Die fremde weiße Magie umspülte mich und riss an mir wie tosende Wellen, die zurück ins Meer drängten. Sie umfasste mich in einer milchig weißen, knisternden Säule, nahm mir die Sicht nach vorn, kam immer näher und brannte sich in meine Haut. Ich hatte sie nicht einmal kommen sehen. Hatte keine Zeit zum Blinzeln gehabt, bevor Alphias Macht sich wie ein Gefängnis um mich gezogen hatte.
Mein Atem wurde kürzer, während die Wände näher kamen, bereit, mich zu zerquetschen. Aber sollten sie es doch versuchen. Ich biss die Zähne zusammen und stieß die Hände vor.
Die Barriere ist nicht echt. Sie zerfällt, sobald ich sie berühre … Sie zerfällt …
Und tatsächlich: Die weiße Magie zersplitterte und löste sich zu weißem Rauch auf. Flüchtete wie diesiger Nebel über die trockene Erde.
Meine Augen begannen sofort zu brennen, meine Lunge mit ihnen, dieser Kampf würde mich an den Rand meiner Kräfte bringen, doch ein einziger Gedanke füllte meinen Kopf: Zeit. Ich brauchte Zeit.
Mein Ziel war es, mich so lange wie möglich zu schützen – und bevor Alphia auf der anderen Seite der Arena auch nur einen weiteren Finger rühren konnte, riss ich die Arme hoch.
Ich flüsterte der Erde zu, meiner Bewegung zu folgen, und schuf eine Wand aus Lehm und Wurzeln.
»Das ist es, wie du mich von dir fernhalten willst? Mit einer Wand aus Dreck?«, höhnte Alphia.
Mit einem dunklen Bersten zersprang die Wand in tausend Teile.
Schwere Steine schleuderten in die Luft, verteilten Staub und Erde. Ich hustete, hielt mir den Arm vor Nase und Mund, sog trotzdem Staub in meine Lunge. Die kleinen Felsbrocken krachten auf mich nieder. Prasselten wie ein Regen aus Erz auf mich hinab. Sie schürften meine Arme auf, fielen schmerzhaft in meinen Nacken …
»Gänseblümchen«, keuchte ich. »Ihr seid Gänseblümchen!«
… und sammelten sich in einem Meer aus Blüten zu meinen Füßen.
»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Blumen zu pflücken!«, zischte Alphia und kam näher. Überwand leichtfüßig die Distanz zwischen uns.
»Nein? Aber vielleicht, um zu tanzen«, erwiderte ich laut und krümmte meine Finger. Die Erde horchte gerade ohnehin noch auf die Lügen, die ich ihr zuflüsterte – und in meiner Konzentration verstand sie mich anscheinend auch ohne Worte. Steinerne Dolche schossen senkrecht aus dem Feld in die Höhe und ich keuchte auf vor Erschöpfung. Doch sie drohten Alphias Schuhsohlen zu durchbohren. Zwangen sie dazu hochzuspringen.
»Wie lange können dir deine Tricks noch helfen, Fawn?«, fragte Alphia laut und erschuf mit einer fließenden Bewegung eine leuchtende Barriere unter ihren Füßen, mit der sie jeden steinernen Stalagmiten aus dem Boden zu nutzlosen Erzklumpen schmolz. »Du hast gerade erst angefangen, mit Magie herumzuexperimentieren, Fawn. Ich atme sie seit zwanzig Friedensjahren.«
Im nächsten Moment schossen Stichflammen aus ihren Händen auf mich zu. Doch ich rührte mich nicht vom Fleck. Ließ das Feuer einfach über mich ergehen, bis es von allein verpuffte.
Ein ungläubiges Lachen polterte über meine Lippen. Ihre Flammen konnten mir nichts anhaben. Sie waren nur Illusionen. Sie verbrannten ja nicht einmal Staub. Meine hingegen …
»Du solltest keine rote Magie gegen mich verwenden«, schrie ich zornig. »Denn wer von uns beiden atmet diese? Mein Feuer ist so viel effektiver als deins.«
Denn es brennt sich durch die Luft und sein einziges Ziel ist es, dich zu erreichen. Von vorn, von hinten, von überall.
