KAPITEL 21

Wir lagen auf dünnen Laken, der harte Waldboden unter uns, während vereinzelte vertrocknete Grashalme mir in die Seite stachen. Mein Mantel diente uns als Kopfkissen, während Caedens wie eine Decke über uns lag. Trotzdem konnte ich mich nicht daran erinnern, je in meinem Leben so gemütlich gelegen zu haben. Caedens einer Arm unter meinem Kopf, der andere um meine Mitte geschlungen, seine Brust an meinem Rücken.

Ich konnte seinen regelmäßigen Herzschlag hören, seine sich gleichmäßig hebende Brust spüren. Er schlief tief und fest. Doch meine Gedanken waren rastlos, mein Körper zwar müde, mein Geist jedoch hellwach.

Ich lauschte dem Rauschen der Blätter, betrachtete, wie einige von ihnen sacht zu Boden segelten und sich zwischen dem Gras versteckten.

Ich hatte keine Angst. Nicht davor, Red Dove erneut entgegenzutreten. Es war merkwürdig, aber mir fiel es schwer, mich vor etwas zu fürchten, das unausweichlich vor mir lag. Die Gewissheit, dass es nötig war, sie zu einem Kampf herauszufordern, nahm dem Ganzen die Bedrohlichkeit. Ich wusste, was getan werden musste. Ich wusste, was passieren würde. Es blieb nichts übrig, was meinen Puls in die Höhe hätte treiben können.

Und trotzdem kam ich nicht zur Ruhe. Ich dachte an Finch und Jyn und fragte mich, ob sie einen Plan entworfen hatten, wie sie in den roten Ring einbrechen und den gläsernen Behälter gefüllt mit Lügen zerstören konnten. Sie würden ihn morgen in die Tat umsetzen müssen. Ich dachte an Nuthatch und Mae und fragte mich, ob sie wohl mit ihrem Leben davongekommen waren. Ob die Wissensjäger wirklich zerschlagen waren oder sich nur versteckten, um sich neu zu gruppieren. Ich dachte an meinen Vater. An Cora. An Trent.

Und dann dachte ich an meine Mutter. Die damals mit ihren eigenen Recherchen so weit gekommen war, nur um im letzten Moment aufzugeben. Den Kampf gegen das Königshaus einzustellen. Warum eigentlich?

Ich runzelte die Stirn. Crow hatte gesagt, dass sie der Meinung gewesen war, dass sie nicht gleichzeitig das Königshaus stürzen, weiter in Sachen Wand Nachforschungen anstellen und mich schützen könnte. Aber schützen vor was?

Ich hatte innerhalb der letzten Sonnenschritte so viele Fragen beantwortet, doch diese eine schwebte noch immer über meinem Kopf.

Ein Frösteln überlief meinen Körper und ich zog Caedens Mantel höher über meine Schulter. Dabei spürte ich, wie etwas Hartes auf meinen Hüftknochen auftraf. Stirnrunzelnd tastete ich danach. Da war etwas Bauchiges, Unnachgiebiges in einer seiner Taschen. Mit der Hand wanderte ich zur Öffnung und zog den Gegenstand hervor. Es war eine grüne, gläserne Flasche in der Größe meiner Handfläche. Die Flasche aus dem roten Ring. Die hatte ich vollkommen vergessen! Aber wir benötigten das Wissen in ihr auch gar nicht mehr. Die Wand hatte uns alle Informationen gegeben, die wir brauchten. Oder?

Zögerlich richtete ich mich auf meinen Ellbogen auf, darauf bedacht, keine ruckartigen Bewegungen zu machen. Ich wollte Caeden nicht wecken. Nachdenklich betrachtete ich das weiße Wachs, das im Mondlicht silbrig glänzte … und lächelte.

Plötzlich wusste ich genau, wie ich die Flasche öffnen konnte. Sie war mit starker Wahrheitsmagie versiegelt! Wahrscheinlich konnte sie nur mit einer Wahrheit geöffnet werden.

Ich hielt die Flasche nah an meine Lippen und flüsterte: »Du kommst von außerhalb der Wand. Du wurdest von jemandem geschickt, der noch nie einen Fuß in Mentano gesetzt hat.«

Das weiße Wachs glühte auf, zerschmolz unter meinen Worten und löste sich von dem Glas. Der Korken fiel einfach aus der Öffnung, als hätte ihn nie etwas dort gehalten.

