben, während die Wissensjäger einen blutigen Kampf lostreten wollen! Ich versuche, das Richtige zu tun! Ich versuche, ein guter Mensch zu sein.«

»Kannst du nicht einfach versuchen, ein lebendiger Mensch zu sein?«, stieß er frustriert aus, neue Wut in seiner Stimme. »Das ist in Mentano schon anstrengend genug! Bei Sweft, ist dir überhaupt klar, wie viele Menschen da draußen dich tot sehen wollen? Es ist, als hättest du einen Todeswunsch! Als wäre dir vollkommen egal, was mit dir passiert. Wie kannst du so dumm sein, Fawn?«

So dumm? Die Worte hallten in meinem Kopf wider und brachten mein Blut in Wallung.

»Na und?«, erwiderte ich angespannt und stemmte die Hände gegen seine Brust, um ihn von mir wegzustoßen. Doch er war wie eine unbezwingbare Marmorstatue. »Es ist mein Leben. Meine Entscheidung. Und es kann dir doch egal sein, was mit mir passiert!«

»Aber das ist es nicht!«, brüllte er und erschrocken zuckte ich zusammen. »Ich wünschte, es wäre so, aber ich kann nicht nichts fühlen!«

Mit offenem Mund sah ich ihn an. »Was?«

Abrupt ließ er mich los, sodass ich taumelte. Im nächsten Moment fuhr er sich hitzig durch die Haare und lief rastlos im Raum auf und ab. »Ich habe dir gesagt, dass du gehen sollst. Damals. Ich habe alles dafür getan, dass du verschwindest! Ich konnte dich nicht in meinem Leben gebrauchen. Ich habe dich angesehen und wusste, dass du Probleme machen würdest. Ich wusste, dass es eine furchtbare Idee wäre, dich in unser … in mein Leben zu lassen. Ich konnte es mir nicht leisten, mir auch noch Sorgen um … um eine verdammte Lügendiebin mit großen Augen und scharfer Zunge zu machen! Aber du musstest dich ja bei uns einnisten und … du sein!« Er stieß das Wort aus, als würde es Hochverrat bedeuten. »Beim gottverdammten König, die letzten Mondschritte waren die reinste Tortur. Denn du bist zu waghalsig. Zu laut. Zu dickköpfig. Du bist nicht die richtige Person, um … Ich wollte nicht … Du solltest nicht …«

»Oh, nein!«, fuhr ich ihm zornig dazwischen und diesmal war ich es, die ihn an den Schultern packte und zum Stillstand zwang. »Hör auf damit! Hör auf, so zu tun, als wäre es meine Schuld! Als wäre ich es, die sich falsch verhält. Ich verstehe dich nicht, Caeden!« Verzweifelt sah ich in sein Gesicht, suchte all die Antworten, die er seit Wochen für sich behielt. »Was ist los mit dir? Du kannst nicht in einem Moment so tun, als würdest du mich hassen, und im nächsten behaupten, dass du dir Sorgen gemacht hast. Das funktioniert so nicht!« Verärgert starrte ich in seine Augen. Die grauen Augen, die sich mit jedem meiner Worte weiter zu verdunkeln schienen. »Das ist scheiße, Caeden. Ich könnte hier wirklich einen Freund gebrauchen. Jemanden, der versteht, wie es ist, in meiner Haut zu stecken!«

Er schüttelte steif den Kopf. Sah mir in die Augen und ließ den Blick tiefer wandern. »Ich kann nicht dein Freund sein.«

»Aber warum nicht?« Zornig ließ ich ihn los und funkelte ihn an. »Warum willst du mich nicht mögen, warum wehrst du dich so dagegen, dass – «

Ich kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn er küsste mich. In einem Moment stand er noch drei Fuß von mir entfernt, im nächsten fuhr er mit den Händen in meine Haare, zog mich auf die Zehenspitzen und senkte seine Lippen auf meine.

Es war kein sanfter Kuss. Kein freundlicher, zärtlicher Kuss, der um Vergebung bat. Es war ein Kuss aus Schatten und Wut. Licht und Verlangen. Verzweiflung und Hitze. Ein Kuss, der eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper ausbrechen ließ.

Ich spürte ihn überall. Er fing in meinen Zehenspitzen an, schwappte warm durch meine Adern, stieg mir zu Kopf, ließ mich schwindelig werden. Also sank ich nach vorn, gegen Caedens Brust, schloss die Augen … und erwiderte ihn.

Ließ mich fallen, weil ich wusste, dass er mich auffangen würde. Ließ mich fallen, weil mir plötzlich bewusst wurde, dass mein Körper nur auf diesen Kuss gewartet hatte. Caedens Daumen lagen unter meinem Kinn, hoben es sacht nach oben, während ich die Arme um seinen Hals schlang. Meine Gedanken standen still. Ich vergaß zu atmen. Wollte auch gar nicht atmen, wenn es bedeutete, dass ich weniger fühlte. Ich war sofort süchtig nach seiner Nähe. Nach seiner Berührung. Nach diesem Moment, in dem ich alles vergessen konnte. All meine Probleme, all meine Sorgen.

