KAPITEL 20

Meine Hand löste sich vom kalten Glas und ich fiel auf die Knie. Das Hemd klebte an meiner Haut. Durchtränkt von Schweiß und Angst. Meine Lippen zitterten. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Afilo hatte das getan, was ich beinahe bei Caeden geschafft hatte. Er hatte die Magie seines Vaters zu seiner Magie gemacht. Sie verändert. Sie beschmutzt. Rote Magie benutzt. Lügenmagie. Seine eigene Wahrheit kreiert.

So, wie Caeden es versucht hatte, als er mir erzählt hatte, dass er keine Gefühle für mich hätte. Er hatte versucht, seine Lüge als Wahrheit zu verkaufen. Und Afilo war es geglückt. Sein Wille war so stark gewesen. So unbeugsam.

Ich schloss die Augen, während das Blut in meinem Kopf rauschte. Das Glas aus der Wand war die Wahrheitsmagie, mit der Afilo und sein Vater sich bekämpft hatten. Das rote Innere die Lügen, mit denen er ihn getötet hatte. Mit denen er ein gesamtes Volk getäuscht hatte. Doch seitdem war die Lüge mit anderen ergänzt worden. Die roten Magier stärkten die Wand seit Hunderten von Friedensjahren. Mit all den Lügen, die den Bewohnern Mentanos täglich so leichtfertig über die Lippen kamen.

»Es gab keinen Krieg. Es gab nur einen einzigen Kampf, oder?«, flüsterte Caeden und sank neben mir auf den sandigen Boden. »Afilo … Er hat seinen Vater umgebracht. Die Wand erschaffen.«

Ich nickte, mein Geist noch immer wie betäubt.

»Aber worum ging es in dem Streit? Ich habe ihn nur gesehen, nicht gehört …«

»Abrahl wollte die Krone ablegen. Jedem Bewohner seines Landes eine Stimme geben und sie ihren Anführer wählen lassen. Er wollte Gerechtigkeit für jeden. Gemeinsam mit dem Bündnis die benachbarten Länder von bösen Tyrannen befreien, Flüchtende aufnehmen. Ressourcen teilen. Und Afilo wollte nichts anderes, als seine Macht zu behalten.«

Meine Stimme klang hohl und hoch … und wurde im nächsten Moment von einem ohrenbetäubenden Klirren und Reißen übertönt. Erschrocken zuckte ich zusammen und robbte panisch rückwärts von der Wand weg, die den Ton von sich gegeben hatte. Caeden folgte mir. Mit blassem Gesicht und geöffnetem Mund starrte er auf das milchige Glas direkt vor uns ….

»Das kann doch nicht …«

Doch es war wahr. Da war ein Riss. Ein schmaler dünner Riss, der sich durch die Materie gefressen hatte. Der wie ein Blitz die Wand zum Himmel emporkletterte, bis er nicht mehr zu erkennen war.

»Was ist passiert?«, hauchte ich verständnislos und sah Caeden verwundert an.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er ebenso verwirrt wie ich und ließ den Kopf in den Nacken fallen, um die Wand hinaufzusehen. »Ich kann kein Ende erkennen. Ich glaube … er reicht bis zur Kuppel. Vielleicht sogar durch die Kuppel hindurch.« Kopfschüttelnd blickte er zu mir. »Wie hast du das gemacht?«

»Ich hab keine Ahnung«, sagte ich perplex. »Und wie meinst du das: Der Riss könnte sogar bis durch die Kuppel hindurchreichen?«

Caeden blinzelte mehrfach, den Blick noch immer auf die Wand gerichtet. »Sie bedingen sich gegenseitig. Wand und Kuppel. Sie sind verbunden. Fällt das eine, fällt auch das andere. Ohne die Wand hat die Kuppel nichts mehr, an dem sie sich festhalten kann. Ein Riss in der Wand bedeutet somit ein Riss in der Kuppel. Egal, wie fein er auch sein mag. Aber … ich verstehe nicht …« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Wie ist er überhaupt entstanden? Und – was meinst du damit, König Afilo wollte nur seine Macht behalten? Wie?«

»Er hat seinen Vater umgebracht, damit er seine Pläne nicht umsetzen kann«, wisperte ich und wischte meine klammen Hände am Stoff meiner Hose ab. »Und die Wand erschaffen, um das Bündnis draußen zu halten. Er hat alle belogen, Caeden. Das ganze Land.«

Caeden runzelte die Stirn und sein Blick flog von meinem Gesicht zur Wand und zurück.

