Caeden wusste, dass ich ihm etwas verheimlichte. Ich bemerkte es an seinem Blick, mit dem er immer wieder prüfend über mein Gesicht fuhr. Merkte es anhand seiner beiläufigen Berührungen und gehobenen Augenbrauen.
Während ich das Brot und die Suppe aus Finchs Vorratsschrank heruntergeschlungen hatte, hatte ich seine stummen Aufforderungen, ihm zu sagen, was Red Dove noch alles preisgegeben hatte, problemlos ignorieren können. Jetzt jedoch, da ich fertig mit dem Essen war, er direkt neben mir saß und mich durchdringend ansah, fiel es mir nicht mehr ganz so leicht.
Jyn hatte sich dazu bereit erklärt, meinen Vater zu holen, und während wir warteten, erzählte ich Finch und ihm, was genau passiert war. Ich gab alles weiter, was Red Dove mir gesagt hatte. Alles – bis auf die Tatsache, dass ich eine Lüge war.
Ich wollte nichts vor Caeden oder meinem besten Freund geheim halten. Aber ich musste die Sache selbst noch verstehen. Sie akzeptieren. Ich war noch nicht bereit, sie zu teilen und die entgeisterten und mitleidigen Blicke, die darauf folgen würden, zu ertragen.
In den letzten zwei Tagen war so viel passiert, dass es meinen Gedanken schwerfiel hinterherzukommen. Alle Informationen zu verarbeiten, die neu ans Licht gekommen waren. Ich fühlte mich, als wäre mein Kopf mit einem Wollknäuel gefüllt, dessen verworrene Fäden sich ineinander verknotet hatten. Und nun versuchte ich, sie wieder auseinanderzufriemeln. Einen Anfang und ein Ende zu finden.
Also ignorierte ich Caedens ungestellte Fragen, konzentrierte mich darauf, mehr zu essen und zu trinken. Meine zitternden Beine zur Ruhe zu zwingen.
Es gab keinen Weg zurück mehr. Es gab nur noch den Weg nach vorn. Und das machte mir Angst. Denn vor mir lagen tiefe Abgründe und mir hatte niemand beigebracht, eine Brücke zu bauen.
Oh Mann. Die Fäden in meinem Gehirn mussten schwarz sein, wenn ich schon anfing, solch zynische Metaphern zu verwenden. Dabei könnte ich ein sonniges Gelb gebrauchen. Wie die Farbe meiner Unterhose, als ich bei den Falcrons eingebrochen war, um die Lüge meines Lebens zu stehlen. Ich seufzte schwer.
»Alles okay?«, wollte Caeden mit gerunzelter Stirn wissen.
»Alles gut«, murmelte ich abwesend. »Ich habe gerade nur an meine Unterwäsche gedacht.«
Caeden sah gerechtfertigt irritiert aus, während Finch nur grinste. »An die hat Lord Kaltherz bestimmt auch schon einige Gedanken verschwendet«, bemerkte er süffisant.
Caedens Kiefer knackte. »Wenn ich an Unterwäsche denke, dann stellt sich mir nur eine Frage: Wie oft hast du dir schon in deine gemacht, während du feige für Fawn auf unserem Dach Schmiere gestanden hast?«
Finch hob eine Augenbraue. »Finde ich es als Einziger bedenklich, dass dein süßer Freund mich offensichtlich auf sehr intimer Ebene kennenlernen möchte?«, wollte er wissen und sah vielsagend zu mir. Ich stieß einen weiteren dramatischen Seufzer aus, ignorierte ihn jedoch ansonsten.
Finch und Caeden schienen innerhalb der letzten Sonnenschritte zu dem stummen Einverständnis gekommen zu sein, dass sie sich nicht mochten und dass das okay war.
Ich hatte keinen Nerv, sie zur Vernunft zu ermahnen, deswegen ließ ich sie weiter ihre alberne Unterwäschediskussion führen, ihre Theorien über die Rote Wand austauschen und ihre männlichen Errungenschaften der letzten Wochen vergleichen, während ich das Wochenblatt heranzog, das heute früh erschienen war.
Prinzessin Alphias Gesicht lächelte mir darauf entgegen. Säure stieg meinen Hals hinauf und verätzte meine Zunge. Über ihr prangte nur eine Zeile: Prinzessin Alphias glorreiche Rückkehr.
Ich brachte es nicht über mich, den gesamten Artikel zu lesen. Eigentlich wollte ich auch gar nicht wissen, in wie vielen Details das Wochenblatt die fantastische Errungenschaft der Prinzessin, die Wissensjäger ein für alle Mal zerschlagen zu haben, glorifizierte. Sie hatten keine Einzelheiten über die Opfer gedruckt, die es gegeben hatte. Einerseits war das gut, weil es bedeuten konnte, dass es womöglich gar nicht allzu viele gegeben hatte. Andererseits war das schlecht, weil wir noch immer nicht wussten, wie viele der Wissensjäger überlebt und wie viele von ihnen hingerichtet worden waren.
