KAPITEL 16

Es gibt verschiedene Arten von Schmerz. Verschiedene Arten von Dunkelheit. Verschiedene Arten von Kälte.

Ich durchlebte sie alle.

Den heißen konsumierenden Schmerz, der nicht nur von scharfen Klingen und strömendem Blut herrührt. Die allumgebende Dunkelheit, die deine Sinne erstickt, dich in ihrer Flut aus Schwärze mitreißen will. Die klirrende Kälte, die so bitter und frostig ist, dass sie dein Herz zum Stillstand bringt.

Den süßen durchdringenden Schmerz, der nur in deinen Augen und deinem Herzen brennt. Der niemals Erleichterung finden wird, weil du das, was du gehört hast, nicht vergessen kannst. Die weiche zärtliche Dunkelheit, die dir ein sanftes Ende verspricht. Der es unendlich schwer ist zu trotzen. Die beruhigende Kälte, die deine Wunden betäubt, deine Nackenhaare zu Berge stehen lässt, aber verspricht, es besser zu machen.

Es kam mir nicht fair vor. So viel fühlen zu können, obwohl ich doch gar nicht existieren sollte. Obwohl ich doch nur die beste Illusion war, die meine Mutter je erschaffen hatte.

Doch der Schmerz war real. Meine enge Brust, die zu klein schien, um mein Herz zu beherbergen, war echt. Ich lebte … und tat es ja doch nicht. Wie konnte jemand von mir verlangen, das zu verstehen? Wie konnte meine Mutter sich töten lassen, ohne mir zu erklären, was das bedeutete?

Ich wollte weinen. Ich wollte schreien. Doch dafür müsste ich mich aus der Schwärze ziehen. Und dafür war ich noch nicht bereit. Wenn ich aufwachte, läge nur ein weiterer Kampf vor mir. Neue Hürden, neue Lügen, alte Feinde. Und wie sollte ich einen Krieg führen, der zum Scheitern verurteilt war?

Red Dove hatte recht gehabt. Ich konnte nicht gegen sie gewinnen. Alles, was ich tun konnte, war, mich an mein Leben zu klammern. Nicht zu sterben. Auf diesem weichen Untergrund zu liegen und zu hoffen, dass jemand anderes meine Probleme lösen würde. Dass jemand anderes die Rote Wand sprengen würde. Das Königshaus stürzen, das Land befreien würde.

Doch es gab niemand anderen. Es gab nur mich. Die kleine Lügendiebin auf der Suche nach der ganzen Wahrheit. Es gab niemanden, der mir die Last abnehmen konnte. Niemanden, der besser verstehen würde als ich.

Denn ich war etwas Besonderes. War zu etwas Besonderem gemacht worden. Es war egal, was ich wollte. Wenn ich aufgab, würde nur ein neuer Kreislauf beginnen. Jemand Neues würde über die Wahrheit stolpern. Jemand anderes sein Leben dafür geben. Und wie konnte ich mit der Gewissheit weiterleben, dass ich etwas ändern könnte … ohne es zu versuchen?

Je eher ich anfing, desto schneller war es vorbei. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Augen aufzuschlagen und weiterzumachen. All die Menschen nicht umsonst sterben gelassen zu haben, die für die Lügen des Königshauses bereits mit ihrem Leben hatten büßen müssen.

Also wischte ich die Dunkelheit fort, atmete durch den Schmerz hindurch, verbannte die Kälte aus meinem Herzen. Zog mich in die Realität. Lauschte auf die Stimmen, die sprachen. Fühlte die Finger, die meine fest umschlossen hielten …

»Du solltest schlafen, Caeden.« Das war eine Frau. Eine sanfte weibliche Stimme.

»Ich kann schlafen, wenn sie wach ist.«

»Oh, bei Sweft, geht es noch ein wenig dramatischer? Ich bin auch noch hier«, mischte sich eine dritte Stimme hinzu. »Sie wird nicht allein sein, wenn sie aufwacht.«

Ich kannte die Stimme. Sie war mir so vertraut wie die Dunkelheit, die mich gefangen hielt.

»Ach ja? Und wo warst du die letzten Wochen?«, erwiderte jemand kalt. Caeden.