Ich sah mich zu Caeden um, überlegte, ob ich ihn wecken sollte … doch er sah so friedlich aus, und wenn die Nachricht in der Flasche uns gar keine neuen Informationen lieferte, hätte ich ihn umsonst geweckt. Also ließ ich es, stülpte das Glas um und fing die herausfallende Nachricht mit der Hand auf. Vorsichtig positionierte ich die Glasflasche im Gras, dann rollte ich das Pergament auf.

Es war in krakeligen Großbuchstaben beschrieben worden. Die Schrift noch ungeübt, als wäre der Absender ihr noch nicht lange mächtig. Ein Kind musste die Nachricht geschrieben haben, dachte ich. Der Mond stand voll am Himmel und keine Baumwipfel hinderten ihn daran, mir Licht zu spenden. Es war also leicht, die Nachricht zu lesen.

Liebes Mentano,
ich gehe jetzt in die zweite Klasse und muss deswegen das hier schreiben. Meine Mama meint, das müssen alle, die in die zweite Klasse kommen. Es ist eine Traligition oder so etwas Ähnliches. Damit ihr jedes Jahr Post bekommt, uns nicht vergesst und uns vielleicht doch irgendwann antwortet
.

Meine Lehrerin sagt, ich soll schreiben, dass ich sehr traurig bin, dass ihr nicht mehr mit uns redet und von eurem bösen Herrscher gefangen gehalten werdet. Aber ehrlich gesagt, bin ich gar nicht traurig, weil ich kenne euch alle nicht. Sicher seid ihr ganz nett, aber euren blöden König möchte ich trotzdem nicht auf unserer Seite der Wand haben. Also erzähle ich lieber, was ich alles Aufregendes machen werde in den nächsten Tagen. Morgen zum Beispiel, da hab ich meinen ersten Unterricht in Magie. Ich freue mich SEHR!! Ich will sehr schnell groß und mächtig werden, damit ich stärker als mein Bruder werde und ihn besiegen kann. Das wäre schön.

Ich hoffe, euch geht es da drin gut. Auf Wiedersehen.

Zoja

P. S. Könntet ihr uns vielleicht sagen, was das rote Zeug in der Wand ist? Meine Mama meint, seit ganz vielen Jahren versuchen die klügsten Leute herauszufinden, was es ist. Aber niemand hat es geschafft. Es sieht ein wenig aus wie Magie … Nur eben in Rot. Vielleicht sieht so die Magie eines Menschen aus, der zu viele Kirschen isst? Wenn das jemand liest, der die Antwort weiß: Könntest du bitte zurückschreiben und bestätigen, dass meine Idee richtig ist? Dann hört mein großer Bruder vielleicht endlich auf zu sagen, dass ich blöd bin, weil ich so etwas denke.

Ich starrte auf die Zeilen, versuchte, das heiße Brennen in meiner Brust zu ignorieren, und las sie erneut. Und erneut. Ich las sie, bis alle Worte vor meinen Augen verschwammen … Bis auf die letzten Zeilen. Bis auf das P. S.

Das kleine Mädchen, das Mentano geschrieben hatte, wusste nicht, was rote Magie war.

Das war es doch, was dort schwarz auf weiß stand, oder nicht?

Die Luft um mich herum schien auf einmal dünner. Schien meine Lungen nicht mehr richtig zu füllen.

Sie wusste nicht, welche Farbe Lügen hatten. Sie kannte nur weiße Magie. Aber … warum? Und wenn man ihr glauben konnte, war sie nicht die Einzige. Wenn stimmte, was sie schrieb, wusste niemand auf der anderen Seite der Wand, was rote Magie war … Denn sonst hätte wohl irgendjemand gewusst, dass die Wand mit Lügen gefüllt war. Es war nicht so schwer, sie zu erkennen. Wenn man Lügen lesen konnte, dann wüsste man …

Mein Hals wurde trocken. Meine Lippen bebten. Mein Herz schlug schneller. Zoja wurde in Magie unterrichtet. Nicht in weißer Magie. Sie hatte gesprochen, als würde es nur eine Art von Magie in ihrem Land geben. Und was war, wenn das stimmte? Wenn es nicht rote und weiße Magie gab, existierte rote Magie außerhalb der Wand dann vielleicht gar nicht? Wenn Prinz Afilo rote Magie tatsächlich erschaffen hatte? Nicht nur benutzt, sondern … kreiert?