Die Flammen, die von dem plötzlich aufkommenden Wind durch die Luft getragen wurden, züngelten rot und orange auf. Bogen sich unter meinem Willen, glaubten mir jedes Wort.
Alphia weitete die Augen, erschuf eine neue Barriere … doch war nicht schnell genug. Ein paar der Flammen hatten bereits den Weg durch ihre Magie gefunden.
Rauch stieg auf. Es roch nach Schwefel. Nach angebrannten Haaren und Haut – und dann war das Feuer verschwunden. Nichts als schwarzer Dunst blieb zurück, durch den die Königin Mentanos langsam auf mich zutrat.
Zorn und Hass funkelten in ihrem dunklen Blick. Da war nichts mehr von der lieblich-süßen Prinzessin aus dem Wochenblatt in ihrem Gesicht zu erkennen.
»Es reicht. Wir haben lange genug miteinander gespielt«, schrie Alphia und zerschnitt mit den Händen die Luft.
Ein Netz aus feinen weißen Fäden platzte daraus hervor. Brachte die Luft zum Klirren und mein Herz zum Flattern. Raste auf mich zu …
Die Barriere aus weißer Magie traf mich wie ein Hammerschlag in den Magen. Ich flog in die Luft. Wurde zurückgeschleudert. Wirbelte unkontrolliert im Sturm weißer Magie umher. Flatterte wie eine Fahne im Orkan. Sie trieb mir Staub in meine Lunge und presste den Sauerstoff daraus hervor. Meine Haare peitschten mir wie vertrocknetes Stroh ins Gesicht.
Ich kniff die Augen zusammen und stechender Schmerz explodierte in meinem Körper. Der Wind heulte in meinen Ohren. Die Magie brannte auf meiner Haut. Trieb mich höher. Weiter. Ein Piepen setzte in meinem Ohr ein und zerriss mein Trommelfell. Gleich würde ich aus vier Manneslängen Höhe auf dem Boden aufschlagen. Mir mein Kreuz und meine Rippen brechen. Ich öffnete die Augen und wandte den Kopf. Sah, wie die Erde auf mich zuraste. Es gab nichts, was meinen Aufprall abfedern würde. Ich würde unfähig sein zu kämpfen, bevor ich auch nur den ersten richtigen Schlag ausgeteilt hatte. Die mir wohlbekannte Schwärze kroch von allen Seiten auf mich zu. Bat mich darum aufzugeben. Mich nicht weiter lächerlich zu machen. Was hatte ich mir dabei gedacht?
Ich hatte doch gewusst, dass Alphia zu stark sein würde. Ich zu schwach. Ich war allein. Eine ungeübte Magierin …
Und dann sah ich es. Wie durch einen Tunnel. Das rote Glühen einer Stichflamme, die den Himmel erhellte. Ein Leuchtfeuer der Hoffnung.
Das Zeichen. Finch und Jyn hatten die Behälter zerstört.
Nein. Ich brauche Zeit.
Nein! Nichts als Zeit.
Ich konnte jetzt nicht aufgeben. Mir einfach das Leben stehlen lassen, bevor ich es freiwillig verschenken konnte.
Zeit. Ich brauche Zeit.
Ich wiederholte die Worte in meinem Kopf. Wie ein Mantra. Immer und immer wieder.
Ich habe Zeit.
Etwas Merkwürdiges passierte. Der Wind in meinen Ohren hörte auf zu heulen. Das Piepen verstummte. Die Erde lag noch immer unter mir … aber sie kam mir nicht mehr entgegen. Sie lag still und starr da.
Ich weitete die Augen, konnte Halme von Stroh erkennen, die sich langsam neben mir in der Luft um sich selbst drehten. Die ganze Welt bewegte sich nur noch in Zeitlupe – und ich mit ihr.
Ich brauchte Zeit … und bekam Zeit.