»Ich wusste nicht, wo sie ist! Weil ihr sie gefangen gehalten habt!«, zischte der andere zurück.

»Und wenn du es gewusst hättest? Was hättest du dann getan? Hm? Sie direkt in die Arme der Dunkeldiebe getrieben, die sie für eine hübsche Summe an die Roten Magier verkauft hätten?«

»Beruhigt euch!«, schnitt die weibliche Stimme dazwischen. Jyn? War das Jyn? »Das bringt doch alles nichts. Von euren albernen Streitereien wird Fawn auch nicht schneller gesund.«

»Sie sollte längst wach sein«, murmelte Caeden und ich spürte, wie raue Finger über meine Wangen strichen. »Ihre Wunde hat sich fast von allein wieder geschlossen.«

»Lord Schmierlappen hat recht«, stimmte die andere männliche Stimme zögerlich mit ein. »Sie sieht … heile aus.«

War ich heile? Ich fühlte mich nicht so. Ich fühlte mich, als wäre ich zerbrochen. Als hätte ich mich gesprengt wie die gläserne Vase bei den Wissensjägern. Als würde ich noch immer versuchen, jede einzelne Scherbe wieder zusammenzukleben.

»Ich verstehe es nicht«, wisperte Caeden. »Wie kann Red Dove sie verletzt haben? Sie hat sie mit einer Illusion angegriffen. Illusionen können uns nichts anhaben.«

Aber es war keine Illusion gewesen. Es war die Wahrheit gewesen. Die messerscharfe Wahrheit, die mich durchbohrt hatte.

Ich war eine Lüge. Meine Mutter hatte mich lediglich … erfunden. Das war alles, was Red Dove hatte wissen müssen, um mir derartige Schmerzen zuzufügen. Und je öfter ich das in meinem Kopf wiederholte, desto mehr füllte sich das Bild. Desto mehr verstand ich. Warum meine Magie so anders funktionierte. Warum meine Eltern sich so oft gestritten hatten. Warum mein Vater mich nicht mochte.

Er hatte es gewusst. Mein Vater hatte gewusst, dass ich lediglich eine Lüge war, die meine Mutter erfunden hatte, damit er sie nicht verließ. Er hatte gewusst, dass ich nicht normal war.

»Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, wie sie überleben konnte«, meinte der andere. »Sie hat so viel Blut verloren.«

Doch ich brauchte das Blut nicht, richtig? Alles, was ich brauchte, war meine Magie. Denn sie hielt mich zusammen. Deswegen lebte ich noch, oder? Es war der einzige Grund. Ich schluckte fest. War das tröstlich oder schrecklich?

»Ich glaub, sie wird wach«, sagte die weibliche Stimme aufgeregt. »Sie hat sich bewegt. Sie hat gezuckt.«

Die sanfte Hand umfasste mein Gesicht, gab mir Wärme. »Fawn?«, fragte die dunkle Stimme leise. »Kannst du mir einen Gefallen tun und die Augen öffnen? Bitte?«

Ich blinzelte, zwang meine schweren Lider nach oben.

»Was sagt man dazu? Sie hat nur darauf gewartet, dass wir Bitte sagen«, bemerkte der andere trocken. »Seit sie bei euch im weißen Ring war, legt sie offenbar sehr viel mehr Wert auf Höflichkeit.«

»Fawn?«, fragte Caeden nun lauter. »Kannst du mich hören?«

Ich sah in sein vertrautes Gesicht. Blickte in seine grauen Augen, die mit Sorge und Wärme gefüllt waren, und lächelte. Mein Herz schlug schneller und das Atmen fiel mir leichter. Wie hatte ich vergessen können, dass ich nicht allein war? Dass es Menschen gab, für die es sich lohnte weiterzuatmen?

»Du brauchst nicht so zu schreien«, wisperte ich heiser. »Mein Bauch wurde durchbohrt, nicht meine Ohren.«

Ein breites befreites Lächeln erschien auf Caedens Gesicht und er strich mir die Haare aus der Stirn. »Kleine Klugscheißerin«, murmelte er und küsste mich sacht auf die Schläfe.