Unruhe erfasste mich. »Glaubst du mir nicht?«

Er lachte trocken auf. »Natürlich glaube ich dir, Fawn!«

Erneut zerriss ein Klirren die Wand und mein Herz blieb stehen. Die Hand vor den Mund geschlagen starrte ich das milchige Glas empor … Ein zweiter Riss war entstanden. Er zweigte vom ersten ab. War hauchdünn und dennoch sichtbar.

»War ich das?«, fragte Caeden perplex.

Ich antwortete nicht. Wusste nicht, was ich dazu sagen konnte. Wusste nur, dass er es gewesen sein musste.

»Wie kann das sein? Wie kann … wie können bloße Worte Glas sprengen?«

Seine Stimme hallte durch die Nacht und trat eine Erinnerung in mir los. Für einen kurzen Augenblick blitzte die blaue und doch eigentlich rote Vase in meinem Geist auf.

»Ich habe schon einmal Glas mit meinen Worten gesprengt«, flüsterte ich erschrocken.

»Was?« Überrascht sah Caeden mich an. »Wann?«

»Bei den Wissensjägern. In meinem Zimmer. Mae hat mir eine Vase mitgegeben, die ich vorher blau gefärbt hatte. Doch sie war ursprünglich rot und als ich diese Wahrheit ausgesprochen habe … ist sie geplatzt.«

»Deswegen lagen auf deinem Boden die ganzen Scherben herum?«, fragte er perplex.

»Das ist es, woran du jetzt denkst?«, erwiderte ich ungläubig.

Er rieb sich über den Hinterkopf. »Na ja, es war ein ungelöstes Rätsel für mich!«

Zittrig lachte ich auf. »Caeden! Verstehst du denn nicht, was das bedeutet?«

»Ich versuche es«, sagte er angespannt. »Aber mein Kopf dreht sich noch immer von den tanzenden weißen Schatten, die ich soeben in der Wand beobachtet habe.«

»Caeden«, wiederholte ich eindringlich und fasste nach seinen Händen. »Ich habe die Vase zerstört, indem ich die Wahrheit ausgesprochen habe. Ihre Wahrheit. Was ist, wenn es bei der Wand genauso funktioniert? Wenn man sie brechen kann … indem man die Wahrheit hinter ihrer Lüge verbreitet? Wenn man die Lüge, die Afilo erfunden hat, vernichtet – und somit auch die Barriere, die er erschaffen hat.«

»Aber wie willst du das tun?«, fragte Caeden und schluckte fest. »Wie zerstörst du eine so große Lüge?«

»Genau so, wie man jede Lüge zerstört, Caeden«, wisperte ich. »Indem die Menschen aufhören, an sie zu glauben.« Zitternd holte ich Luft. »Alles, was wir tun müssen, ist, die Bewohner Mentanos davon zu überzeugen, dass das Königshaus sie belügt. Ihnen zu erzählen, wie die Wand tatsächlich entstanden ist. Warum sie erschaffen wurde. Wenn sie mir glauben … zerspringt die Wand vielleicht von selbst.«

»Aber sie werden dir nicht zuhören, Fawn«, erwiderte Caeden dunkel. »Wie willst du das Land, das dich verfolgt, davon überzeugen, dass du die Wahrheit sagst? Du bist eine Lügendiebin. Eine Wissensjägerin. Eine Mörderin und eine Verschwörerin in ihren Augen.«

»Ich kann es ihnen zeigen«, gab ich aufgeregt zurück. »Genau die Bilder zeigen, die wir gerade gesehen haben. Eine riesige Illusion erschaffen. Sie müssen nur alle zusehen! Vielleicht nicht einmal alle – aber so viele wie möglich. Und vielleicht glaubt mir nicht jeder. Aber wenn sie sehen, wie sich Risse durch die Wand und Kuppel ziehen … dann fangen vielleicht weitere an zu zweifeln. Es ist einen Versuch wert, oder nicht?« Mein Herz flatterte hektisch und nervös in meiner Brust. »Wir brauchen nur genug Aufmerksamkeit. Wir brauchen eine Gelegenheit, bei der mich jeder ansieht. Bei der mir das ganze Land zusieht …«

»Du kommst aus dem grauen Ring und wirst für tot gehalten, Fawn«, murmelte Caeden angespannt. »Du kannst schlecht am Friedensjahresende ein Bankett geben.«

Meine Mundwinkel zuckten nervös. »Nein, natürlich nicht. Aber es muss doch …« Ich hielt inne – und mein Herz übersprang einen Schlag.