Du bist keine Magierin, Fawn. Du bist Magie, wisperte eine Stimme in meinem Kopf. Sie gehört zu dir. Sie kann dir nichts anhaben. Sie kann nur ein Teil von dir werden.
Ich weitete meine Augen und krümmte die Finger. Berührte die Lichtsplitter von Alphias Kraft, die anfingen, rot zu glühen.
Warum sorgte ich mich überhaupt? Ich konnte innerhalb der Wand nicht sterben. Keine Wahrheitsmagie konnte mich umbringen. Nicht, solange noch jemand an mich glaubte. Das letzte Mal hatte ich nur versäumt, zu kämpfen. Ich hatte nur still gestanden und zugesehen. Doch den Fehler würde ich nicht noch einmal begehen.
Ich stieß die Hände vor. Versenkte sie bis zu den Gelenken in der fremden Magie. Arbeitete gegen die Zeit an.
»Du kannst mir nicht wehtun«, hauchte ich. »Ich bin du. Ich habe nur ein anderes Gesicht.«
Meine Haut fing an zu glühen, als würden Flammen unter ihr lodern. Rote Schwaden drangen aus ihr hervor. Flossen aus meinem Mund, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in dem Gitter aus weißer Magie, deren Energie so schnell verebbte, wie sie gekommen war. Ich starrte auf den Boden unter mir und ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.
»Du bist weich«, flüsterte ich ihm zu. »Federweich. Du fängst mich auf, stellst mich sofort wieder auf die Füße.«
Und dann fiel ich. Ich raste zusammen mit der Zeit dem Erdboden entgegen, der sich vor meinen Augen in Federn verwandelte, die sich nach mir ausstreckten. Bereits auf mich warteten.
Ich schlug auf und tat es doch nicht. Viel eher glitt ich zu Boden. Wurde weich empfangen und sofort wieder auf die Füße gesetzt.
Alphias Augen weiteten sich und entsetzt starrte sie auf ihre Hände. Die Magie war noch immer mit ihnen verbunden. Doch sie war nicht mehr weiß. Gehörte nicht mehr ihr. Sie war blutrot – und gehorchte meinen Befehlen.
»Ich sage, wenn es reicht«, bemerkte ich scharf und zog ruckartig an dem Strang, der uns beide nun verband.
Alphia stolperte nach vorn, zerrte an ihren Händen, die vom roten Glühen gefangen gehalten wurden. Doch sie konnte sich nicht von der Magie lösen. Sie wurde unbarmherzig mitgezogen.
»Du hast einen Fehler gemacht«, rief ich zornig. »Du hast mir verraten, wer ich bin. Du musstest mir ja unbedingt beweisen, wie klug, wie überlegen du bist … und hast mir damit aus Versehen meine größte Waffe geschenkt. Denn ich weiß jetzt, was ich bin. Was ich kann. Roter Magie sind keine Grenzen gesetzt, Alphia – das bedeutet, mir sind keine Grenzen gesetzt. Somit ist meine größte Schwäche meine größte Stärke. Und ich werde sie nur für eine Sache nutzen: die Wahrheit.«
Ich riss den Kopf herum, und als ich sprach, wusste ich, dass meine Stimme auch jedes letzte Ohr erreichte. Denn ich log ihr vor, dass sie es tat.
»Das Königshaus hat uns alle belogen«, schrie ich. Nutzte meine ganze Wut, das ganze Leid, das mich seit Wochen verfolgte, für die Überzeugung, die ich in meine Stimme legte. »Sie machen uns glauben, dass draußen vor der Wand das Bündnis lauert. Um unsere Bodenschätze zu rauben und unsere Einwohner zu versklaven. Dabei ist die Familie Sweft es, die uns versklavt! Die uns gefangen hält. Die Angriffe auf die Kuppel sind fingiert. Die Wand nur dazu da, ihre Macht zu schützen. Das Bündnis war nie unser Feind. Es ist unser Freund.«
Meine Worte hallten durch die Ränge … und die Menschen blieben stumm und starr auf ihren Plätzen sitzen. Starrten mich mit offenem Mund an. Sahen unsicher zur Königin.