»Große Klugscheißerin«, korrigierte die zweite, große Gestalt ihn. »Und natürlich macht sie erst mal Witze. Wäre beinahe abgekratzt, hat uns zu Tode erschreckt … und kann trotzdem nicht ihre Klappe halten.«

Ja, denn wenn mir mein Humor nicht bliebe, was hatte ich dann noch? Ich lächelte müde und schwenkte mit dem Blick nach rechts. Sah zu dem Riesen, der nun über meiner Matratze lungerte.

»Hey, Fawn. Schön, dass du wieder etwas Farbe im Gesicht hast«, flüsterte er.

Mein Herz zog sich bittersüß zusammen und meine Augen fingen an zu brennen. »Finch«, hauchte ich. »Was tust du hier?«

Er zog eine Grimasse. »Ist das die richtige Art und Weise, deinen bestaussehendsten, geschicktesten und klügsten Freund zu begrüßen, den du seit Wochen sehnlichst vermisst? Ich glaube nicht. Ich hatte auf Jubelgeschrei, eine tiefe Verbeugung und vielleicht auch ein paar Tränen gehofft. Aber du warst noch nie so der heulende Typ, oder? Du wirst lieber wütend als traurig.«

Fassungslos starrte ich ihn an, während süße Emotionen über mich schwappten, den Schmerz und die Angst einige Momente lang besser machten. »Finch«, wisperte ich erneut und jetzt weinte ich doch. »Finch, es tut mir so leid. Unser Streit, dass ich dir nicht genau erklärt habe, was los ist …«

»Blödsinn, Fawn«, sagte er knapp und ein harter Zug entstand um seinen Mund. »Ich bin es, dem es leidtut. Ich hätte dir einfach vertrauen sollen. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass du dem Schmierlappen wirklich wichtig bist.«

»Niemand konnte das ahnen«, unterbrach ich ihn und schmunzelte. »Und ich hätte Caeden an deiner Stelle auch nicht vertraut.«

»Entschuldige?«, machte sich Caeden mit düsterem Blick bemerkbar.

Finch grinste. »Kein Grund, eifersüchtig zu werden, Lord Schmierlappen«, bemerkte er, wenn auch ein wenig selbstzufrieden. »Nur weil sie mir mehr Aufmerksamkeit schenkt als dir, heißt das nicht, dass sie mich mehr mag.«

»Ich bin nicht eifersüchtig«, knurrte Caeden.

Ein helles Lachen ertönte. »Oje, er ist so was von eifersüchtig! Liebe Güte, dass ich das noch mal erleben darf.« Ich blickte über Caedens Schulter zu seiner Schwester Jyn, die mir zuzwinkerte. »Und was soll das ganze Lord-Schmierlappen-Gerede? Ich dachte, Caedens Spitzname wäre Lord Kaltherz.«

»Oh, Lord Kaltherz ist Fawns Erfindung. Lord Schmierlappen habe ich mir ganz allein ausgedacht«, meinte Finch stolz.

Ich lächelte wacklig und betastete langsam meinen Körper. Jemand hatte mir einen Verband angelegt und meine Wunde schien versorgt worden zu sein. Außerdem hatte jemand das Blut von meinen Händen und aus meiner Kleidung gewaschen. Mein Blut … Crows Blut.

Das Gefühl des Verlusts schwappte in kalten Wellen über mich und trieb neue Tränen in meine Augen. Erstickte mein Lächeln. Doch ich kämpfte dagegen an. Konnte es mir nicht leisten, mich in dem Schmerz zu verlieren. Ich musste weitermachen. Musste vorerst vergessen, was passiert war. Mir blieb keine Wahl. Ich konnte nicht trauern und gleichzeitig kämpfen. Nicht, wenn ich siegen wollte.

»War ein Heiler hier?«, wollte ich mit belegter Stimme wissen und schluckte die schlechten Gefühle herunter. Ich versuchte, sie mit den warmen zu ersetzen, die mich fluteten, wenn ich Caeden anblickte.

Er schluckte ebenfalls, bevor er den Kopf schüttelte. »Du hast dich selbst geheilt. Ich weiß nicht wie, aber … du lagst in meinen Armen, ich habe mit dir geredet, und auf einmal hast du aufgehört zu bluten.«

Ich nickte nur. Es überraschte mich nicht einmal. Aber jetzt und hier war weder die Zeit noch der Ort, um zu erklären, warum.