Das Friedensjahresende. Morgen war das Friedensjahresende.

»Fawn?« Caeden sah mich besorgt an. »Alles in Ordnung? Du siehst nicht gut aus.«

Ich fühlte mich auch nicht gut. Denn ich hatte eine Idee – und sie war wahnsinnig.

»Fawn?«, wiederholte Caeden.

Ich schluckte, sah auf und rieb mir fieberhaft über die Stirn. »Ich weiß, wie ich genug Aufmerksamkeit auf mich ziehen kann«, wisperte ich. »Wie ich eine Situation erschaffen kann, in der ich die Möglichkeit bekomme, allen Bewohnern Mentanos die Entstehung der Wand zu zeigen.«

Caedens Augen weiteten sich. »Tatsächlich? Warum bist du dann so weiß wie die Wahrheit?«

»Weil die Idee vermutlich sehr, sehr dumm ist. Nicht zu vergessen wahnsinnig. Und gefährlich«, fasste ich mit zitternden Fingern zusammen. »Denn ich werde Prinzessin Alphia am Tag des Friedensfestes zu einem Duell um ihren Platz auffordern.«

Caeden öffnete den Mund einen Spaltbreit, blinzelte, während endlose Augenblicke angespannte, erstickende Stille an uns vorbeizogen … bevor er ruckartig den Kopf schüttelte.

»Nein«, sagte er. Das Wort so scharf, das ich es auf meiner Haut zu spüren meinte.

Ich schluckte und sah ihm fest in die Augen. »Ich muss. Es ist der einzige Tag, an dem ich es tun kann. Am Tag des Friedensfestes dürfen die Bewohner der äußeren Ringe einen Adeligen zu einem Duell um ihren Stand auffordern. Es gibt keine Regel, dass es sich bei einem Mitglied der Königsfamilie anders verhält. Ich darf sie zum direkten Kampf auffordern … und wenn sie einwilligt, dann wird ganz Mentano uns dabei zusehen.«

Die Bedeutung meiner Worte brach über mir zusammen wie eine Welle eiskalten Wassers. Doch in Caeden schien sie zu wüten wie ein loderndes Feuer.

»Nein!«, wiederholte er abgehackt und sprang zornig auf die Füße. »Du kannst Red Dove nicht besiegen, Fawn!«

»Aber das muss ich doch auch gar nicht«, erwiderte ich ruhig und erhob mich ebenfalls. »Ich muss nur die Aufmerksamkeit auf mich ziehen … und dann genug Zeit gewinnen.«

»Aber die wird Red Dove dir nicht lassen!«, fuhr er mich an.

»Vermutlich wird sie dich schon umbringen, bevor du sie überhaupt zum Duell herausfordern kannst.«

Ich sah auf meine Hände, ließ die Gedanken schweifen und schüttelte dann langsam den Kopf. »Das glaube ich nicht«, murmelte ich nachdenklich. »Sie denkt, ich bin tot. Sie wird zumindest ein paar Herzschläge lang überrascht sein, mich zu sehen, oder nicht? Mehr brauche ich nicht, um sie herauszufordern.«

Caeden fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, bevor er angespannt vor mir auf und ab ging. »Du sprichst, als wäre es einfach. Als wäre es ein Kinderspiel, in den Palast zu spazieren, dich vor die verdammte Königin zu stellen und sie zum Kampf aufzufordern. Als würdest du dabei nicht mit jedem Schritt, mit jedem Wort deinen Hals riskieren.«

»Caeden«, wisperte ich, umfasste sein Gesicht fest mit beiden Händen und zwang ihn so zum Stillstand. »Ich glaube nicht, dass es einfach wird. Nichts von dem, was wir in den letzten Wochen getan haben, war einfach. Aber es ist notwendig. Der Tag des Friedensfestes ist morgen, Caeden. Alphia wird an diesem Tag auf dem Marktplatz im gelben Ring dem Volk vorgestellt. Es werden Hunderte von Leuten anwesend sein. Hunderte, die meine Herausforderung mit anhören und sie unter Druck setzen werden, ihr zuzustimmen. Hunderte, die uns vor die Stadt folgen und unserem Kampf zusehen werden. Wir haben keine Zeit, länger darüber nachzudenken. Wir werden keine zweite Chance bekommen. Es ist unsere einzige Möglichkeit, die Wand zu sprengen. Meine einzige Möglichkeit, den Bewohnern die Wahrheit zu zeigen. Was bleibt mir für eine Wahl?«