Denn alles trat in den Hintergrund. Alle Lügen verblassten – und die Wahrheit war Caedens Gesicht. Caedens Hand in meinem Nacken. Caedens Hand an meiner Taille. Caedens Lippen auf meinen.

Und als er sich Dutzende Herzschläge später von mir löste – oder waren es Dutzende Friedensjahre später? –, sah ich die Hitze, die durch meine Adern strömte, sich tausendfach in seinen Augen widerspiegeln. »Mach das nicht noch einmal«, wisperte er abgehackt und strich mit zitterndem Daumen über meine Wange. »Einfach so zu gehen, ohne mir Bescheid zu sagen. Du hättest mir erzählen müssen, was du vorhast!«

Ungläubig weitete ich die Augen. War das sein Ernst?

»Aber ich soll doch niemandem trauen!«, erwiderte ich zornig. »Dir schon gar nicht. Das ist es doch, was mir alle immer wieder zu verstehen geben. Was du mir zu verstehen gibst. Warum hätte ich dann also mit dir sprechen sollen? Und mich zu küssen, ist ganz sicher keine anständige Erklärung für dein Verhalten! Du kannst nicht …«

Er küsste mich erneut. Zog mich enger an seinen Körper. Umgab mich mit seiner Wärme, die ich mehr zu brauchen schien als alles andere … die mich vergessen ließ …

Nein! Oh, nein. Das war nicht gerecht von ihm. Verärgert löste ich mich von ihm und schlug sanft – aber bestimmt – mit der Faust gegen seine Brust.

»Nein! Das hier ist lächerlich. So einfach kommst du mir nicht davon. Du hast mich angelogen! Du hast mir verschwiegen, dass du es warst, der mich aus der Kutsche hat retten lassen!«

Irritiert zog er die Brauen zusammen. »Na und? Du hattest doch ohnehin schon entschieden, was für ein Mensch ich bin.«

»Aber du hättest mir die Möglichkeit geben können, mich umzuentscheiden!«

»Ich gebe sie dir jetzt«, wisperte er, küsste meinen Nacken und die Stelle hinter meinem Ohr. »Ich habe ohnehin aufgegeben. Zu versuchen, dich nicht zu mögen, war Schwachsinn. Dich dazu zu bringen, mich nicht zu mögen, noch viel blödsinniger. Ich habe den Kampf doch schon vor Wochen verloren.«

»Aber warum?«, fragte ich verwirrt und sank mit den Fingerspitzen in seine Haare. »Warum wolltest du mich nicht mögen?«

Ich konnte ihn schlucken hören. »Weil es bedeutet, dass es noch eine weitere Person gibt, die ich verlieren kann, Fawn. Und ich weiß nicht, ob ich das ertragen kann. Vor allem, da du es dir in den Kopf gesetzt zu haben scheinst, dich umzubringen. Aber ich … ich hatte so beschissene Angst um dich. Und es ist besser, ein wenig Zeit miteinander zu haben als gar keine, oder?«

Er suchte mit seinem Blick mein Gesicht ab, wirkte auf einmal unsicher, so als bräuchte er meine Bestätigung … Also nickte ich.

Meine Augen brannten und meine Lippen bebten, doch immer wieder nickte ich. Denn natürlich war es besser. Jeder Moment mit ihm war besser als ein Sonnenschritt ohne ihn. Egal, wie oft ich mir etwas anderes eingeredet hatte. Egal, wie sehr er mich aufregte. Egal, wie dumm es von meinem Herzen war, für ihn zu schlagen. Es tat doch ohnehin, was es wollte.

Und ich verstand Caeden. Warum er gezögert hatte. Je inniger die Begrüßung, desto schmerzhafter der Abschied.

»Aber warum hast du dir dann auch noch solche Mühe gegeben, dass ich aufhöre, dich zu mögen?«, wisperte ich und zeichnete seine Wangenknochen nach.

Er hob einen Mundwinkel. »Ist es dir noch nicht aufgefallen, Fawn? Ich bin eine schlechte emotionale Investition und ich kann manchmal ein Arschloch sein. Ich bin zu kontrollierend. Zu besitzergreifend. Zu aufbrausend. Zu feige.«

Ich schluckte und schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht. Außer jetzt das mit dem Arschloch. Damit hast du natürlich recht.«

Caeden lachte trocken auf und schloss die Augen. »Das hier … Wir …« Er kratzte sich fahrig an der Stirn und deutete zwischen uns hin und her. »Es macht alles nur so viel komplizierter.«

Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. »Das glaube ich nicht«, flüsterte ich und musste trotz allem lachen. »Seien wir ehrlich, Caeden. Alles, was in den letzten Tagen passiert ist, was noch passieren wird … es kann nicht komplizierter werden. Unmöglich. Wir sind schon an der äußersten Grenze angekommen.«

Caeden erwiderte mein Lächeln, auch wenn es seine Augen nicht erreichte. Er ließ mich los und sofort vermisste ich seine Berührung. Denn womöglich hatte Robyn recht gehabt. Womöglich war ich ein wenig … verliebt. Ein wenig sehr. Wie unaufmerksam und unvorsichtig von mir.

