KAPITEL 15

Meine schweren Schritte hallten von den Wänden wider. Trafen so schnell auf den staubigen Boden auf, wie mein Herz gegen meine Rippen hämmerte. Die aufgehende Sonne erleuchtete den auffliegenden Dreck wie kostbare Rubine. Er wirbelte glitzernd in den vereinzelten Strahlen umher, die sich bereits über die grauen Dächer gekämpft hatten. Doch ich hatte keinen Blick für seine schlichte Schönheit. Ein roter Schleier vernebelte meine Sicht, meine Gedanken. Machte alles stumpf und hart und kalt. Ich rannte so schnell durch die engen Gassen, wie meine Füße mich trugen. Wenn Red Dove auf dem Weg zu den Minen war, wusste ich, wo sie langgehen würde. Ich konnte die Magie, die sie ausstrahlte, beinahe spüren.

Die rote und weiße Magie. Denn sie beherrschte beide. Ich wusste nicht, wie, ich wusste nicht, warum, doch sie tat es.

Ich schlitterte über den Boden, ignorierte meine brennende Lunge, trieb meine Beine weiter an. Der Ausgang, der aus dem grauen Ring zu den Minen führte, war nicht mehr weit. Wenn Red Dove bereits in den etlichen düsteren Gängen unter den Erzmassen verschwunden war, würde es schwerer sein, sie zu finden. Aber nicht unmöglich.

Ich hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als ich in der Ferne sah, wie ein roter Umhang um eine dreckige Ecke fegte. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, presste das Blut viel zu schnell durch meine Adern. Meine Glieder taten weh, jeder Atemzug fühlte sich an, als würde ich Nägel einsaugen. Dennoch rannte ich schneller. Ich konnte sie nicht entkommen lassen. Würde sie nicht entkommen lassen. Sie musste für ihre Taten zahlen. Das alles musste ein Ende finden.

Ich erreichte die Ecke, hinter der ich sie hatte verschwinden sehen, krallte mich mit den Fingern in der Hauswand fest, um sie schneller zu umrunden … und wurde von den Füßen gerissen.

Grelles Licht blendete mich. Heiße Magie traf mich auf Brust und Rücken. Ich verlor den Boden unter den Füßen. Flog in die Höhe. Mein Kopf wurde in den Nacken gezerrt. Meine Arme von Licht und Energie gefangen gehalten. Eng an meinem Körper fixiert. Die weiße Barriere, die mich umgab, fraß sich in meine Haut, durchdrang sie nicht, aber hielt mich an Ort und Stelle. Machte mich zu ihrer Gefangenen.

Ich hatte die Augen geschlossen, um nicht geblendet zu werden, und suchte fieberhaft nach meiner Magie. Ich musste mich befreien. Irgendwie. Doch meine Lippen waren versiegelt. Meine Hände unbrauchbar. Mein Körper geschwächt. Mein Kopf ein einziges Chaos. Ich konnte die rote Magie, die durch meine Adern floss, nicht einmal spüren. Alles, was ich wahrnahm, war die fremde weiße Energie, die mich beherrschte.

»Neugierde ist eine Tugend, Fawn … bis sie einen umbringt«, drang eine süßliche Stimme an mein Ohr. »Du solltest wirklich auf das hören, was deine Freunde dir erzählen. Denn sie haben recht.«

Kälte wusch über mich. Lähmte mich. Dieser Satz. Ich kannte ihn. Hatte ihn jetzt schon mehrfach gehört.

»Mach die Augen auf, Fawn«, forderte die süßliche Stimme und ich spürte, wie die heiße Magie auf meinem Gesicht nachließ. Wie sie meine Hände, Arme und Beine weiter in ihrer Macht hielt, aber mir die Möglichkeit gab, dem Befehl zu gehorchen.

Ich blinzelte. Wusste bereits, welches Gesicht ich sehen würde. Wer da keine drei Fuß von mir entfernt stehen würde. Doch das machte das freundliche Lächeln nicht weniger grässlich. Die schwarzen Augen nicht weniger unbarmherzig.

Entsetzen und Angst füllten jede Pore meines Körpers. Ich beherrschte Magie … Wie konnte ich so machtlos sein?

»Du siehst ein wenig verängstigt aus, Fawn«, stellte Red Dove fest. »Fast überrascht darüber, wie leicht es mir fällt, dich zu überwältigen. Aber ich nehme es nicht persönlich. Wir beide sind uns gar nicht so unähnlich. Werden ständig unterschätzt …«

»Du … du beherrschst weiße Magie? Wie kann das sein?«, stieß ich hervor. Die Worte drangen als gequetschtes Röcheln in die Nacht, doch ich wusste, dass Red Dove sie gehört hatte.