Es gab nur einen Absatz, den ich genauer studierte. Dort wurde davon berichtet, dass die Prinzessin anstelle ihres Bruders Mentanos Thron einnehmen würde. Als Dank für ihre außerordentlichen Dienste. Die Krönung würde morgen stattfinden, einen Tag vor dem Friedensfest, auf dem ihre Majestät gebührend gefeiert und danach auf dem Marktplatz im gelben Ring dem Volk vorgestellt werden sollte.
Dafür gefeiert werden, ihre Freundin hintergangen, etliche Menschen ermordet und die Geheimnisse des Königshauses erfolgreich für sich behalten zu haben. Und die Bewohner Mentanos würden wahrscheinlich auch noch erleichtert darüber sein, dass sie die gefährlichen Wissensjäger aus dem Weg geschafft hatte. Mein Magen zog sich bitter zusammen.
Wann hatte unser Volk aufgehört, Entscheidungen und Geschehnisse zu hinterfragen? Wie hatte es so weit kommen können? Wie hatten Abertausende Menschen immer und immer wieder aufs Neue getäuscht werden können?
Ich schlug die Seite um und ein weiteres mir bekanntes Gesicht sah mir entgegen. Der Ausdruck auf diesem war jedoch um einiges grimmiger als der der Prinzessin.
Es war Caeden. Er wurde im ganzen Land gesucht, weil er sich zusammen mit den Wissensjägern gegen das Königshaus verschworen haben sollte. Womöglich war das die einzige Wahrheit, die auf diesen Seiten zu finden war.
»Sie wissen nicht, dass Jyn ebenfalls Teil der Wissensjäger ist«, murmelte ich und unterbrach somit Finch, der gerade in voller Länge erklärt hatte, welch gefährliche Aufträge er schon für Crow erfüllt hatte.
»Nein«, bestätigte Caeden. »Deswegen glaube ich, dass unsere Mutter zumindest noch für einige Wochen sicher ist. Sie weiß nicht, was Jyn und ich hinter ihrem Rücken getan haben. Sie muss die Roten Magier nicht belügen. Sie ist äußerst beliebt im weißen Ring. Es wäre zu riskant für den König, sie jetzt aus dem Weg zu schaffen.«
Das war wirklich nur ein sehr kleiner Trost, aber immerhin etwas. Eine Sache weniger, über die wir uns innerhalb der nächsten Tage Gedanken machen mussten.
»Sag mal, was ist eigentlich deine Theorie, Fawn?«, fragte Finch und sah mich neugierig an. »Was, glaubst du, verbirgt die Rote Wand? Wie ist sie zu zerstören?«
Ich hob hilflos die Schultern und wünschte, dass ich eine vernünftige Antwort auf seine Frage hätte. Mir blieb es erspart, ihm zu sagen, dass ich in Bezug auf die Rote Wand nicht schlauer war als er. Denn in diesem Moment ging die Tür auf. Wir hatten alle Fensterläden geschlossen und nur ein paar Kerzen im Innenraum entzündet, um nicht allzu viel Aufmerksamkeit von außen auf uns zu ziehen. Dennoch waren die drei Gesichter, die jetzt erschienen, deutlich zu erkennen. Es waren Jyn, mein Vater und …
»Cora!«, stieß ich aus und sprang von meinem Stuhl auf. Es tat so gut, meine Schwester zu sehen, dass sofort neue Tränen in meine Augen schossen. Liebe Güte, wie konnte ich so viel Blut verloren und trotzdem noch genug Flüssigkeit übrig haben, um zu weinen? Es war mir ein Rätsel. Ein Rätsel, für das Cora sich offenbar nicht interessierte.
»Du!«, schrie sie, sobald die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Ihr Gesicht war rot vor Wut, doch auch in ihren Augen standen Tränen. »Was denkst du dir dabei, mich so zu quälen?«, wollte sie vorwurfsvoll mit lauter Stimme wissen und hatte in wenigen Schritten die Distanz zwischen uns überwunden. Ich fürchtete erst, dass sie mich schlagen wollte. Doch stattdessen zog sie mich fest in die Arme. »Ich bin krank gewesen vor Sorge!«, rief sie mir unangenehm laut ins Ohr. »Wie kannst du einfach so abhauen, ohne dich zu melden? Und Finch war wirklich keine große Hilfe.« Sie warf meinem Freund einen wütenden Blick zu. »Er hat mir nur immer wieder gesagt, dass schon alles gut werden würde.«
Finch sah betreten zu Boden. »Ich wusste nicht, dass ich damit lügen würde.«
Cora beachtete ihn gar nicht. Sie zog sich gerade weit genug zurück, um mir in die Augen sehen zu können. »Was denkst du dir dabei, als Spionin anzuheuern? Wie kannst du nur so leichtsinnig sein? Und dann trittst du auch noch den Wissensjägern bei? Möchtest du unbedingt umgebracht werden?«
»Das habe ich auch gesagt«, murmelte Caeden.