Caedens Blick glitt forschend über mein Gesicht, als wisse er, dass mein Schweigen nicht ohne Bedeutung war. Und ich war ihm dankbar dafür, dass er nicht nachfragte. Stattdessen drückte er meine Hand und sah mich ernst an. »Danke, Fawn. Dass du dich dafür entschieden hast zu leben.«

Ich lächelte unsicher »Ich glaube nicht, dass es meine Wahl war.«

»Doch«, flüsterte er eindringlich. »Ich glaube, genau das war es.«

Und vielleicht hatte er recht. Ich wusste es nicht ganz. Aber ich hätte auch in den Armen der Schwärze bleiben können, oder nicht?

»Ich hab dich gehört, weißt du? Dich gespürt. Ich wusste, dass du da bist, aber konnte nicht zu dir durchdringen«, wisperte ich und hob die Hand an sein Gesicht. »Aber wie konntest du überhaupt so schnell zurück sein? Du wolltest die Wissensjäger warnen, du …«

»Ich habe Nuthatch auf dem Weg getroffen«, murmelte er. »Ich hab ihn geschickt, damit ich dich suchen kann. Ich war trotzdem nicht rechtzeitig da.« Seine Stimme klang bitter und ich schüttelte nur den Kopf.

»Du hättest nichts tun können. Niemand hätte das. Sie ist …« Ich holte zitternd Luft. »Sie ist Prinzessin Alphia, Caeden. Red Dove und die Prinzessin sind ein und dieselbe Person! Sie beherrscht rote und weiße Magie. Wir sind ihr alle unterlegen.«

Zu meiner Überraschung nickte er. Dann schloss er ein paar Herzschläge lang die Augen, bevor er murmelte: »Ich hab es gesehen. Wir haben es gesehen.« Er nickte zu Finch.

»Du warst auch da?«, fragte ich perplex, während mein Mund trocken wurde und sich mein Herz schmerzhaft zusammenzog. Denn wenn Finch da gewesen war … wenn er wusste, dass Alphia und Red Dove ein und dieselbe Person waren. Dann wusste er auch …

»Ja«, wisperte Finch. Er war blass um die Nase geworden, doch er sprach weiter: »Ja. Ich hab alles gesehen. Ich kam zu spät zur Versammlung. Als ich beim Haus der Treggs ankam, war der Dachboden bereits leer, bis auf …« Er senkte den Blick, doch ich wusste auch so, was er sagen wollte. Bis auf Crows Leiche. Ich biss die Zähne aufeinander, kämpfte gegen das schreckliche Bild an, das sich zurück in meinen Geist drängen wollte. »Jedenfalls wusste ich, dass irgendetwas Schreckliches passiert sein und dass Red Dove ihre Finger im Spiel haben musste. Ich bin rausgerannt und dann habe ich gesehen, wie sich über den Dächern weiße Magie ausgebreitet hat. Als ich bei euch ankam, stand Lord Kaltherz bereits da. Aber wir konnten nicht einschreiten. Sie hatte einen Schild um euch erschaffen. Trotzdem haben wir gesehen, wie sie ihr Gesicht verändert hat. Wie sie von Red Dove zu Alphia zu …« Er stockte, atmete tief durch, räusperte sich. »Wie auch immer. Sie hat ihr Gesicht verändert und dich mit ihrer Magie in die Luft befördert. Aber danach …« Er rieb sich mit der flachen Hand übers Gesicht. »Was ist passiert, Fawn? Was hat Red Dove getan? Wieso standest du einfach nur da? Wieso hast du dich nicht gegen sie gewehrt? Du warst wie eingefroren.«

Ich setzte mich aufrechter in das Bett, das, wie mir jetzt auffiel, Finch gehörte. Wir mussten uns in seinen Räumlichkeiten befinden. »Sie hat mich in einer Illusion gefangen gehalten«, murmelte ich. »Wir befanden uns im roten Ring, ich habe meine Eltern gesehen …« Ich brach ab und schloss fest die Augen. »Ich war wie gelähmt. Es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt, gegen sie zu kämpfen.« Ich hielt mir die Hand an die Stirn. »Ich fühle mich so schrecklich dumm. Ich habe Robyn vertraut.« Ihren Namen flüsterte ich nur. Als könne es mehr wehtun, wenn ich ihn lauter aussprach. »Mir hätte etwas auffallen müssen. Irgendetwas.«

»Du bist nicht die Einzige, die sie an der Nase herumgeführt hat«, sagte Finch, seine Stimme merkwürdig verzerrt. »Beim verdammten König Sweft, ich hab ihr so viel verraten, Fawn. Robyn. Ich habe ihr so viele Geheimnisse der Dunkeldiebe anvertraut. Nur weil ich … weil ich in sie …« Er schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf und Tränen glitzerten in seinen Augen.