Alphia lachte hohl auf. »Sie glauben dir nicht, Fawn. Wie könnten sie auch? Es gibt etwas, das die Familie Sweft schon sehr früh gelernt hat: Nämlich, was es ist, das Menschen antreibt. Es ist nicht Hoffnung oder Liebe oder Überzeugung – es ist Angst. Angst ist so viel mächtiger als alles andere und wir haben gelernt, sie uns zunutze zu machen.«
»Ja, vielleicht«, erwiderte ich bitter. »Aber du hast etwas vergessen. Leute glauben, was sie sehen … und Zweifel wächst ebenso schnell wie Angst.«
Ich riss an meinem Arm und warf Alphias Magie, die mich behinderte, fort. Ich brauchte sie nicht.
Hastig löste ich mich von meinen Sinnen, griff nach meiner Energie und wandelte sie in Magie. In gedrängten Worten erzählte ich ihr, was sie tun musste, während ich aus den Augenwinkeln sah, wie die Wachen der Königin sich unschlüssig ansahen. Sich stumm berieten, ob sie das Gesetz, das es ihnen verbot, in ein Duell einzugreifen, missachten sollten …
Die Illusion brach aus mir hervor wie Sonnenlicht hinter einer Regenwolke. Raubte mir meine Kraft und ließ meine Knie zittern. Meine ganze Macht floss aus meinen Händen in sie über. Sie bäumte sich zwischen mir und der entsetzten Königin auf. War bald größer als die höchsten Ränge.
Sie zeigte, was die Wand mir gezeigt hatte. König Abrahl und Prinz Afilo, die auf den Horizont starrten. Auf ein blaues Meer.
»Nein!«, brüllte Alphia, als Vater und Sohn die ersten Worte wechselten, der König verkündete, dass Mentano Teil des Bündnisses war. »Nein!« Angst und Entsetzen spiegelten sich auf ihrer Miene wider, während sie nach vorn stürzte. Versuchte, die Hände auf die Illusion zu pressen, weiße Blitze aussandte, um sie zu zerstören. Um sie davon abzuhalten, das größte Geheimnis ihres Landes preiszugeben.
»Was ist das?«
»Ist das wahr?«
»Ist das König Abrahl?«
»Teil des Bündnisses? Wir waren Teil des Bündnisses?«
Die Menschen auf den Rängen redeten wild durcheinander. Ihre Stimmen überschlugen sich, wurden nur von dem Reißen übertönt, das wie Donnergrollen vom Himmel fiel.
Alphias und mein Blick schnellten nach oben zur Kuppel. Erste Risse bildeten sich dort. Zogen sich wie Spinnweben übers Firmament.
»Nein!«, schrie die Königin erneut, ihre Augen entfachte Kohlen, ihre Hände glühende weiße Magie. »Nein! Das ist nicht wahr. Es ist nur eine Illusion. Warum kann ich sie nicht zerstören?«
»Weil sie von mir ist«, rief ich kalt. »Ich dachte, du hättest meine Magie ergründet, Alphia. Du kannst sie nicht brechen. Denn ich bin eine Lüge!« Die Worte fielen zusammen mit Splittern aus Licht und Magie zu Boden »Ich bin die Illusion«, rief ich. »Meine Mutter hat mich nur erfunden. Ich bin die Magie. Ich werde erst verschwinden, wenn die Mauer es tut. Wenn du die Illusion zerstören willst, musst du zuerst mich zerstören.«
»Du bist nichts«, schleuderte Alphia mir entgegen und brach durch die Illusion auf meine Seite. »Du bist eine Erfindung. Nicht gewollt von deinem Vater. Gehasst von deinem Bruder. Du bist wertlos.«
Sie versuchte, die weiße Magie in ihren Händen zu formen. Eine Klinge zu erschaffen … doch sie gehorchte ihr nicht.