Verärgert sah ich ihn an, unterließ es jedoch, Cora darüber zu unterrichten, dass ich tatsächlich beinahe umgebracht worden wäre. Sie würde das nur falsch auffassen.
»Ich hab mir das alles nicht ausgesucht. Nun, als Spionin anzuheuern, vielleicht schon, aber …« Ich brach ab, denn es gab nichts, was ich sagen konnte, um mein Verhalten zu rechtfertigen. Ich seufzte schwer. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass das alles so weit kommt. Aber es ist, als hätte ich einen Kiesel angestoßen, der allen Dreck und jedes Problem, das auf seinem Weg lag, einfach so mit sich gezogen hat. Ich wollte doch nur die Wahrheit wissen. Warum Mutter …« Ich brach ab und mein Blick flackerte zu meinem Vater. Er stand mit steifem Rücken und verschränkten Händen an der Wand und sah stumm unserer Unterhaltung zu. Ich war fast überrascht, dass er wirklich gekommen war. Ich hatte fest damit gerechnet, dass er nichts mit mir, der Verräterin, zu tun haben wollte.
Zitternd zog ich Luft durch den Mund ein. »Es tut mir leid, Cora«, wisperte ich erneut und meine Stimme brach. »Ich wollte das alles nie. Aber mit jeder Lüge, die ich aufgedeckt habe, wurde eine neue Frage aufgeworfen. Und ich konnte nicht einfach nichts tun. Nicht, während wir alle hinters Licht geführt, ausgenutzt und verfolgt werden.«
Meine Schwester blinzelte verwirrt und sah sich verängstigt im Raum um. »Ich verstehe nicht. Wer wird ausgenutzt? Wer hinters Licht geführt? Und was macht Lord Falcron hier?« Entsetzt weiteten sich ihre Augen und sie sprang zurück. »Er wird gesucht. Er hat sich gegen das Königshaus verschworen!«
»Ja, ich weiß«, erwiderte ich leise. »So wie ich auch.«
»Also ist es wahr?« Ihre Augen glänzten verräterisch und sie presste beide Hände über ihren Mund, sodass ihre nächsten Worte nur gedämpft hervorkamen. »Du bist wirklich eine Wissensjägerin?«
Ich schluckte und schüttelte den Kopf. »Nein, nicht wirklich. Aber unschuldig bin ich nach Ansicht des Königs oder der Prinzessin wohl auch nicht.« Schwer seufzend schloss ich die Augen. »Cora, ich wünschte, ich könnte dir jetzt sofort alles erklären. Aber uns läuft die Zeit davon. Eigentlich wollte ich nur mit Vater reden, weil …«
»Weil du auf der Suche hiernach bist«, murmelte er plötzlich.
Alle Blicke richteten sich auf ihn und den Gegenstand, den er aus seiner Manteltasche gezogen hatte. Es war ein metallenes quadratisches Kästchen. Alt und verrostet. Kaum größer als seine Hand. Vor Ewigkeiten war auf dem Deckel vielleicht einmal eine rote Blume zu sehen gewesen. Doch mittlerweile war sie so verblasst und zerkratzt, dass es schwer zu erkennen war.
Mit geöffnetem Mund starrte ich ihn an. Es war ein Kästchen. Mit viel Fantasie könnte man es als Schatulle bezeichnen. »Woher hast du das?«, fragte ich atemlos.
Mein Vater senkte den Blick auf seine Fußspitzen und sah in diesem Moment so alt und verletzt aus, dass ich dem Drang widerstehen musste, zu ihm hinüberzulaufen und seine Hand zu nehmen. Ihm zu versichern, dass ich ihn jetzt besser verstand. Dass ich wusste, dass er unsere Familie nicht einfach so aufgegeben hatte. Dass er gekämpft und verloren hatte. Er hatte meine Mutter geliebt – doch er war unter der Last ihrer Lügen zusammengebrochen. Es war zu viel gewesen. Und ich verstand ihn. Mir war es auch zu viel.
Ja, er hätte sich mit mir mehr Mühe geben können. Zumindest versuchen können, eine tiefere Beziehung zu mir aufzubauen. Aber welche Wahl hatte er schon gehabt? Mir zu sagen, dass ich kein Mensch, sondern lediglich eine Erfindung war? Mein Vater hasste es zu lügen – und meine Mutter hatte ihn dazu gezwungen, es jeden Tag zu tun.