»Natürlich beherrsche ich weiße Magie.« Sie lächelte, lockerte ihre Barriere um meine Kehle. »Weißt du denn immer noch nicht, wer ich bin?«

»Doch. Ich weiß es«, spuckte ich aus. »Du bist eine elendige Lügnerin!«

»Lügnerin?« Sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Ich ziehe Betrügerin vor. Denn ich lüge nicht, ich führe nur hinters Licht.«

»Das stimmt nicht! Du hast gelogen.« Heiße Tränen brannten in meinen Augen. »Ich habe nie jemanden verraten. Weder die Dunkeldiebe noch die Wissensjäger.«

Red Dove neigte den Kopf von der einen auf die andere Seite. »Aber doch. Das hast du. Du hast mir alles erzählt … alles, was ich wissen musste.«

Sie hob ihre Hand. Quälend langsam zog sie sie durch die Luft. Ich erwartete Schmerz. Erwartete, dass sie ihre Magie verstärken, sie doch noch durch meine Haut brennen würde. Doch nichts dergleichen passierte. Stattdessen streckte sie ihren Zeigefinger aus und berührte sacht ihre eigene Stirn.

Die Haut blätterte von ihrem Gesicht wie billiger Lack von Holz. Mein entsetzter Schrei ging in der weißen Magie unter, die mich noch immer gefangen hielt, während ihre schwarzen Augen größer und heller, ihre Haare dunkler wurden, ihr Kinn schmaler.

Mein Mund öffnete sich, denn ich kannte das Gesicht, das vor meinen Augen entstand. Es hatte mir Dutzende Male im Wochenblatt entgegengelächelt.

Es war Prinzessin Alphia. Eine sehr lebendige Version ihrer selbst. Schwarze Haare. Runde Wangen. Helle braune Augen.

»In Anbetracht dessen, dass du dich gerade nicht bewegen kannst, werde ich davon absehen, dich darauf hinzuweisen, dass es sich gehört, sich vor einem Mitglied der königlichen Familie zu verbeugen«, flüsterte sie. »Aber ich habe die letzten Friedensjahre über so viel Zeit auf der Straße verbracht, dass mir solch Profanitäten ohnehin gar nicht mehr wichtig ist.«

»Du bist … Du bist nur …«

»Oh, nein. Ich bin nicht nur«, unterbrach sie mich schneidend. Selbst ihre Stimme auf einmal eine andere. Viel tiefer und hohler. »Ich bin noch so viel mehr als das. Habe ich dir nicht einmal gesagt, dass du nie alle Gesichter deiner Bekannten kennst? Und wenn ich ehrlich bin, fühlt es sich fast fremd an, mein eigentliches Gesicht zu tragen. Obwohl ich mich die letzten fünf Friedensjahre über doch an ein gänzlich anderes gewöhnt habe.«

Lächelnd rieb sich Red Dove über die Augenbrauen und zwei Atemzüge später wandelte sich ihr Gesicht erneut. Ihre Haare wurden heller, leuchteten wie Mondschein. Ihre Wangenknochen wurden höher, ihre Lippen voller, ihre Augen wurden blau … Bis mir Robyns vertrautes Gesicht entgegenstarrte. Mein Herz hörte auf zu schlagen. Ekel schwappte mir durch den Magen. Drängte sich meinen Hals hinauf.

Nein. Das konnte nicht sein. Sie tat nur so. Hatte sich ein Gesicht ausgesucht, das mich verletzen würde. Robyn beherrschte keine Magie. Sie könnte nicht … Sie war meine Freundin. Sie würde niemals …

»Nein«, keuchte ich. »Du … nein.«

»Doch, Fawn. Natürlich ich. Wer denn sonst?« Die mir so vertraute Stimme war ungeduldig und unnachgiebig. »Bei meinem Namen, du bist so lächerlich leichtgläubig. Du denkst, dass du jede Lüge durchschaust, und blickst deswegen nicht zweimal hin. Robyn, das arme Waisenmädchen aus dem weißen Ring, das rein zufällig in deine Arme läuft? In die Arme des Mädchens, das ihre Mutter auch gerade verloren hat? Die Tochter der wohl mächtigsten Roten Magierin, die Mentano je gesehen hat – mich ausgeschlossen? Was ist los mit dir?!« Ihre Stimme wandelte sich zu einem Zischen. »Natürlich habe ich dich ausgesucht. Deine Schwäche genutzt. Deine Beziehungen ausgebeutet. Dann bist du auch noch Crows Liebling, Lügendiebin für die Dunkeldiebe geworden … Ich konnte mein Glück kaum fassen! Du warst die perfekte Person für mein Vorhaben. Du hast mir geholfen, wo du nur konntest.«

»Nein«, würgte ich hervor und neue Tränen flossen meine Wangen hinab. »Du hast nicht … Du bist nicht …«