»Ich war im Unrecht, Fawn. Okay?«, murmelte Caeden und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Ich vertraue dir. Und du kannst mir vertrauen. Du musst es sogar. Denn ich …« Er zögerte. »Ich kann nicht mit dir zusammen kämpfen, wenn du es nicht tust.«

Ich presste die Hände auf mein noch immer wild klopfendes Herz und sah ihn überrascht an. »Ich dachte, du willst nicht kämpfen.«

»Ja und ich wollte dich gerade auch nicht küssen – und sieh an, was daraus geworden ist«, erwiderte er trocken.

Mein Lächeln wurde breiter und meine Brust dehnte sich aus. Als habe sie nicht genug Platz für all die Emotionen, die auf mich einströmten. »Und da prahlst du gerade noch damit, wie kontrolliert du bist.«

Düster sah er mich an. »Beschwerst du dich darüber?«

»Oh, nein«, sagte ich hastig und hob die Hände. »Von mir aus kannst du gern öfter unkontrolliert sein. Und ich vertraue dir.«

Ich tat es wieder, seit ich seine Gefühle gespürt hatte. Seit ich die Lüge von seinen Lippen gelesen hatte, die er so sehr hatte wahr machen wollen.

»Gut«, sagte er knapp und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er sah auf den Boden, schob eine Glasscherbe mit dem Fuß zur Seite, blickte wieder in mein Gesicht, lächelte …

Und mein Herz wurde größer. Wuchs auf seine dreifache Größe an. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte ich mich nicht einsam. Zum ersten Mal hatte ich … Hoffnung. Allein konnte ich nichts bewegen, doch zusammen? Zusammen hatten wir vielleicht eine Chance.

»Also«, murmelte Caeden und rieb sich den Nacken. »Was ist dein Plan?«

Überrascht hob ich die Augenbrauen. »Plan?«

Er warf mir einen ironischen Blick zu. »Du hast etwas vor, Fawn. Wir beide wissen, dass wir die Wissensjäger ihr Vorhaben nicht umsetzen lassen können. Genauso, wie wir wissen, dass das Königshaus nicht länger freie Hand haben darf. Die Dinge, die im roten Ring passieren … Die Menschen, die sterben … Wir brauchen die Wahrheit.«

Ich nickte und strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Ich war wirklich im Schloss, Caeden. Ich habe die Bibliothek besucht.« Und zerstört.

Kopfschüttelnd und auch ein wenig fassungslos sah er mich an. »Unglaublich. Wie in Swefts Namen bist du da lebend wieder rausgekommen?«

»Glück. Magie. Durch die Arroganz meiner Gegner.«

»Also auf die übliche Art und Weise.«

Ich lächelte müde. »Richtig. Aber ich glaube, ich habe ein paar Wahrheiten gefunden.«

»Was für welche?«

»Nicht hier.« Mein Blick schweifte zur Tür, deren Holz viel zu dünn war. Dann sah ich zum Loch in der Decke. »Wir sollten gehen.«

»Gehen? Wohin?«

»Zur Versammlung der Dunkeldiebe. Nuthatch möchte sie für seine Zwecke rekrutieren. Ihn davon abzuhalten oder zumindest zu sehen, wie viele von ihnen sich auf seine Seite stellen, wäre ein guter erster Schritt, meinst du nicht?«

Er nickte knapp. »Gut. Aber dann sollten wir uns jetzt auf den Weg machen. Bevor Nuthatch zurückkommt – denn er wird dich nicht laufen lassen, bis du ihm genau erzählt hast, wo du warst, was du getan und was du herausgefunden hast.«

»Nein, vermutlich nicht.« Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ich war müde. Erschöpft von den Ereignissen der letzten Mondschritte. Doch was blieb mir schon für eine Wahl? Ich würde Robyn hier zurücklassen müssen. Sie mitzunehmen, würde sie nur größerer Gefahr aussetzen als nötig. Und wer wusste, wie lange Syla brauchen würde, um sie zu verarzten? Sie würde es verstehen.

Ich tastete nach dem Dolch an meiner Hüfte und straffte die Schultern. »Okay. Gehen wir.«

Bevor ich jedoch die erste Stufe nehmen konnte, griff Caeden nach meiner Hand. Er verschränkte die Finger mit meinen und drückte sie, bevor er mich zurückzog. »Fawn?« Er sah mir eindringlich in die Augen, strich über meine Wange und holte zitternd Luft. »Lass dich heute Nacht nicht umbringen, okay? Ich bin gerade erst zu Sinnen gekommen. Ich habe dich gerade erst bekommen. Ich werde dich nicht sofort wieder verlieren.«

Ich legte meine Hand auf seine. Ließ mein Gesicht in seine Berührung gleiten. Als hätte ich nie etwas anderes getan. Alles, was zwischen uns gestanden hatte, war verpufft. Jede Lüge unwichtig geworden. Jeder Streit vergessen. Nichts als unsere Gefühle füreinander waren übrig geblieben.

Ich lächelte. »Ich verspreche es.«