»Lyn hat es mir zwei Tage vor ihrem Tod gegeben«, murmelte er. »Sie meinte, ich solle es dir überlassen, wenn du danach fragst. Ich hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass dieser Tag nie kommen möge. Dass du dich nicht in ihre Lügen verstrickst. Aber ich hätte es besser wissen sollen.« Seine Stimme hörte sich müde an. Erschöpft. Nicht vorwurfsvoll oder wütend. Einfach nur … traurig. »Als Jyn meinte, du müsstest mich sprechen, wusste ich, dass es hierum gehen würde. Sonst hättest du mich nie freiwillig aufgesucht.«
Ich nickte, hasste es, dass er recht hatte, und wischte mir neue, einzelne Tränen aus den Augenwinkeln. »Was befindet sich darin?«
»Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Ich habe es nie geöffnet. Habe es nicht geschafft. Mir fehlt der Schlüssel, und als ich versucht habe, es aufzubrechen, habe ich lediglich einige meiner Werkzeuge demoliert.«
»Jemand hat es mit weißer Magie gestärkt«, murmelte Caeden und deutete auf das rostige Schloss, das weiß glänzte.
»Aber was tun wir dann?«, fragte Finch und lehnte sich auf seinem Topf zurück. Er besaß noch immer nicht mehr als zwei Stühle. »Wir haben den Schlüssel nicht.«
Ich rieb mir über die Stirn und lachte trocken auf. »Doch, ich glaube, ich habe ihn.« Denn ich besaß bereits seit fünf Friedensjahren einen Schlüssel, von dem ich nicht wusste, zu welchem Schloss er gehörte. Doch jetzt stand außer Frage, dass meine Mutter ihn mir nicht zufällig hinterlassen hatte.
»Sprichst du von dem Schlüssel, den du in meiner Küche versteckt hast?«, wollte Cora vorwurfsvoll wissen.
Mit offenem Mund starrte ich sie an. »Was?«, fragte ich unschuldig.
»Oh, tu nicht so!«, meinte sie verärgert. »Ich habe dein kleines Versteck in der Wand gefunden! Wie viele verdammte Geheimnisse hast du vor mir verborgen?«
Ich hatte die vage Ahnung, dass es meiner Gesundheit schaden würde, wenn ich ihr die Wahrheit erzählte, deswegen hob ich nur unverbindlich eine Schulter. »Nur ein paar«, log ich. »Du hast die Dinge nicht zufällig …?«
»… mitgebracht?«, beendete sie meinen Satz und stülpte im nächsten Moment ihre Taschen um. Diverse Habseligkeiten segelten zu Boden. »Doch, natürlich habe ich sie mitgebracht. Sie gehören dir und ich wusste nicht, wann ich die nächste Chance bekommen würde, sie dir zu geben. Also habe ich sie geholt, bevor wir hergekommen sind.«
Meine Kehle schnürte sich enger und ich hockte mich hin. Da waren sie. Die letzten Überbleibsel meiner Mutter. Ein Paar rote Handschuhe, eine rotgoldene Brosche, in die das Motto der Roten Magier graviert war … und ein kleiner Schlüssel. Mit zitternden Fingern hob ich ihn auf und nahm auch das Kästchen entgegen, das mein Vater mir reichte.
Ich spürte die neugierigen Blicke der Anwesenden auf mir. Verstand, dass sie darauf brannten zu erfahren, was sich darin befand. Mir würde es an ihrer Stelle genauso gehen. Aber ich war noch nicht bereit, es mit ihnen zu teilen. Nicht, bevor ich selbst nicht wusste, was es war.
»Entschuldigt mich«, flüsterte ich und presste das Kästchen an meine Brust, bevor ich in Finchs Schlafzimmer verschwand und die Tür hinter mir schloss.
Das Metall fühlte sich kalt und rau in meinen Händen an. Aber es war leicht. Besaß kaum Gewicht. Ich sank langsam auf die Strohmatratze, umklammerte fest den Schlüssel … doch brachte es nicht über mich, ihn ins Schloss zu stecken. Die Schatulle zu öffnen.
Was, wenn mir nicht gefiel, was ich darin fand? Wenn sie nur eine weitere hässliche Seite Mentanos … oder meines Lebens preisgab?
Wenn du bereit bist, die Wahrheit zu akzeptieren. Deine Wahrheit. Wenn du verstehst, warum du besonders bist. Dann bitte deinen Vater darum, dir die Schatulle zu geben.
Das waren Crows Worte gewesen. Ich verstand nun, warum ich besonders war. Aber ich wusste nicht, ob ich bereit war, diese Wahrheit zu akzeptieren.