»Denk doch einmal nach, Fawn!«, unterbrach sie mich kalt. »Du bist nervig, aber nicht dumm. Denk. Nach. Wehr dich nicht gegen die Wahrheit … Wer war es, der deinen Brief nie an Crow weitergegeben hat? Der Finch eingeredet hat, dass du die Seiten wechselst? Die Dunkeldiebe sind so leicht nervös zu machen, wenn sie Angst davor haben, verraten zu werden. Natürlich, Crow war nicht so leicht zu überzeugen, sein absurdes Vertrauen hat meine Pläne verlangsamt. Aber dass du den Falcron-Jungen so mochtest, hat die Sache extrem für mich vereinfacht. Ich war es, die den Dunkeldieben von eurem Kuss erzählt hat. Ich war es, die dich dazu gebracht hat, in den roten Ring einzubrechen. Ich habe dir geschrieben, dass du Lord Hixton auf den Zahn fühlen solltest. Ich war es, die Trent gesagt hat, dass du im roten Ring warst. Ich habe ihm eingeflüstert, dass seine Familie in Gefahr ist. Ich hatte gehofft, dass die Wissensjäger dich befreien, mich zu ihrem Versteck führen würden … Doch sie waren ziemlich flink, das muss ich ihnen zugestehen. Und deine Magie war doch mächtiger als angenommen. Und dann stehst du eine Woche später bei Robyn – bei mir! – im Zimmer und bietest mir die optimale Möglichkeit, mein Versäumnis doch noch wiedergutzumachen. Meine Güte, Fawn, du hast mir alles, was ich wissen wollte, auf dem Silbertablett serviert!« Sie schnalzte mit der Zunge. »Und jetzt, da Crow nicht mehr ist, da die Wissensjäger nicht mehr sein werden und sich alle gegen dich gewendet haben, ist es ohnehin egal, dass du viel zu viel über Mentano herausgefunden hast. Deine Worte haben keine Bedeutung mehr! Womöglich müsste ich dich also nicht einmal mehr umbringen.« Zögerlich neigte sie den Kopf, während ihre Worte wie schwarzes Pech in mir wüteten. Die Wahrheit in mein Fleisch schnitt und mich von innen heraus verbrannte.

Sie war Robyn. Nein. Robyn war nicht Robyn. Robyn war Alphia. Robyn war Red Dove.

Wie konnte ich so blind gewesen sein? Sie war meine Freundin gewesen und ich hatte nicht gemerkt … hatte nicht verstanden … Meine Augen schwammen in Tränen und nahmen mir die Sicht.

Ich hatte sie verraten. Die Wissensjäger. Die Dunkeldiebe. Crow. Es war meine Schuld. Weil ich den falschen Leuten vertraut hatte. Und dieses Wissen fügte mir mehr Schmerzen zu, als es Red Dove je gekonnt hatte.

Sie hatte mir meine Mutter genommen. Sie hatte mir Crow genommen. Und jetzt hatte sie mir meine beste Freundin genommen.

»Warum? Warum tust du das?«, hauchte ich und meine Stimme ging fast im lauten Pulsieren der allumgebenden weißen Magie unter, während die Tränen unaufhörlich an meinen Wangen hinabperlten. »Wir waren Freundinnen. Ich habe dir alles gegeben. Mein Bett. Mein Essen. Ich hätte mein Leben für dich geopfert. Ich habe dir geholfen, wo ich nur konnte.«

»Das hast du«, bestätigte Robyn und neigte den Kopf, ihre klaren blauen Augen auf meinem Gesicht. »Und ich bin dir dankbar, Fawn. Wirklich. Ohne dich wäre ich nie so weit gekommen. Deshalb habe ich dich auch nicht getötet, verstehst du?« Sie seufzte schwer und senkte die Lider. »Im roten Ring. Danach. Im Schloss. Es war reine Sentimentalität. Ich dachte mir … sie war so nett zu mir. Sie ist etwas Besonderes. Die einzige Freundin, die ich je hatte. Ich habe dir eine Chance gegeben. Dafür, dass du mir eine gegeben hast.« Sie presste die Lippen zusammen und riss die Augen auf. »Aber du hast die Chance verwirkt, Fawn! Du konntest nicht aufhören, dich einzumischen. Nicht aufhören, Fragen zu stellen. Du musstest mir immer wieder in die Quere kommen. Und du wirst nicht damit aufhören.« Ihre Miene war nun fast bedauerlich. »Ich kann es in deinen Augen sehen. Die Wut und den Hass auf mich. Es tut mir leid, aber was bleibt mir für eine Wahl? Ich bin kein Monster, aber du stehst mir im Weg. Also beenden wir das jetzt.«

Die weiße Magie, die meinen Körper erbarmungslos umgab, wurde heißer. Brachte die Tränen auf meinen Wangen zum Verdampfen. Hielt mein Kinn schmerzhaft nach oben gereckt.

»Ich hab dir vertraut«, wisperte ich verzweifelt.

»Und ich habe dir gesagt, dass es deine größte Schwäche ist, dein Vertrauen in die falschen Menschen zu setzen«, erinnerte sie mich süßlich und verengte die Augen.

»Aber warum?«, flüsterte ich, stellte Fragen, um mir mehr Zeit zu verschaffen. Stellte Fragen, weil ich die Antworten brauchte, während ich die Zähne in meine Unterlippe grub. Gegen den Schmerz anatmete, der auf meiner Haut und in meinem Inneren wütete. »Warum tust du all das? Was möchtest du erreichen? Was ist dein Ziel?«