»Es ist okay, Finch«, wisperte ich. »Ich habe ihr das Versteck der Wissensjäger preisgegeben. Ich habe sie direkt zu Crow geführt. Ohne mich …«

»Ohne dich hätte sie ihn trotzdem getötet. Ohne dich hätte sie einen anderen Weg gefunden, die Wissensjäger aufzuspüren«, unterbrach Caeden mich scharf. »Es ist sinnlos, Vorwürfe auszusprechen. Schuld zu verteilen. Es ist irrelevant, wie es passiert ist. Es ist passiert.« Er fixierte mich mit verengten Augen. »Also hör ja auf, das auf deine Schultern zu hieven.«

Ich nickte, auch wenn die Schuldgefühle meine Hände zum Zittern brachten. Aber er hatte recht. Die Vergangenheit lag hinter uns, die Zukunft war noch zu ändern.

»Wenn überhaupt, liegt es in meiner Verantwortung«, murmelte Finch gequält. »Ich habe mich so von ihr manipulieren lassen. So blenden lassen, Fawn.«

»Ich hab dir doch gesagt, Liebe ist was für Idioten«, wisperte ich … und fing Caedens Blick ein. Er hatte fragend die Augenbrauen gehoben.

»Gut aussehende Idioten«, korrigierte ich mich und wandte hastig das Gesicht ab. Stattdessen sah ich zu Jyn. »Was ist mit den Wissensjägern?«, wollte ich wissen. »Sind sie …?«

Übelkeit stieg in mir auf und ich brachte es nicht über mich, den Satz zu beenden. War Nuthatch schneller gewesen als Red Doves Anhänger?

»Wir wissen es nicht«, wisperte Jyn und hob hilflos die Achseln. »Wie viele von ihnen gerettet wurden. Wie viele von ihnen …« Sie brach ab und holte tief Luft. »Ich war nicht dort. Niemand von uns war es. Und wir haben nichts mehr von Nuthatch gehört. Aber das könnte ein gutes Zeichen sein. Wenn er sich versteckt hält.«

Ich nickte und rieb über meine Brust, in der ein taubes Gefühl eingesetzt hatte. Erneut sah ich zu Caeden. »Hast du ihnen erzählt, was ich herausgefunden habe? Dass die …?«

»… Angriffe auf die Kuppel nicht echt sind?«, führte Jyn meinen Satz zu Ende, die Arme fest vor ihrem Körper verschränkt. »Ja, das hat er.«

Das war gut. Je mehr Leute es wussten, desto mehr Menschen mussten sterben, bevor das Wissen endgültig verloren ging. »Red Dove hat es bestätigt«, murmelte ich. »Das Bündnis greift uns nicht an. Wir befinden uns nicht mehr im Krieg. Wer weiß, vielleicht ist nicht einmal die Einöde, die man hinter der Wand sehen kann, echt.«

»Also könnten wir die Rote Wand einreißen?«, fragte Jyn hoffnungsvoll.

»Ja, wenn wir wüssten, wie«, murmelte ich und dachte an Crow zurück. An die Worte, die er mit seinem letzten Lebenshauch ausgesprochen hatte.