Ich spürte, wie Caedens Kiefer unter meiner Berührung arbeitete. Bemerkte, wie er die Zähne aufeinanderbiss und die Augen schloss, um mich nicht ansehen zu müssen. »Lass mich es tun. Lass mich sie herausfordern. Gegen sie kämpfen.«

»Das geht nicht und das weißt du. Ich muss es sein. Ich bin die Einzige, die die Macht hat, den Menschen die Wahrheit zu zeigen. Die Einzige, mit der Alphia sich überhaupt auf einen Kampf einlassen wird. Denn es ist persönlich. Sie ist arrogant genug, um die Drecksaufgabe, bei der sie bisher versagt hat, selbst erledigen zu wollen. Sie wird mich vorführen und ein Exempel an mit statuieren wollen – und ich werde sie lassen. Ich kann nicht siegen, aber ich kann genug Herzschläge gewinnen, um eine Illusion zu erschaffen und sie den Menschen zu zeigen.«

Caeden schluckte schwer und schüttelte den Kopf. »Es sollte nicht sein. Nichts von alledem. Wir sollten nicht hier stehen und darüber sprechen, wie du am längsten am Leben bleiben kannst. Wie du genug Zeit gewinnen kannst, um Mentano zu befreien … nur um bei deinem Versuch dennoch zu sterben.«

»Ich werde nicht sterben«, flüsterte ich. »Ich bin zu dickköpfig dafür.«

Caeden lachte heiser und seine Lider zuckten, als er sie öffnete. Seine grauen Iriden waren heller als sonst. Verschwommen. »Dein Dickkopf kann dich nicht vor allem retten, Fawn.«

»Das kannst du nicht wissen«, murmelte ich und lächelte wacklig, fuhr sacht mit dem Daumen über seine Wange »Bis jetzt hat er es getan, oder nicht?«

Caeden ließ seine Stirn gegen meine sinken. Er fuhr mit seinen Händen in meine Haare, als fürchte er, mein Kopf könne ihm abhandenkommen, wenn er ihn nicht festhielt. »Aber was, wenn er dich jetzt hängen lässt? Wenn Red Dove nicht so handelt, wie du es voraussagst?«

»Dann werde ich kämpfen. So gut es geht. Und du kannst mir gerne dabei helfen. Ich hab gehört, du bist ein recht passabler Weißer Magier.«

Wieder lachte Caeden, auch wenn sich die Töne angestrengt aus seinem Mund anhörten. »Hör auf damit, mich zum Lachen zu bringen.«

»Aber ich höre dein Lachen so gern. Und dein Lächeln ist so viel hübscher als dein Stirnrunzeln.«

»Fawn«, wisperte er und ich spürte, wie eine Träne über meinen Daumen rann. Zitternd holte er Luft. »Es tut mir leid. Alles. Ich war ein solcher Idiot. Zu vorsichtig. Ich hab zu lange gebraucht. Um dich zu mögen. Um einzusehen, dass es sich nicht lohnt, gegen meine Gefühle anzukämpfen. Ich hab so viel Zeit verschwendet.«

Meine Kehle zog sich eng zusammen und meine Augen brannten, während ich die einzelne feuchte Spur von seiner Wange strich. »Wir haben jetzt, Caeden. Und wir haben unsere ganze Zukunft. Das ist genug.«

»Es wird niemals genug sein«, wisperte er an meinen Lippen und sein Atem strich federweich über die empfindliche Haut. »Das Jetzt ist zu flüchtig, die Zukunft zu kurz. Zu denken, dass ich noch Zeit hätte, ist der größte Fehler, den ich je begangen habe. Ich weiß Zeit erst wirklich zu schätzen, seit mein Vater gestorben ist. Seitdem ist mir klar, wie wenig uns davon zur Verfügung steht.«

»Dann lass uns dafür sorgen, dass sie zählt«, erwiderte ich mit belegter Stimme und kämpfte gegen meine eigenen Tränen an. Ich wollte diesen Moment nicht mit ihnen kaputt machen. Wollte lachen und selig seufzen. Die wertvollen gemeinsamen Sonnenschritte nicht mit Angst und bösen Ahnungen füllen. Unsicherheit, Furcht und Zweifel nahmen viel zu viel Platz in meinem Leben ein. Heute wollte ich sie vergessen. Und sei es nur für diesen Abend.