»Ich habe es dir doch gesagt, Fawn«, antwortete sie weich. »Ich habe dich nicht die ganze Zeit belogen. Ich war ehrlich, wenn ich es konnte. Diese Welt ist ein Kartenspiel mit überholten Regeln. Und ich bin mutig genug, sie zu ändern. Frauen sind weniger wert als Männer. Der erstgeborene Sohn des Königs erhält den Thron. Die Tochter geht leer aus. Der Prinzessin wird der Mund verboten. Sie hat nur hübsch auszusehen und sympathisch zu lächeln. Dabei bin ich es, die den Titel verdient! Nicht mein dummer Bruder! Der Mann, der es nicht einmal schafft, pünktlich aufzutauchen, um dich davon abzuhalten, diese verdammte Lüge zu finden, die deine Mutter meinem Vater aus dem Mund stahl? Der Mann, der die Leggs nicht rechtzeitig erreicht hat, um sie daran zu hindern, in dieser Nacht einen Angriff zu fingieren? Der Dummkopf, der dich festnehmen will, obwohl ich ihm klare Anweisungen dazu gegeben habe, dich laufen zu lassen. Nur so zu tun, als würde er dir hinterherjagen, damit du mich zum Versteck deiner Wissensjäger-Freunde führst? Nein! Ich bin klüger als er. Stärker als er. Besser als er auf jeder Ebene! Er fürchtet sich vor den Wissensjägern – ich bringe sie zur Strecke.«

»Er hat zu Recht Angst«, stieß ich hervor, schmeckte Salz und Blut auf meinen Lippen. »Die Wissensjäger werden nicht aufgeben. Selbst, wenn du die meisten von ihnen tötest. Es wird immer jemanden geben, der euch trotzt. Und irgendwann werden sie herausfinden, wie sie gegen euch gewinnen können. Irgendwann werden sie stark genug sein!«

Höhnisch verzog Robyn das Gesicht. »Ich nehme es zurück. Du bist doch dumm, Fawn, und naiv. Ihr wärt bereits jetzt stark genug. Wenn das ganze Volk auf einer Seite wäre, wäre das Königshaus machtlos! Doch das Volk ist feige. Es geht dem einen Teil nicht schlecht genug und dem anderen zu gut.« Ungeduldig schnalzte sie mit der Zunge. »An der Feigheit der Menschen wird sich nie etwas ändern. Das ist mir schon mein ganzes Leben lang klar! Ich weiß genau, wie und womit man Menschen am besten manipuliert. Mit Mitleid und Freundlichkeit und Bequemlichkeit … und Angst! Und mein Vater war beeindruckt von mir. Von meinen Beobachtungen. Von meiner fortgeschrittenen Magie. Aber nicht beeindruckt genug, um mir den Thron zu überlassen. Also haben wir eine Vereinbarung getroffen: Ich täusche meinen Tod vor. Infiltriere den grauen Ring. Infiltriere die Dunkeldiebe und Wissensjäger – zerstöre sie von innen. Dafür kriege ich die Krone.«

»Also willst du die Regeln nicht ändern. Du willst sie nur genug biegen, um deinen Willen zu kriegen. Du willst das Land nicht besser machen. Du willst es nur regieren«, wisperte ich atemlos.

»Ich will, dass Mentano versteht, dass nicht nur Männer Macht besitzen. Nicht nur die männlichen Nachfahren der Swefts den Platz auf dem Thron verdient haben … was den Rest angeht: Warum sollte ich den ändern wollen? Er funktioniert! Wir funktionieren. Jeder Mensch ist zufrieden. Niemand leidet Hunger. Niemand ist obdachlos. Alle kriegen die Arbeit zugeteilt, die gerade freigeworden ist – aber wir sind gütig genug, euch einzureden, dass sie am besten zu euch passt. Dass sie eure Bestimmung ist. Mentano ist das Beste, was euch allen je passieren wird.«

»Aber wir leben in einer Lüge. Wir werden nicht angegriffen. Wir brauchen keinen Schutz, oder? Das Bündnis lauert nicht auf der anderen Seite, um uns zu zerstören. Wir könnten alle die gleichen Rechte haben. Uns aussuchen, wie wir unser Leben führen wollen …«

»Ja. Vielleicht«, sagte sie freudlos. »Aber das weiß niemand. Deswegen sind alle zufrieden. Eure Dummheit ist ein Geschenk!«

»Nein, unsere Dummheit wird uns aufgezwungen«, schleuderte ich ihr entgegen. »Von euch. Ihr haltet uns absichtlich dumm, aus Angst, dass wir euch entmachten! Ihr gebt uns nicht die Möglichkeit, selbst nachzudenken.«

Mit verengten Augen trat Robyn auf mich zu. »Weil darauf in der Vergangenheit nur Zerstörung gefolgt ist! Als jeder Mensch eine Stimme, jeder Mensch eine Meinung hatte und jeder zu Wort kommen durfte, entstand Krieg und Leid. Wenn jeder versucht, seine Wünsche durchzusetzen, entsteht Chaos, Fawn. Wenn alle denken, sie könnten alles haben – gibt es nichts mehr. In Mentano ist das kein Problem. Wir wahren den Frieden. Und seien wir ehrlich, Fawn: Ihr wollt es doch gar nicht wissen. Ihr wollt euch nicht informieren, ihr wollt nicht lernen. Nicht nachdenken. Ihr wollt Ruhe und Sicherheit. Und die bieten wir euch. Weißt du, wer der klügste Gewinner ist? Derjenige, der dem anderen nicht verrät, dass er überhaupt spielt. Denn so kann er das Spiel weiterführen, ohne dass jemand merkt, dass er längst verloren hat.«