Es würde erklären, warum er selbst so schockiert ausgesehen hatte, als sich seine weiße Magie verwandelt hatte. Und weshalb auch sein Vater so entsetzt gewesen war. Warum er nicht verstanden hatte, was sein Sohn da erschuf. Also … konnte rote Magie nur eine Erfindung des Königshauses sein! Sie existierte innerhalb der Roten Wand. Sie existierte aufgrund der Roten Wand. Aber konnte sie ohne sie …

Meine Hände begannen zu zittern und meine Finger, die noch immer den Brief hielten, wurden taub. Ich presste sie aufs Gesicht und atmete schwerfällig durch sie hindurch. Endlich verstand ich den Spruch, den Afilo vor so langer Zeit gedichtet hatte. Er war blanker Hohn. Eine Erinnerung daran, wie er Mentano hinters Licht geführt hatte. Eine Erinnerung an seine Macht und was sie bewirkt hatte.

Am Anfang war die Wand. Am Schluss steht das Nichts.

Die Mitte rot entbrannt. Flammen aus gleißend Licht.

Die Wand hatte den Anfang des Zeitalters der roten Magie bestimmt … die am Schluss ins Nichts verpuffen würde. Denn eigentlich gab es sie gar nicht! Die durch Lügen rot entbrannte Mitte, unsere Geschichte, leuchtete in scheinheilig gleißend weißem Licht und blendete uns alle.

Die rote Magie war eine einzige Lüge. So wie ich eine Lüge war. Sie existierte nur hier, weil wir alle an sie glaubten. Doch wenn sie die Wahrheit erfahren würden … wenn die Wand zerstört würde. Dann würde die rote Magie verpuffen. Als hätte sie nie existiert.

Und ich mit ihr.

Das Pergament fiel mir aus der Hand. Mein Hals schnürte sich enger und meine Augen brannten. Ich konnte nur noch daran denken, dass ich Caeden angelogen hatte. Denn ich würde sterben. Egal, wie der Kampf ausging.

Wenn Red Dove mich nicht umbrachte, dann würde ich zusammen mit der Roten Wand zerbrechen. Denn ich war rote Magie. Eine Illusion, die ohne Schutz nicht würde überleben können.

Tränen rannen über meine Wangen, quollen durch meine Finger und tropften auf das vergilbte Pergament. Verwischten die Tinte.

Auf einmal ergab alles einen Sinn. Meine Mutter hatte mich schützen wollen. Sie hatte etwas über die Rote Wand herausgefunden … und aufgehört nach weiteren Antworten zu suchen.

Weil ihr klar geworden war, dass ich aufhören würde, zu existieren, sobald die Rote Wand fiel. Sie hatte das Königshaus nicht zerstören wollen … weil sie mich mit ihnen in den Tod gezerrt hätte. Sie war gestorben, um mir ein paar weitere Friedensjahre zu ermöglichen. Hatte gehofft, dass ich ihr Erbe nicht weiterführen würde. Dass ich nie hinter die Geheimnisse Mentanos kommen würde. Weil sie gewusst hatte, dass ich trotz allem nicht würde aufhören können. Dass ich mich für die Wahrheit opfern würde. Und wie könnte ich nicht?

Ich musste es tun. Musste jedem Tod, den ich beobachtet, den ich herbeigeführt, den Red Dove verantwortet hatte, eine Bedeutung geben.

Wie könnte ich das Land weiter zur ewigen Gefangenschaft verdammen, wenn ich stattdessen nur auf mein kleines unbedeutendes Leben verzichten musste?

Die Tränen brannten auf meiner Haut wie billiger Wein auf meiner Zunge. Es waren stumme Tränen. Tränen der Akzeptanz, nicht der Wut oder Angst. Es war, als hätte ich es schon immer gewusst. Dass morgen das Ende kommen würde. Ich hatte heute Nacht jeden Augenblick mit meinem ganzen Körper genossen. Hatte mir eingeprägt, was ich nicht vergessen wollte. Woran ich in meinen letzten Momenten denken wollte.

Es war schrecklich. Dass es diese letzten Momente geben würde. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte nicht verschwinden, als wäre ich nie hier gewesen. Aber es musste geschehen. Und wenigstens würde mein Tod nicht ohne Bedeutung sein. Er würde ein neues, besseres Leben für Millionen von Menschen bedeuten. Und wenn es sich lohnte, für etwas zu sterben … war es dann nicht das?

Ich rollte das Pergament wieder zusammen, stopfte es zurück in die Flasche und versiegelte sie mit dem Korken.