»Warum hast du es mir so schwer gemacht, Mama?«, wisperte ich heiser und vergrub mein Gesicht in den Händen. »Warum hast du aufgehört, nach der Wahrheit zu suchen? Warum konntest du mir diese Aufgabe nicht abnehmen? Du warst doch so kurz davor, alles herauszufinden. Warum konntest du nicht weiter nach der Wahrheit suchen und mich gleichzeitig schützen?«
Doch niemand antwortete mir. Meine Mutter war fort. Und in meinem Schoß lag der letzte Hinweis, den ich jemals von ihr bekommen würde. Fahrig wischte ich die Tränen weg, die schon wieder meine Wangen erobert hatten, und steckte den Schlüssel an seinen angestammten Platz. Er passte perfekt und ich war nicht einen Herzschlag lang überrascht. Ich glaubte nicht an Glück und ich glaubte nicht an Zufälle.
Vorsichtig drehte ich ihn … bis ein sanftes Klicken erklang und der Deckel aufsprang. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich das Kästchen näher an mein Gesicht hielt. Es war fast leer. Es befand sich nur ein einzelnes gefaltetes Stück Pergament darin. Ein Wort, mit blauer Tinte darauf geschrieben. Fawn.
Ich erkannte die Handschrift meiner Mutter sofort. Schräg, fein und gestochen scharf. Nicht schludrig und eckig so wie meine. Sondern rund und hübsch.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, legte die Dose beiseite und öffnete den Brief.
Liebe Fawn,
ich wünschte, ich müsste dich nicht so früh verlassen. Ich wünschte, ich hätte genug Zeit gehabt, um dir alles zu erklären. Aber Zeit ist das Einzige, das mir fehlt. Ich habe zu viele Steine umgedreht, zu viel Aufmerksamkeit auf mich gelenkt. Der König kann es sich nicht leisten, mich länger leben zu lassen. Meine Tage sind gezählt und ich weiß es. Wenn ich weglaufe und mich verstecke, werdet du und deine Geschwister nie sicher sein. Die Roten Magier werden euch befragen, euch observieren, jeden Tag damit rechnen, dass ich Kontakt zu euch aufnehme. Und wenn sie dich beobachten, werden sie sehr schnell herausfinden, dass du anders bist. Und anders zu sein, ist in Mentano nichts Gutes.
Mittlerweile weißt du wahrscheinlich längst, warum du besonders bist. Dein Vater wird es dir erklärt haben. Auch wenn ich ihn immer und immer wieder darum gebeten habe, es zu lassen. Denn ich wollte nicht, dass du dich schlecht deswegen fühlst. Dass du glaubst, aufgrund deiner Entstehung nicht menschlich zu sein. Dass du denkst, weniger wertvoll zu sein. Denn das bist du nicht.
Fawn, ich kann die Fehler, die ich gemacht habe, nicht mehr an meinen Fingern abzählen. Aber ich weiß, dass du keiner warst. Es mag nicht richtig gewesen sein, was ich getan habe, doch ich kann es ebenso wenig bereuen. Denn wenn ich nicht so verzweifelt wie an diesem Abend gewesen wäre, wenn ich meine Magie nicht genutzt hätte … Dann würdest du nicht existieren. Und mein Leben wäre um einiges trostloser und leerer gewesen. Ich liebe dich mit ganzem Herzen. Wie nur eine Mutter eine echte Tochter lieben kann. Du bist klug und witzig. Neugierig und scharfsinnig. Und genau aus diesem Grund weiß ich, dass du meinen Tod nicht hinnehmen wirst. Dass du nach Gründen suchen und fündig werden wirst. Und ich kann mir nicht einmal wünschen, dass du es nicht tust. Denn es würde bedeuten, dass du nicht mehr die fantastische Tochter bist, die ich zurückgelassen habe.
Doch deswegen wird dein Leben schwerer sein als das anderer. Weshalb ich versucht habe, dir beizubringen, wie du dich selbst verteidigen kannst. Den Rest wird dir Crow zeigen. Er ist ein guter Mann und wird auf dich aufpassen.
Vermutlich fragst du dich, warum ich dich nicht mehr in deinen Fähigkeiten unterrichtet habe. Warum ich dir vorgelogen habe, dass du die Kontrolle verlieren und dich selbst umbringen könntest. Wahrscheinlich war es ein Fehler. Wahrscheinlich hätte ich dir mehr mit auf den Weg geben sollen. Aber ich wollte dir schlichtweg nicht deine Kindheit nehmen. Dir zumindest ein paar Jahre lassen, in denen du so bist wie jeder andere. Ich hatte zu große Angst, dass du zu früh herausfindest, wer du bist. Dass das Königshaus dahinterkommt und dich als Bedrohung einschätzt. Mir war von vornherein klar, dass dir die rote Magie zufliegen würde. Dass du intuitiv mit ihr umgehen könntest. Dass du sie anders und besser nutzen könntest als je ein Roter Magier vor dir. Wie sollte es anders sein?