»Wenn die Menschen wüssten …«

»Aber sie werden es nicht erfahren«, sagte sie scharf. »Dein Wissen wird mit deinem Tod verloren gehen.«

»Jemand Neues wird es herausfinden. Jemand wie meine Mutter. Wie Lord Falcron. Sie waren dir auf der Spur. Mentanos Geheimnissen. Dem Königshaus. Sie wussten, dass du die Prinzessin bist. Sie wussten …«

»Deine Mutter hat uns hintergangen«, unterbrach sie mich scharf. »Sie hat den König verraten und beinahe herausgefunden, wie die Rote Wand funktioniert. Sie sollte dankbar für ihren Tod sein. Denn er war kurz und gnädig. Was Lord Falcron angeht: Er ist auf die Flaschen im roten Ring gestoßen. Er wusste bereits zu viel, natürlich musste er ebenfalls sterben. Und der Rest der Falcrons wird ihm sehr bald folgen. Ich habe geahnt, dass sie seit dem Tod ihres Familienoberhauptes dem Königshaus nicht mehr ganz so loyal gegenüberstanden wie vorher. Aber ich hätte nicht geglaubt, dass sie so tief sinken und Wissensjäger werden würden. Aber darum kümmere ich mich, sobald ich mit dir fertig bin. Wenn mir der Thron gehört, werde ich dafür sorgen, dass nichts als eine schlechte Erinnerung von ihnen übrig bleibt.«

Ich versuchte, den Kopf zu schütteln, doch Red Dove hielt ihn noch immer fest fixiert. »Ich werde dich aufhalten«, zischte ich. »Ich werde es nicht zulassen.«

»Das kannst du nicht. Ich bin stärker als du, Fawn. Weil ich mehr kann. Mehr weiß. Lügen sind Macht, doch die schärfste Waffe ist die Wahrheit. Und ich kenne sie – im Gegensatz zu dir.« Sie lächelte breit. »Wie willst du kämpfen, wenn du nicht einmal weißt, wer du bist? Wenn du deine eigene Magie nicht einmal verstehst!«

Das Blut floss aus meinem Gesicht. Pochte schmerzhaft an meinem Hals. »Was?«

»Ich habe lange gebraucht, Fawn«, flüsterte sie und trat näher. Brachte ihr Gesicht direkt vor meines. Die Funken ihrer eigenen weißen Magie spiegelten sich in ihren Iriden. »Dich zu verstehen. Dahinterzukommen, warum Feuer, das du erschaffst, wirklich heiß ist. Wieso du Pfeile in Gänseblümchen verwandeln kannst. Aber ich habe es herausgefunden. Ich habe das größte Geheimnis deiner Mutter gelüftet. Ich verstehe nun, warum dein Vater dich hasst. Warum du Mentano nicht retten kannst, ohne dich selbst umzubringen.«

Sie trat zurück, machte einen Schritt zur Seite. Mit ihrer einen Hand hielt sie noch immer das weiße Magiefeld aufrecht, in dem sie mich gefangen hielt. Doch ihre andere hatte angefangen, rot zu glühen. In einer wellenförmigen Bewegung zog sie sie durch die Luft, verteilte die roten Schwaden, die zusammen mit leisen, eng aneinandergedrängten Worten aus ihrem Mund drangen.

Die Szenerie veränderte sich. Die grafitfarbenen Wände mit den rostroten Fugen verblassten. Wurden von Häusern mit roten Wänden und roten Dächern ersetzt. Der Dreck unter unseren Füßen wandelte sich zu Sand. Die Strahlen der aufgehenden Sonne erglühten orange.

Wir befanden uns im roten Ring. Auf dem großen Platz direkt nach dem Eingangstor. Ich erinnerte mich an jede Einzelheit. Caeden und ich hatten ihn überquert, in der Nacht, als wir in Lagerhaus Nummer 14 eingebrochen waren.

»Deine Eltern sind hier früher ziemlich oft ein und aus gegangen, Fawn, wusstest du das?«, flüsterte Robyn, ihre Worte wie kalte Hände auf meinem Körper. »Dein Vater, ein einfacher Wandwächter, hatte unfassbare Privilegien, nur weil er der Ehemann von Lyn Tresten war. Auch wenn er es gar nicht mehr sein wollte …«

Sie bog ihre Finger nach oben und zusammen mit ihrer Bewegung wuchsen zwei Gestalten aus dem Sand empor. Die eine dunkelhaarig, mit breitem Kreuz und schon damals wettergegerbtem Gesicht. Wut und Ungeduld auf seiner Miene, die ich nur zu genau kannte. Die andere klein und schmal, blond. Die Augen traurig, die Hände fahrig ineinander ringend. Meine Eltern. Wenn auch eine jüngere Version, als ich sie im Kopf hatte. Doch sie waren es. Meine Mutter und mein Vater. Zusammen.

»Nein«, hauchte ich.