Ich schüttelte den Kopf. »Die Wahrheiten können mich nicht mehr verletzen, Alphia«, hauchte ich, während Afilo seinen Vater angriff. Die Barrieren der beiden aufeinandertrafen. »Denn es ist okay für mich, wenn alle sie hören. Ich habe nichts mehr zu verbergen. Ich weiß, wer ich bin – und es ist okay.« Zitternd holte ich Luft und erhob erneut meine Stimme. »Ihr müsst nicht länger gefangen bleiben. Ihr habt selbst die Macht, die Wand niederzureißen. Alles, was ihr tun müsst, ist der Lüge unseres Landes zu misstrauen – und die Wahrheit zu glauben.«
»Niemand glaubt dir!«, rief Alphia zornig. »Niemand hier …«
»Ich glaube ihr.«
Die dunkle Stimme drang vom untersten Rang her und Tränen schossen in meine Augen, als ich ihren Eigentümer erkannte. Es war mein Bruder. Trent.
»Ich glaube ihr auch«, sagte seine Frau, die neben ihm gesessen hatte und nun aufstand, den Blick noch immer auf die Illusion gerichtet. »Es ergibt Sinn. Es füllt die Wissenslücken, die ihr innerhalb der letzten Wochen gerissen habt.«
»Ich glaube ihr!«, tönte ein weiß gewandter Magier, zwei Reihen über ihnen.
»Und ich auch«, verkündete eine kalte Stimme. Es war der Prinz, der neben den noch immer unschlüssigen Wachen stand. Er lächelte freudlos. »Du hast den Thron nicht verdient, Schwesterherz.«
Weitere Zustimmung klang von den Rängen zu uns herab, riss die Kuppel auf, malte Blitze aus Licht in den Himmel. Ließ zerfetzte Sonnenstrahlen und Funken regnen. Die Wand brach und die Kuppel folgte ihrem Beispiel.
»Nein!«, schrie Alphia und zog im nächsten Moment einen Dolch aus ihrem Gewand. »Du nimmst mir nicht meinen Triumph. Nicht nach all der Arbeit, nach all dem Leid, nach all dem Blut, das ich vergossen habe!«
Sie stürzte auf mich zu, die Hand mit dem Dolch hocherhoben, bereit, damit auf mich hinabzufahren.
Meine Augen weiteten sich. Ich hielt noch immer die Illusion aufrecht. Musste sie bis zum Ende zeigen, die Menschen überzeugen. Sie würde mir entgleiten, wenn Red Doves Dolch mich durchstieß. Würde mir entgleiten, wenn ich weglief. Würde in sich zusammenbrechen, wenn ich zu viel Konzentration auf etwas anderes verwandte.
Alphias verzerrtes Gesicht blitzte vor mir auf. Sie war keine fünf Fuß mehr von mir entfernt. Meine eigene Hand fuhr zu dem Dolch an meinem Gürtel. Crows brüchiger kleiner Dolch, der aussah, als habe er noch nie einen Kampf gewonnen. Doch er musste nicht klein sein. Nicht brüchig. Er konnte jede Form annehmen, die er wollte.
Ich sammelte meine allerletzten Kraftreserven und zog ihn im selben Moment vom Leder, in dem Alphia sich vom Boden abstieß. In dem sie ihre Klinge auf mich niederfahren ließ.
Es ist ein Notfall. Du bist kein Dolch. Du bist ein Schwert.
Und das Metall glühte in meiner Hand. Der angelaufene silberne Griff dehnte sich aus. Die blassgoldene Parierstange zog sich in die Breite. Die scharfe Klinge schoss nach vorne. Wuchs in die Länge … und Alphia stürzte mitten hinein. Schockiert öffnete sie den Mund, während das Metall begleitet von einem hässlichen Reißen in ihre Mitte stieß.
Der Ruck ihres Aufpralls riss mir das Schwert aus der Hand. Es fiel zusammen mit ihrem Körper dumpf zu Boden. Federn wirbelten auf. Zusammengeklebt von dem Blut, das aus ihrer Wunde strömte.