»Lass uns nicht an die Zeit denken, die wir verschwendet haben«, bat ich ihn und meine Stimme brach. »Lass uns die Zeit nutzen, die uns gegeben wurde.«

»Wie?«

Ich lächelte und sah fest in seine Augen. »Tanz mit mir.«

Verblüfft hob er die Augenbrauen. »Was?«

»Du hast mich gehört. Tanz mit mir. Wie sollten wir unseren letzten Abend in Gefangenschaft besser zelebrieren als mit einem Tanz?«

Caedens Hände glitten von meinem Hals zu meiner Taille und das Lächeln auf seinen Zügen erfüllte jede meiner Poren mit warmem Glück. »Wir haben keine Musik.«

»Die haben wir damals auch nicht gebraucht.«

»Aber soweit ich mich erinnere, brauchst du sie unbedingt, um dich elegant bewegen zu können und die Füße deines Partners nicht zu verstümmeln.«

Ich legte den Kopf in den Nacken und lachte, bevor ich zurück in sein Gesicht sah. »Ich habe mich seitdem weiterentwickelt.«

»Also wirst du dich diesmal führen lassen?«

Ich lächelte breit. »Wahrscheinlich nicht.«

Er lachte leise. »Nein, wahrscheinlich nicht«, bestätigte er.

Dennoch griff er nach meiner Hand. Er zog sie sacht nach oben und positionierte sie auf seiner Schulter. Erst die eine, dann die andere, bevor er mit seinen Fingern meine Seiten hinabstrich und sie schließlich über meinen Rücken fächerte. Jede seiner Berührungen war samtweich und warm.

Eine halbe Ewigkeit sah er mich nur an. Erforschte mit seinem Blick jeden Zentimeter meines Gesichtes. Dann fing er an zu summen … und meine Muskeln entspannten sich. Mein Herz wurde leichter. Meine Brust warm.

Er summte die mir bekannte melancholische Melodie, die ich seit jenem Abend nicht mehr hatte vergessen können. Die mich in meinen Träumen begleitet hatte. Mir Hoffnung gegeben hatte, weil sie mich an Caeden erinnerte.

Und als er anfing, seine Füße zu bewegen, meinte ich fast, sie wirklich zu hören. Die Streicher, die den dunklen Tönen Tiefe verliehen. Die Flöten, die dem Lied Licht einhauchten. Die wie Sternsplitter innerhalb der Melodie aufglommen. Ein Klavier gesellte sich hinzu, während wir uns das erste Mal drehten. Und Caedens stummer Gesang war Teil von der Melodie. Die Liedstimme.

Ich war noch immer keine gute Tänzerin. Doch keinen von uns beiden störte das. Nicht heute Nacht. Stattdessen taten wir so, als wäre, jedes Mal, wenn ich Caeden auf die Füße trat oder meine Stirn gegen sein Kinn stieß, weil ich zu Boden starrte, reine Absicht. Als würde es zum Tanz dazugehören. Als wären meine verkrampften Arme und unser gedämpftes Gelächter schon immer Teil vom Sonnenwalzer gewesen. Und wer wusste es schon? Vielleicht waren sie es ja. Denn sie fühlten sich nicht fremd an. Nichts von alledem. Stattdessen fühlte ich mich … Zu Hause. In Caedens Armen, während wir uns um uns selbst drehten.

Über den Baumwipfeln ging die Sonne unter und tauchte die Lichtung in goldenen Glanz, der sich warm auf unserer Haut widerspiegelte. Einzelne Strahlen verfingen sich in Caedens dunklen Haaren. Ihr sanftes Licht strich gemeinsam mit dem leichten Wind zärtlich über sie und kitzelte meinen Nacken.

Es war unperfekte Perfektion – und ich genoss jeden Moment, als wäre es mein letzter. Ich sog Caedens Geruch nach Feuer und Holz ein. Prägte mir sein heiseres Lachen ein, seine ruhige Stimme. Ich merkte mir, wie es sich anfühlte, wenn seine Hand von meinen Schulterblättern tiefer bis zu meiner Taille wanderte. Merkte mir, wie sich eine Gänsehaut über meinen ganzen Körper zog, als seine Finger über meine Schulter glitten. Gab mir keine Mühe zu verstehen, wie Caeden es mit nur einem Blick und einer unschuldigen Berührung schaffte, mein Herz zum Stolpern und meinen Nacken zum Kribbeln zu bringen. Wieso sollte ich Zeit damit verschwenden zu versuchen, zu verstehen … wenn ich einfach nur fühlen konnte?