Ich wollte das nicht sehen. Wollte auf einmal nicht mehr hören, was Robyn herausgefunden hatte. Wollte meine Eltern so in Erinnerung behalten, wie ich sie jetzt gerade im Kopf hatte. Selbst wenn es keine schönen Bilder von ihnen waren, es waren meine. Ich wollte mir keine neuen von meiner falschen Freundin einreden lassen.

»Lass das«, stieß ich hervor. »Ich will das nicht. Ich will ni– « Doch mir wurde das Wort abgeschnitten. Die weiße Magie, die sich in meine Hand- und Fußgelenke brannte, presste sich plötzlich auf meinen Mund. Versenkte meine Zunge, trocknete meine Lippen aus.

»Es wird Zeit, dass du lernst, in den richtigen Momenten zu schweigen, Fawn«, bemerkte Robyn theatralisch seufzend. »Ich tue dir hier einen Gefallen. Ich zeige dir, wer du wirklich bist … bevor ich dich umbringe. Damit du zumindest nicht unwissend sterben musst.«

Die Illusion meiner Eltern kam nun auf uns zu. Ich wollte die Augen schließen, doch mein Blick hing wie gebannt an ihren vertrauten Gesichtern. Wie viel hätte ich in den vergangenen Friedensjahren dafür gegeben, meine Mutter noch einmal wiedersehen zu können? Sie noch einmal lachen zu hören. Sie noch einmal an mich drücken zu können.

Doch diese hier war nicht echt. Sie war nicht real. Aber egal, wie oft ich das im Kopf wiederholte, sie verpuffte nicht. Sie blieb. Sie konnte mich nicht verletzen, mich nicht berühren, doch sie würde auch nicht verschwinden. Nicht, solange Robyn sie davon abhielt. Ich würde die Verzweiflung in ihrem Blick und die Verzweiflung in ihrer Stimme ertragen müssen. Ich konnte nichts dagegen tun.

»Bitte, Tavon. Bitte, tu mir das nicht an«, sagte sie mit gesenkter, verzerrter Stimme, während sie sich über ihre Schulter umsah, als wolle sie sichergehen, dass sie niemand beobachtete oder belauschte.

»Es ist zu viel, Lyn!«, erwiderte mein Vater rau. Seine Stimme angestrengt, als würde es ihn bereits viel Energie kosten, sie überhaupt zu benutzen. »Die Geheimnistuerei. Die Lügen. Die herablassenden Blicke. Ich kann das nicht mehr.«

Meine Mutter griff nach seinem Arm, zog ihn eng an sich, blickte flehentlich zu ihm auf. »Ich liebe dich, Tavon. Du weißt, dass ich es tue. Reicht das nicht? Meine Arbeit, die anderen … Sie sind nicht von Belang. Wen interessiert, was sie denken?«

Ein verbitterter Zug entstand um den Mund meines Vaters. Ließ ihn alt und schwach wirken. »Ich dachte, dass Gefühle reichen müssten. Das war naiv von mir. Denn deine Arbeit zwingt dich dazu, mich immer und immer wieder anzulügen. Und ich ertrage es nicht mehr, mich jedes Mal zu fragen, ob du denn nun die Wahrheit sagst oder nur wieder eine Geschichte erfindest.«

»Ich lüge, um dich zu schützen. Um Trent und Cora zu schützen. Je weniger ihr wisst, desto weniger kann euch belasten.«

»Ich weiß, warum du es tust«, zischte mein Vater. »Aber es frisst mich von innen auf. Dir nicht vertrauen zu können. Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, Liebe wäre stärker als der Wunsch nach Ehrlichkeit. Aber das ist sie nicht. Liebe kann Vertrauen nicht ersetzen. Nicht wenn du es immer und immer wieder mutwillig brichst.« Er schloss die Augen und ich sah, wie vereinzelte Tränen unter seinem dichten Wimpernkranz hervordrangen. Wie sie von den Falten um seine Augen herum verschluckt wurden und nur eine einzelne einsam seine Wange hinablief. »Ich habe mich die letzten Friedensjahre über zusammengerissen, Lyn. Für unsere Kinder. Weil ich sie liebe. Weil ich dich liebe. Weil ich gehofft hatte, dass es leichter wird. Dass die anderen Roten Magier aufhören würden, uns dafür zu verurteilen, dass wir zusammen sind. Dass du mir, wenn wir verheiratet sind, erzählen kannst, wohin du des Nachts verschwindest. Mit wem du dir deine Zeit vertreibst. Was du hinter verschlossenen Türen mit dem König beredest. Aber es wird mit jedem Tag schlimmer. Du weißt, wenn ich lüge. Weißt es jedes Mal. Doch wenn du mir erzählst, dass du morgens früh aus dem Bett gekrabbelt bist, um die Sterne zu beobachten, und du nie etwas tun würdest, dass unsere Familie in Gefahr bringt … dann kann ich mir niemals sicher sein. Weil Lügen deine zweite Natur ist. Es ist dein Beruf. Es ist das, was dir beigebracht wurde. Aber es ist nicht das, was ich will.«

Er riss sich von ihr los und stapfte zum Torbogen, der in den weißen Ring führte.

Meine Mutter blieb zurück. Tränenspuren auf ihren geröteten Wangen. Ein leises, kaum hörbares Schluchzen auf ihren Lippen.