Mein Herz zog sich zu einem Ball aus Kohle zusammen und mit zitternden Lippen starrte ich sie an. Sie lag auf der Seite. Direkt zu meinen Füßen. Die Augen weit aufgerissen. Die Lippen zu einem stummen O geformt. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch und Blut tropfte aus ihrem Mundwinkel. Die Bilder der Illusion spiegelten sich verzerrt auf ihrem bleichen Gesicht wider. Das Schwert steckte mitten in ihrem Rumpf. Die Spitze tief in ihrem Körper, aber nicht hindurch.
Säure stieg meinen Hals hinauf. Verätzte meine Zunge. Tränen quollen aus meinen Augen und verklebten meine Wimpern, während ich mit bebendem Körper neben sie sank. »Das wollte ich nicht«, hauchte ich.
Alphia antwortete nicht. Sie sah lediglich an ihrem Körper hinab. Starrte das Heft des Schwertes an, das in der Luft über dem Boden schwebte. Gehalten von ihrem Körper.
Stumm sah ich ihr in die Augen. Die braunen Augen, die den blauen meiner besten Freundin nicht einmal ansatzweise ähnelten. Und trotzdem meinte ich, sie durch die mit Tränen gefüllten Iriden erkennen zu können. Das Mädchen sehen zu können, das mich so oft zum Lachen gebracht hatte. Das für mich da gewesen war. Mir dabei geholfen hatte, den Tod meiner Mutter zu überwinden. Das an meine Träume geglaubt und mir Suppe gebracht hatte, als ich krank war. Sei es auch nur zum Schein. Doch es spielte keine Rolle mehr. Denn am Ende waren wir alle gleich. Waren aus der Summe der Momente gemacht, die uns den Atem raubten und unser Herz schneller schlagen ließen. Und ich hatte so viele dieser Momente mir ihr geteilt. Hätte alles mit ihr geteilt. Die Einsamkeit in ihrem Blick und den Schmerz auf ihren Zügen.
»Ich will dich nicht umbringen, Robyn«, wisperte ich mit erstickter Stimme. »Nicht mehr. Niemand sollte mehr aufgrund dieses schrecklichen Kampfes sterben. Du hast schreckliche Dinge getan – aber du musst trotzdem nicht sterben.«
»Ich bin nicht Robyn«, erwiderte die Königin heiser und sah zu mir auf. Ihre Augen glänzten, brachen das Licht der herunterstürzenden Kuppel.
»Doch«, wisperte ich. »Für mich warst du es. Und irgendwo in deinem Herzen bist du es.«
»Du irrst dich«, würgte sie hervor und tastete nach dem Knauf des Schwertes. »Wenn ich nicht alles haben kann, will ich lieber nichts.«
Im nächsten Moment jagte sie mit beiden Händen die Klinge tiefer in ihren Körper.
»Nein!«, stieß ich aus … doch es war bereits zu spät.
Das Silber durchbohrte sie. Zerriss ihr Fleisch. Zerfetzte ihren Rücken, als es dort wieder hervorkam.
Ein Ton der Erleichterung glitt über Alphias Lippen. Ihr Kopf schlug auf dem Boden aus blutroten Federn auf. Ihre Hände glitten vom Griff des Schwertes. Dann regte sie sich nicht mehr.
Starr sah ich sie an. Meine salzigen Tränen brannten auf meinen trockenen Lippen. Mein Kopf war leer.
Sie war meine Feindin gewesen. Meine Freundin. Meine Gegnerin. Meine Verbündete. Ich hatte sie geliebt. Ich hatte sie gehasst. Und jetzt war sie tot. Ich wusste nicht, ob ich glücklich oder traurig war. Erleichtert oder zerrissen. Also war ich nichts.
Ich schob mich auf die Füße. Trat von ihr zurück und zwang den Blick von ihrem leblosen Gesicht. Stattdessen legte ich den Kopf in den Nacken und starrte zum Himmel. Es sah aus, als würde er zerbrechen.
Ein Regen aus Lichtscherben fiel auf uns herab. Hüllte uns in glänzenden Nebel. Verglomm wie sterbende Glühwürmchen in der Luft. Meine Illusion zerbröckelte. Sie hatte ihren Zweck erfüllt. Ich hatte es geschafft. Wir hatten es geschafft. Mentano war frei.