»Ihr wollt die Rote Wand zerstören?«, wiederholte Finch und rieb sich unangenehm berührt den Nacken. »Und was dann?«

»Ich weiß es nicht«, gab ich zu. »Aber ohne Kuppel, ohne Rote Wand wird der Schutz der Magier unnötig. Die äußeren Ringe müssen sich nicht mehr zu Tode schuften, damit die Reichen und Schönen genug Zeit haben, sie aufrechtzuerhalten. Das Königshaus verliert an Macht. Jeder kann selbst über sein Schicksal entscheiden. Den Beruf annehmen, den er möchte. Geld verdienen. Reisen. Die Möglichkeiten sind endlos, Finch.«

Er schluckte fest und ich konnte sehen, dass ihm dieser Gedanke Angst machte. Red Doves Worte waren grausam gewesen, doch einige von ihnen waren wahr. Die Bewohner Mentanos hatten sich daran gewöhnt, in Sicherheit zu sein. Sie hatten akzeptiert, dass sich niemals etwas ändern würde. Vermutlich würden einige damit überfordert sein, plötzlich so viel Macht zu haben. So viele Entscheidungen treffen zu können. Zu müssen. Aber sie blind und dumm zu lassen, sie sich unterwerfen zu lassen, obwohl sie es nicht müssten, war keine Option. Angst durfte nicht gewinnen.

»Hat Red Dove denn irgendetwas zur Roten Wand gesagt?«, wollte Jyn wissen und sah mich erwartungsvoll an.

Ich runzelte die Stirn, dachte nach. »Ja, sie sagte, dass meine Mutter fast dahintergekommen wäre, wie sie funktioniert.« Ich rieb mir über die Augen und ließ meinen Nacken kreisen. »Und es gibt nur eine Person, die möglicherweise weiß, wie. Ich muss mit meinem Vater reden. Und dann … dann muss ich zur Wand.«

Ich wollte meine Beine aus dem Bett schwingen, doch Caedens Hand schraubte sich um mein Knie, bevor ich es bewegen konnte.

»Was du tun musst, ist, es langsam anzugehen. Fawn, du bist zusammengebrochen und warst Ewigkeiten bewusstlos!«

»Ewigkeiten? Wie lange habe ich denn geschlafen?«, fragte ich verdutzt.

»Zwölf Sonnen- und zwölf Mondschritte lang, Fawn«, sagte Caeden düster.

Ich öffnete verblüfft den Mund. »Nun, wenn ich so viel Schlaf bekommen habe, sollte ich mich wirklich besser fühlen, als ich es tue, oder?«, überlegte ich laut. »Leider kann ich darauf keine Rücksicht nehmen.«

Ich schlug seinen Arm weg und stand auf. Caeden stieß einen schillernden Fluch aus, den ich trotz seiner gesenkten Stimme hören konnte.

»Caeden«, sagte ich sanft, aber mit Nachdruck. »Es sind schon so viele Menschen gestorben. Und mit jedem ungenutzten Atemzug, den ich nehme, geraten weitere Wissensjäger und Dunkeldiebe in Gefahr. Crows Tod darf nicht umsonst gewesen sein. Nichts von dem, was passiert ist, darf es. Wenn es jemals eine Zeit zum Handeln gab, dann ist sie jetzt

Caeden presste sich die Handballen auf die Augen. »Ich weiß. Aber du hast dich nicht gesehen, Fawn. Wie du auf dem Boden lagst. In einer Lache aus deinem Blut.«

Vorsichtig griff ich nach seinen Handgelenken und zog sie von seinem Gesicht. »Mir geht es gut, Caeden«, flüsterte ich und sah ihn eindringlich an. »Ich lebe. Aber wenn Red Dove erfährt, dass sie mich nicht getötet hat … dann wird sie diesen Fehler korrigieren. Sie denkt, dass ich tot bin. Sie denkt, dass sie uns besiegt hat. Das ist der einzige Vorteil, den wir gegen sie haben.«

»Ich hasse es noch immer, wenn du recht hast«, murmelte er, bevor er seufzte. »Schön. Wir holen deinen Vater. Aber wenn du zur Wand willst, komme ich mit.«

Dankbar ließ ich die Hände sinken. »Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, allein zu gehen. Also, danke, dass du …«

»Oh, Mann. Wenn ich Robyn so eklig angeguckt habe, dann verstehe ich jetzt endlich, warum es dich so genervt hat, Fawn«, unterbrach Finch mich und verzog das Gesicht.

Ich verdrehte die Augen, musste jedoch trotz allem schmunzeln. Wieso war mir nie bewusst gewesen, wie viel ein Lächeln wert war?

»Gut«, sagte ich fest und straffte die Schultern. »Wer holt meinen Vater … und wo kann ich etwas zu essen herbekommen? Ich verhungere gleich.«