»Deine Mutter wusste, dass er sie verlassen würde«, flüsterte mir Robyn ein und ich meinte ihre Hände auf meinen Schultern zu spüren. »Sie wusste, dass sie nicht genug für ihn war. Dass ihre Arbeit, die Identität, die ihr das Königshaus gegeben hatte, zu schwer auf ihrer Beziehung lasteten. Zu schwer, um sie allein heben zu können. Einzig ihre Kinder hielten Tavon und sie zusammen. Doch sie wurden älter … brauchten sie beide weniger …«

Das Gesicht meiner Mutter wurde bleich. Erneut sah sie über ihre Schulter auf den leeren Platz, blickte auf ihre Hände, die rot glühten.

»Du musst ihr verzeihen, Fawn. Sie war verzweifelt. Und verzweifelte Situation verlangen nach verzweifelten Maßnahmen.« Robyns Stimme hallte in meinem Kopf wider, während ich sah, wie meine Mutter die Augen schloss. Wie sich ihre Brust gleichmäßig hob und senkte. Wie sie die Hände vor sich ausstreckte.

Worte stolperten über ihre Lippen. Leise und hastig. So als wüsste sie, dass sie sie nicht aussprechen sollte.

»Ich will ein Kind. Ich brauche ein Kind. Wenn ich noch ein weiteres Kind habe, wird er mich nicht verlassen«, murmelte sie. Immer und immer wieder. »Ich bin schwanger. Seit drei Wochen schon. Wir werden ein weiteres Kind bekommen.« Rote dicke Schwaden glitten von ihren Lippen. Verdunsteten auf ihrer Haut. Die Magie, die aus ihren Poren floss, glühte so hell, dass die Dämmerung in Flammen zu stehen schien. Meine Mutter wiegte sich vor und zurück, sang die Worte, während der blutrote Dunst auf ihren Bauch hinabsank. Ihre Mitte umschloss. Ihre Haut durchdrang und sie von innen erfüllte. Ihre Brust fing an zu glühen, die Haare fegten um ihr Gesicht. Dann war es vorbei. Das Rot verschwunden. Etwas anderes an seine Stelle getreten.

Ich starrte meine Mutter an. Bewegungslos. Meine Gefühle taub. Meine Gedanken leer. Was hatte sie getan?

Die Silhouette meiner Mutter verpuffte, doch der rotgoldene Sand blieb. Ich glitt zu Boden. Die Fesseln aus weißer Magie lösten sich von meinen Gelenken. Dennoch konnte ich mich nicht bewegen. War gefangen in meinem eigenen Kopf. In meiner eigenen Wahrheit.

Robyn stand wieder vor mir, ein fast entschuldigendes Lächeln auf ihren Zügen.

»Jetzt weißt du es. Warum deine Magie anders ist.«

Mein Hals war so trocken, dass ich kein Wort herausbrachte. Auch wenn ich ihr sagen wollte, dass sie falschlag.

Meine Magie war nicht anders. Ich war Magie. Alles an mir. Ich war … eine Lüge.

»Und? Bist du immer noch der Meinung, dass deine Mutter ein guter Mensch war?«, flüsterte Robyn. Ihre Stimme so dünn, dass sie beinahe vom Wind davongetragen wurde. »Sie hat dich belogen. Deinen Vater mit ihrer Magie betrogen. Mir die perfekte Munition gegeben. Denn Lügenmagie ist nur halb so stark wie Wahrheitsmagie – auch wenn die meisten das nicht verstehen.«

Lügenmagie? Wahrheitsmagie?

»Man muss die Wahrheit nur kennen, um sie zu benutzen«, fuhr Robyn fort und trat zurück. »Du kannst keine Ahnungen aussprechen. Keine Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Du musst es wissen, Fawn. Verstehst du? Nur wenn man es weiß, kann man die Wahrheit nutzen.« Sie fing an, ihre Hände umeinander zu bewegen. Licht und weiße Magie zu formen. Ich sah ihr wortlos dabei zu. Befreit und doch gefangen in meinem eigenen Körper. Du bist durchsichtig geworden, Fawn! Caedens Stimme hallte in meinem Geist wider. Ich wusste jetzt, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Ich war durchsichtig geworden. Hatte mich fast in seiner Magie verloren. War nicht echt. Sollte gar nicht leben. War nur ein Wunsch meiner Mutter.

»Du bist eine Lüge, Fawn. Deine Mutter hat dich betrogen und belogen. Dein Vater hat dich nie wirklich geliebt, weil er wusste, dass du nicht seine Tochter bist.« Mit jedem kalten Wort aus Robyns Mund glühten ihre Hände heller. Wurde der weiße Staub, der sich von ihnen löste, fester. Formte sich zu einem Dolch. »Deine Geschwister haben dich verraten und verstoßen. Dein bester Freund hat sich gegen dich gewendet. Du hast nichts mehr, Fawn. All das Wissen, das du gesammelt hast, bringt dir nichts, denn den Menschen, die du liebst, bist du nichts wert. Und weißt du, wie man eine kleine dreckige Lüge am besten zerstört? Mit der Wahrheit.« Ihre Hände zerschnitten die Luft. Stießen den weißen Dolch vor.