Aber ich hatte gehofft, dir zumindest noch ein wenig Zeit geben zu können. Ein paar Friedensjahre, in denen du unbeschwert mit Finch Blödsinn anstellen und deinen Träumen nachhängen kannst. Es ist gut zu träumen. Wenn man es nicht tut, wird man niemals etwas erreichen. Niemals etwas ändern.
Jeder sollte seinen Weg selbst vorherbestimmen können. Du auch. Ich weiß, im Moment fühlt es sich nicht so an, als ob du eine Wahl hättest. Als würdest du es deinem Land, den Menschen, die du liebst, schulden, weiter nach der Wahrheit zu suchen. So habe ich mich gefühlt und du warst mir schon immer sehr ähnlich. Aber ich möchte, dass du weißt, dass das nicht stimmt. Du kannst aufhören. Du musst den Weg nicht zu Ende gehen. Du kannst alles, was du womöglich bis jetzt herausgefunden hast, vergessen und leben. Einfach leben. Ich würde es dir niemals zum Vorwurf machen. Und niemand anderes sollte es tun.
Also höre jetzt auf, den Brief zu lesen, wenn du auf weitere Wahrheiten verzichten willst. Wenn du nur ein ruhiges Leben führen willst.
Meine Mutter hatte hier einen Absatz gesetzt. Wahrscheinlich, um mir tatsächlich die Möglichkeit zu geben, aufzuhören zu lesen. Doch sie hatte unrecht. Ich hatte keine Wahl. Keine besonders gute zumindest. Ein ruhiges Leben innerhalb der Roten Wand war unmöglich. Ich konnte meine restlichen Friedensjahre damit verbringen, vor Red Dove zu fliehen … oder beenden, was ich angefangen hatte. Und ich wählte Letzteres. Also las ich weiter.
In Ordnung. Du hast schon immer den schweren Weg gewählt.
Dann verrate ich dir, was ich herausgefunden habe.
Prinzessin Alphia lebt. Sie soll innerhalb der nächsten Wochen als Spionin in den grauen Ring geschleust werden, um die Wissensjäger von innen zu zerstören. Die Angriffe auf die Kuppel sind fingiert. Vermutlich ist Familie Legg für sie zuständig. Das Bündnis möchte uns nicht zerstören. Ich weiß nicht, ob es den Schwarzen Krieg wirklich gab. Aber wenn er tatsächlich existiert hat, dann nicht, weil jemand unsere Diamanten stehlen wollte. Ebenso wenig weiß ich, wie die Rote Wand entstanden ist. Doch ich weiß, womit sie gefüllt ist. Mit Lügen. Mit blutroten, purpurnen, malvefarbenen Lügen. Wahrscheinlich die stärksten, die das Königshaus finden kann. Oder einfach besonders viele. Oder beides.
Deswegen ist die Wand rot. Sie befüllen sie mithilfe eines Behälters im roten Ring. Der muss zerstört werden, bevor die Wand endgültig vernichtet werden kann. Der Rest … ist nicht ganz klar.
Aber ich habe in den letzten Wochen vor allem eines gelernt: Lüge und Wahrheit sind viel enger miteinander verwoben, als ich dachte. Das eine kann nicht ohne das andere existieren. Rote Magie und Weiße Magie sind nur hübsche Worte für Lügen- und Wahrheitsmagie. Jeder, der mit Lügen Magie hervorrufen kann, kann es auch mit der Wahrheit. Die meisten haben nur vergessen, wie. Aber ich glaube, dass das der Schlüssel zur Zerstörung der Wand sein könnte. Der letzte Schritt. Weiße Magie, nicht rote.
Es tut mir leid, dass ich dir nicht mehr sagen kann. Es gibt nur noch eine Sache, die ich dir mit auf den Weg gebe: Die Wand ist nicht einfach eine Wand, Fawn. Sie birgt Geheimnisse. Geheimnisse, die du nur dort lüften kannst.
Und ich hoffe fast, dass du es niemals tust.
Ich habe aufgehört, nach der Wahrheit zu suchen, weil ich sie nicht verfolgen und dich gleichzeitig schützen konnte. Ich weiß, das verstehst du jetzt noch nicht, aber wenn du zur Wand gehst, wirst du es.