Die heißen Tropfen von meiner Wange benetzten unaufhörlich das Laken unter mir und ich hielt sie nicht auf. Dieser letzte Abend war vollkommen gewesen. Ich hätte mir keinen besseren wünschen können. Mein Leben würde auf einem Hoch enden, nicht in einem Tief. Und zumindest wusste ich, dass mein Tod nicht wehtun würde. Ich würde einfach verblassen. Mich in Rauch auflösen. So wie ich es beinahe in Caedens Magie getan hatte.

Er hatte behauptet, dass ich durchsichtig geworden war. Ich glaubte ihm. Ich hatte mich in meine magische Komponente aufgelöst. Weil ich nicht echt war. Und genau das würde passieren, wenn die Wand fiel. Ich würde von Wärme und Leuchten umgeben sein und wie ein zu kurzer Moment einfach vergehen.

Mit zitternden Fingern steckte ich die Flaschenpost an ihren angestammten Platz, legte mich erneut hin und beruhigte meinen Atem. Mein Herz schlug so laut in meiner Brust, dass ich Angst hatte, Caeden damit zu wecken. Doch er schlief noch immer. Selig unwissend. Und er würde selig unwissend bleiben. Bis zum Schluss.

Ich schlief nicht. Ich verbrachte die Nacht eng umschlugen in Caedens Armen. Nahm die Welt mit all meinen Sinnen wahr. Vergrub meine Finger im weichen Waldboden, betrachtete mit Tränen in den Augen die Sonne dabei, wie sie sich an den Himmel hievte, der Umgebung ihr Licht und ihre Farben schenkte. Ich roch an dem Brot, das wir zum Frühstück essen würden. Vergrub meine Nase in Caedens Halsbeuge, um seinen Geruch nicht zu verlieren. Küsste seine Lippen, jede Stelle seiner Haut, die ich erreichen konnte, und als er schließlich die Augen öffnete, ein Lächeln auf seinem Gesicht, wusste ich, dass es okay war. Dass ich stark genug war. Für ihn. Auch wenn er es mir so unendlich viel schwerer machen würde zu tun, was richtig war. Ich hatte ihn doch gerade erst bekommen … Er war es, den ich verlieren würde. Nicht mein Leben.

Wir aßen schweigend, berührten uns immer wieder wie zufällig. Als müssten wir die Haut des anderen spüren, um uns zu beruhigen. Um uns zu versichern, dass wir da waren und uns nicht allein lassen würden.

Schließlich standen wir auf und fingen an, unsere Habseligkeiten zusammenzusuchen. Ich sah Caeden immer wieder an, wollte ihn noch so oft beobachten, wie es mir möglich war. Fragte mich, ob er mir verzeihen würde. Dass ich es für mich behalten hatte. Wer ich war und was passieren würde. Ich wusste es nicht. Ich hätte es ihm vermutlich nicht verziehen.

»Ist alles okay, Fawn?«, wollte er wissen und strich mir die Haare aus der Stirn, um die Stelle darunter zu küssen. »Du siehst aus, als hättest du kein Auge zugetan.«

»Ja, ich bin nur … nervös, das ist alles«, meinte ich und hoffte, dass mein Lächeln meine Augen erreichte.

Caedens Blick verweilte ein paar Herzschläge länger auf meinem Gesicht, als nötig war, doch schließlich nickte er und fuhr damit fort, unser Lager zusammenzupacken.

Ich schluckte, während mich gleichzeitig Erleichterung und Furcht erfüllten. Ich konnte es Caeden nicht sagen. Ich brachte es nicht über mich. Er würde mich nicht gehen lassen. Er würde mich die Wand nicht zerstören lassen. Aber es musste passieren. Wir konnten ein ganzes Volk nicht weitere Hunderte von Friedensjahren im Dunkeln lassen, es leiden lassen … nur um mein Leben zu retten. Es wäre selbstsüchtig. Ich hatte einen Plan und ich würde ihn befolgen. Ich hatte ein schönes Leben gehabt. Eine letzte perfekte Nacht durchlebt. Es war genug. Es würde mir reichen.

Ich streckte meine Schultern durch, schob meine Gefühle beiseite und atmete tief durch. Es war okay. Mein Tod war ohnehin wahrscheinlich gewesen. Und zu wissen, dass mein Ende ein und dasselbe sein würde, egal, wie der Kampf ausging, hatte fast etwas Tröstliches an sich.

»Gehen wir«, sagte ich fest und schulterte den Rucksack.

Keine Überraschungen mehr. Keine Fragen. Keine Unsicherheiten. Nur noch das Ende.