Ich wehrte mich nicht. Wusste, dass es ohnehin keinen Zweck hatte. Meine Lippen waren zusammengeklebt, meine Hände zu schwer, um sie zu heben. Ich war machtlos gegen ihre Magie. Zu schwach. Zu erschöpft. Die Klinge bohrte sich in meinen Bauch. Zerfetzte meine Haut. Zerfloss in der Wunde. Ich spürte es. Wie die Magie ihre Form aufgab. In mein Blut überging. In mir weitertobte.

»Lügen vergehen, Fawn.« Ich spürte Red Doves kalte Finger um mein Kinn, als sie es nach oben zwang. Meinen starren Blick mit ihrem einfing. Sie trug nicht mehr Robyns Gesicht. Und ich war ihr dankbar dafür. »Lügen vergehen. Doch die Wahrheit bleibt. Sie setzt sich in deinen Poren fest und frisst dich von innen auf. Du kannst sie manipulieren, wie du willst. Formen, wie du willst. Sie bleibt. Und sie tut weh. Oder nicht? Spürst du nicht, wie sie wehtut?«

Doch. Ich spürte es. Spürte das Ziehen in meiner Brust bereits, seit ich meine Eltern beim Streiten beobachtet hatte.

Meine Haut fühlte sich fremd an. Sollte gar nicht existieren. War nur dafür da, die rote Magie, aus der ich erschaffen worden war, zu bündeln. Gefangen zu halten. Red Doves Finger glitten von meinem Gesicht … und dann war sie fort.

Doch die Wahrheit blieb. Die Lügen blieben. Sie hatten mich umzingelt. Eingekreist. In der hintersten Ecke meines Kopfes nahm ich Schritte wahr. Rufe. Doch sie waren so unendlich fern. Vielleicht nur Teil der Illusion, die Red Dove mir zum Sterben überlassen hatte.

»Fawn! Nein! Warum hast du denn nicht gekämpft? Warum hast du nicht … Warum hast du nicht …?«

Die Stimme war warm. Tief. Vertraut. Aber sie würde mich nicht rechtzeitig erreichen.

Ich blickte an mir hinab, presste meine Hände auf die Wunde. Das Blut rann zwischen meinen Fingern hindurch wie Sand durch ein Uhrglas. Es perlte meine Kleidung hinab, sammelte sich an meinen Füßen zu einer glatten Pfütze und spiegelte verzerrt mein Gesicht wider.

Rot. Überall rot.

Rote Wände, rote Dächer, roter Himmel. Die Farbe verfolgte mich. Sie war mein Anfang und würde auch mein Ende sein. Ich atmete zitternd auf, drückte die Hände fester auf meinen Bauch, doch die klebrige Flüssigkeit quoll unaufhörlich weiter daraus hervor.

Es war merkwürdig. Ich hatte immer gedacht, dass der Tod wehtun würde. Doch er war sanft. Beinahe zärtlich. Ich hatte keine Schmerzen, ich war nur müde. So unendlich müde. Ich wollte nicht mehr kämpfen, also schloss ich die Augen und fiel auf die Knie.

Der sandige Boden war warm, die Sonne hatte ihn aufgeheizt. Doch die Wärme drang nicht durch meine Haut.

»Fawn …«

Die Stimme war nur ein Flüstern. Ein Hauch. Kalten Fingern gleich strich sie mir über die Lippen und ließ mich erschaudern.

»Fawn, heute ist nicht der Tag, um zu sterben. Verstehst du mich?«

Ich schüttelte den Kopf, kniff die Augen fester zusammen, während das Salz meiner Tränen sich mit dem Geschmack nach Eisen mischte.

»Du wirst heute nicht sterben«, wiederholte die Stimme. Dunkel und ruhig – doch nicht genug, um mich hierzubehalten. Nicht diesmal.

»Fawn! Hör mir zu.« Raue Finger umfassten mein Gesicht und hielten es fest, sodass mein Kopf nicht nach vorne sacken konnte. »Mach die Augen auf. Sieh mich an. Du hast es mir versprochen. Du hast es mir verdammt noch mal versprochen!«

»Ich habe gelogen«, flüsterte ich und knickte zur Seite weg.

Die Schwärze drang von allen Seiten auf mich ein. Hieß mich willkommen. Doch sie war es nicht, die mich auffing. Es waren starke Arme. Sanfte Hände.

»Fawn. Nein … du bist mächtig. Du bist stark. Ich vertraue dir. Ich glaube an dich. Ich hab dich doch gerade erst gefunden. Du kannst mich noch nicht verlassen. Du willst es nicht.«

Nein, ich wollte nicht. Ich wollte die Augen öffnen. Wollte ein letztes Mal sein Gesicht sehen.

Es ist nur mein Körper. Mein Körper existiert nicht. Er ist eine Lüge. Ich bin eine Lüge.

Die Dunkelheit verschluckte mich. Senkte sich auf meine Glieder, auf meine Augen. Verlangsamte mein Herz. Meine Energie floss zusammen mit meinem Bewusstsein aus meinem Körper … aber konnte ich überhaupt sterben, wenn ich gar nicht existierte?