Es tut mir leid, dass du leiden musstest. Dass du deinen Vater und mich so oft hast streiten hören. Dass ich deine Magie eingeschränkt habe. Dass ich dich allein lassen werde. Wenn ich könnte, würde ich es dir leichter machen. Dir all den Schmerz nehmen, den du schon durchlitten hast. All den Schmerz von dir fernhalten, der noch kommen wird.
Doch Schmerz ist genauso Teil von uns wie Glück. Verlust ebenso wichtig wie Freude. Dass wir dazu fähig sind, so viel zu fühlen, sei es auch noch so schrecklich, ist das, was uns menschlich macht. Was uns besser macht als das Königshaus. Mächtiger.
Also verlier dein Mitgefühl nicht. Wünsch dir nicht, dass du abstumpfst. Denn unsere Gefühle sind das Einzige, was uns dazu bringt, das Richtige zu tun.
Ich liebe dich, Fawn. Mehr, als ich jemals sagen könnte. Ich habe nichts lieber getan, als Teil von deinem Leben zu sein. Küss Cora und Trent von mir. Denn ihr drei seid das Beste, was ich jemals zustande gebracht habe.
Deine Mutter
Meine Tränen fielen auf das Pergament und verwischten die eingetrocknete Tinte. Das Laternenlicht über mir brach sich darin, malte Regenbögen in die Luft. Ich presste die Hand vor meinen Mund, um meinen Schluchzer zu ersticken … Doch dann ließ ich es. Denn meine Mutter hatte recht. Ich wollte nicht abstumpfen. Ich wollte meine Gefühle nicht verstecken. Denn ich brauchte sie, um weiterzumachen. Ich brauchte den Schmerz, damit er mich antrieb. Ich musste meinen Mitmenschen vertrauen, damit ich wusste, wofür es sich lohnte zu kämpfen. Ich wollte das Gefühl des Verlusts, das ich empfand, wenn ich an meine Mutter und Crow dachte, nicht vergessen. Denn damit, dass ich sie vermisste, machte ich ihr verlorenes Leben wertvoller.
Also weinte ich und weinte und ließ die Tränen unaufhaltsam ihren Weg meine Wangen hinabfinden. Ich weinte um das, was mir genommen worden war. Ich weinte um die Zeit mit meiner Mutter, die ich nicht gehabt hatte. Ich weinte um Crow, ich weinte um Robyn. Ich weinte um die Wissensjäger, die womöglich ihr Leben für ihre Überzeugung gelassen hatten. Und dann weinte ich um mich. Darum, was noch vor mir lag. Darum, dass ich nicht normal sein konnte. Darum, dass ich es sein musste, die den Krieg mit dem Königshaus beendete. Obwohl die meisten Bewohner noch nicht einmal wussten, dass wir ihn führten.
Ich weinte, bis ich keine Tränen mehr übrig hatte. Bis der Brief in meinen Händen durchnässt war. Bis ich mich wieder mutig fühlte. Bis ich das Kinn wieder recken und meinen Atem wieder beruhigen konnte. Ich hatte den schweren, aber richtigen Weg gewählt. Und es war okay. Irgendwer hatte es tun müssen.
Mit einem leisen Quietschen ging die Tür auf und ich hob den Blick. Ich rechnete mit Caeden oder vielleicht auch Finch, doch ich wurde überrascht. Es war mein Vater, der in den Raum trat und leise die Tür hinter sich schloss.
Ich machte mir nicht die Mühe, die Tränenspuren aus meinem Gesicht zu wischen. Ich schämte mich nicht für sie.
Einige endlose Atemzüge lang sah mein Vater mich einfach nur an. Blickte zu dem Stück Papier in meinen Händen und zurück in meine Augen. Schließlich, nach einer halben Ewigkeit, sank er vorsichtig neben mir aufs Bett.
»Du weißt es«, sagte er ruhig.
Er musste nicht erklären, was er meinte. Ich wusste es auch so. Also nickte ich nur.
»Es tut mir leid«, murmelte er nach einer Weile und berührte mit seinen Fingern sacht meinen Handrücken.