Ich ließ die Finger über seinen Hals gleiten, genoss das gleichmäßige Pochen seines schlagenden Pulses, genoss das Gefühl seines rauen Kiefers unter meiner Berührung. Ich studierte seine Augen, jede einzelne Haarsträhne, die ihm ins Gesicht hing. Als wollte ich ihn malen und ja kein Detail vergessen. Und schließlich studierte ich seinen Mund.

Ich hatte in meinem Leben schon so viele Lippen angesehen. Unendlich viele Münder beim Sprechen beobachtet. Doch diesmal tat ich es nicht, um mein Gegenüber bei einer Lüge zu erwischen. Diesmal tat ich es, weil ich nicht anders konnte. Weil Caedens Lippen schön waren. Weil jeder Moment, in dem ich es nicht tat, verschwendet war.

Und dann küsste ich ihn. Weil ich es konnte. Weil ich es wollte. Weil ich ihn innerhalb der letzten Herzschläge gerochen, gehört, gespürt, gesehen … aber nicht geschmeckt hatte.

Caeden erwiderte den Kuss. Hob mich auf seine Füße, drehte sich weiter mit mir, während seine Lippen meine vereinnahmten. Während sie mir die Wärme und Ruhe gaben, die innerhalb der letzten Wochen so hastig vor mir davongelaufen waren. Seine eine Hand lag weich in meinem Nacken, mit der anderen hielt er mich fest an sich gedrückt. Als wolle er testen, wie gut wir zusammenpassten. Als habe er niemals mehr vor, mich loszulassen. Er schmeckte nach Sonne und Marzipan. Nach Hoffnung.

Er vernebelte meine Sinne. Ließ mich vergessen, dass die Rote Wand in unserem Rücken lag. Ein letzter Kampf mit Red Dove vor uns. Sein rauer Kiefer glitt über meinen Hals, als er mich hinter das Ohr küsste, bevor er mir die Haare aus dem Gesicht strich, um es erneut zu betrachten.

»Woran denkst du gerade?«, wollte er wissen. Hob seine Füße weiter im Rhythmus der längst verklungenen Melodie an.

»An dich«, erwiderte ich leise. »An dich und deine Träume. Wenn die Wand fällt … dann könnten sie allesamt wahr werden. Du kannst Palmen und das blaue Meer sehen«, wisperte ich. »Jeden Tag den Horizont bewundern. Ein Leben ohne Bedingungen führen. In eine Welt eintauchen, in der niemand deinen Namen kennt. Ohne Verantwortung.«

Caeden schüttelte nur den Kopf. »Du bist mein Traum, Fawn. Und er ist längst wahr geworden.«

Eine Träne verfing sich in meinen Wimpern und ich hickste, während mein Bauch sich mit Schmetterlingen füllte und mein Herz wie eine Seifenblase in mir aufstieg. »Ich hätte nicht gedacht, dass du kitschig sein kannst, Caeden«, bemerkte ich leise.

Er lächelte, küsste meine Wange und zog mich noch näher an seine Brust. »Ich gebe mir Mühe. Auf die Gefahr hin, dass du mich dann für einen Idioten hältst.«

Ich lachte und ließ mein Kinn auf seine Schulter sinken. »Wenn man verliebt ist, verhält man sich einfach wie ein dämlicher Idiot. Das ist das Einzige, bei dem ich mir schon immer sicher war. Und ich habe bis heute recht behalten. Doch das ist nicht schlimm. Dann können wir zusammen Idioten sein.«

»Gut aussehende Idioten«, erinnerte er mich.

Ich lächelte, vergrub meine Nase in seiner Halsbeuge, atmete erneut seinen Geruch ein, bevor ich nickte. »Richtig. Verliebte gut aussehende Idioten.«

Caeden legte seine Wange auf meinen Scheitel, hob mich von seinen Füßen und begann erneut zu summen.

Wir tanzten und lachten, bis die Sonne endgültig untergegangen war. Wir tanzten, bis unsere Beine müde wurden. Bis der Mond hoch am Himmel stand. Bis wir vergessen hatten, was wir morgen tun würden. Bis unsere Körper miteinander verschmolzen waren. Bis unsere Lippen erneut zueinanderfanden. Bis nur noch Hitze zu spüren und das laute Schlagen unserer Herzen zu hören war.

Und dann tanzten wir nicht mehr. Dann fühlten wir nur noch.