Ein zittriges Lächeln glitt auf meine Züge, während die Umgebung um mich herum verschwamm, die verblüfften Schreie der Menschen und das Splittern der Abenddämmerung sich zu einer unförmigen Melodie verbanden.
Es fiel mir schwer, meinen Kopf zu halten, also ließ ich das Kinn auf meine Brust sinken. Die Federn unter mir verloren an Kontur. Büßten an Konsistenz ein. Verwandelten sich zurück in die Erde, die sie eigentlich waren.
Meine Illusion war nun endgültig verschwunden. Die Ränge, auf denen die Menschen mit ihren geöffneten Mündern standen und die herabfallenden Lichtscherben betrachteten, fielen langsam in sich zusammen.
Die Wand zerbrach – und alle Lügen mit ihr.
Zitternd hielt ich mir die Hand vor Augen, die mit jedem meiner Herzschläge durchscheinender zu werden schien.
Ich war müde. Schrecklich müde. Der Rest meiner Kraft sickerte aus meinem Körper. Meine Beine zitterten, und ehe sie mir den Dienst versagen konnten, sank ich lieber freiwillig zu Boden. Ich legte mich auf den Rücken, sodass ich die Lichtsplitter in ihrem Farbspiel aus Rot und Gold betrachten konnte.
Es war wunderschön. Ein schönes letztes Bild.
Meine Augenlider wurden schwerer und ich grub meine Fingernägel in die lose Erde um mich herum.
Euphorie und Glück durchströmten mich und ich lächelte.
»Nein …«
Das Wort hallte in meinen Ohren wider, doch es gehörte nicht mir. Ich hatte es nicht ausgesprochen.
»Nein, Fawn …«
Ein Gesicht erschien über meinem. Graue Regenwolkenaugen. Die schönsten Lippen in ganz Mentano. Ein noch schöneres Bild als der explodierende Himmel.
»Caeden«, murmelte ich und lächelte. Er hatte gesagt, dass er immer in der Nähe sein würde. Er hatte Wort gehalten.
»Wieso hast du es mir nicht gesagt? Fawn!« Er umfasste meine Schultern, zog mich in eine sitzende Position. »Wieso schreist du es auf einem Feld heraus, aber hast es mir verschwiegen? Wieso hast du es mir nicht erklärt? Dass deine Mutter dich erfunden hat, was das bedeutet …«
»Du hättest mich nicht gehen lassen«, wisperte ich und lehnte mich zurück. Sank in seine Arme, die mich wie immer auffingen.
»Und ich tue es jetzt auch nicht!« Seine Stimme zitterte. Bebte unkontrolliert.
»Du hast keine Wahl«, flüsterte ich und eine Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und verdampfte rosa in der Luft. »Ich kann nicht außerhalb dieser Welt leben.«
Ich sah an mir hinab. Die roten Schwaden flossen aus meinem verblassenden Körper wie Blut. Wie Tinte aus einem kaputten Gefäß. Sie nahmen meine Kraft mit sich. Meinen Körper. Meine Existenz.
»Die Welt definiert nicht, wer du bist, Fawn. Ebenso wenig wie deine Mutter. Du definierst, wer du bist.«
»Aber ich bin eine Lüge, Caeden. Ich bin nicht real.«
»Nein.« Tränen glitzerten in seinen Augen, während er den Kopf schüttelte. Immer wieder den Kopf schüttelte. Seine Hände mich umklammerten, als könne er mich so dazu zwingen hierzubleiben. »Du bist ein Mensch«, wisperte er, seine Stimme flehentlich. »Du liebst wie ein Mensch. Du leidest wie ein Mensch. Du machst Fehler, du machst sie wieder gut … wie ein Mensch. Ich liebe dich, hörst du? Du kannst nicht gehen, solange ich dich liebe. Solange ich an dich glaube. Du bist keine Lüge, Fawn. Nicht für mich. Du bist … meine Wahrheit.«
Ich lächelte. Ließ meinen schweren Kopf auf seine Schulter sinken. »Und du bist meine«, flüsterte ich.
Dann fielen mir die Augen zu.