»Du hast es mir nie gesagt«, meinte ich resigniert und meine leise Stimme verlor sich im Raum. »Mutter hat befürchtet, dass du es tust, aber … du hast geschwiegen. All die Friedensjahre. Warum?«
Mein Vater seufzte schwer und aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie er den Blick senkte. »Weil sie mich darum gebeten hat. Und weil du bereits genug Probleme hattest. Weil du dich seit dem Tod deiner Mutter ohnehin wie eine Außenseiterin in deiner eigenen Familie gefühlt hast. Und ich nicht auch noch dazu beitragen wollte.«
Meine Kehle schnürte sich enger. »Aber du hast dazu beigetragen«, wisperte ich mit belegter Stimme und konnte nicht anders, als vorwurfsvoll zu klingen. »Du hast nie dafür gesorgt, dass ich mich wirklich wohl oder heimisch zu Hause fühle. Du hast mich immer wissen lassen, dass du Cora oder Trent bevorzugst.«
Er schüttelte müde den Kopf. »Es ist nicht wahr. Dass ich sie bevorzuge. Dass ich sie mehr liebe als dich. Du bist meine Tochter, Fawn. Nichts, was deine Mutter getan hat, könnte etwas daran ändern. Ich weiß, dass ich dir dieses Gefühl nicht immer gegeben habe – aber es ist die Wahrheit. Es hat mich eine lange Zeit nur sehr wütend gemacht, dich anzusehen. Ich hätte dich das niemals spüren lassen dürfen, aber wenn ich in dein Gesicht gesehen habe, habe ich all die Lügen gesehen, die deine Mutter mir jemals erzählt hat. Und es waren zu viele. Als sie gestorben ist, wusste ich nicht, was ich tun soll. Um dich zu schützen. Denn mir war klar, dass wir – du, deine Geschwister und ich – die nächsten Opfer auf der Liste des Königshauses sein würden, wenn wir uns irgendwie auffällig verhielten. Und du hast dich immer auffällig verhalten, Fawn.« Ein kleines Lächeln zierte seine Züge. »Du warst schon immer zu rebellisch, zu neugierig und zu mutig für dieses Land. Du hast Fragen gesehen, wo andere Antworten gefunden haben. Und je vehementer du mich über den Tod deiner Mutter ausgefragt hättest, je mehr du über deine eigene Magie erfahren hättest … desto ehrlicher hätte ich dir geantwortet. Denn ich bin kein guter Lügner. Ich habe Lügen noch nie gemocht. Also erschien es mir das Sicherste, dir nicht die Chance dazu zu geben. Dir zu zeigen, dass der Tod deiner Mutter nichts Besonderes ist. Nichts, worüber du mehr in Erfahrung bringen solltest. Auch wenn du mich dafür gehasst hast.« Zögerlich griff er nach meiner Hand und drückte sie. »Ich wollte einfach nicht, dass du wie Lyn endest. Getrieben von Geheimnissen, die es unmöglich machen, eine heile Familie zu haben. Und egal, was du denkst. Ich habe deine Mutter geliebt. Sie war es, die mich nicht genug geliebt hat, um ihre Suche nach der Wahrheit aufzugeben.«
Neue Schluchzer schüttelten meine Brust und ich schloss die Augen. Konnte den ehrlichen Schmerz in seinen nicht ertragen.
»Ich dachte, du hasst mich dafür, dass ich ihr so ähnlich bin. Dass ich rote Magie beherrsche.«
»Ich liebe, dass du ihr so ähnlich bist. Ich wünschte nur, dass es in Mentano Platz gäbe für Menschen wie dich und deine Mutter. Doch den gibt es nicht. Das Königshaus duldet es nicht. Und da ich dich, Cora und Trent schützen wollte, musste ich mich an die Regeln halten. Und deine Mutter hat uns alle in Gefahr gebracht.«
»Ich weiß«, wisperte ich erstickt. »Aber es ist nicht gerecht. Es ist nicht richtig. Dass wir hinter einer Wand gefangen gehalten werden, die nicht nötig ist. Dass uns verboten wird, neugierig zu sein und Fragen zu stellen. Dass Menschen in Magier und Nicht-Magier unterteilt werden. Dass die einen sich in weichen Federn wälzen, während die anderen sich die Haut von den Knochen arbeiten. Und ich weiß, dass die meisten denken, dass das nicht zu ändern ist. Dass sie sich mit dem System arrangieren müssen. Aber ich denke das nicht. Ich weiß, dass es anders ist. Und wenn es sich nicht dafür lohnt zu kämpfen, wofür dann? Ich muss es doch zumindest versuchen.«
Mein Vater sah mich gequält an und ich konnte Tränen in seinen Augen glitzern sehen. »Du bist weitaus mutiger als ich, Fawn.«
»Ich bin es nicht. Ich habe so viel Angst, dass meine Lunge jederzeit droht, zu zerplatzen«, widersprach ich heiser. »Aber ich kann nicht still sitzen und nichts tun, während Menschen verschwinden und ermordet werden, nur weil sie etwas wissen, dass sie nicht wissen sollten. Wenn ich nur stumm dabei zusehe, bin ich ebenso an ihrem Tod schuld, wie Red Dove es ist. Also muss ich es beenden.«
Ich hörte, wie mein Vater schluckte, bevor er mich fest ansah. »Du willst zur Wand.«
Es war eine Feststellung, dennoch nickte ich.
»Und ich kann dich nicht davon abhalten?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Gut«, sagte er nüchtern. »Dann lass mich dir helfen.«