KAPITEL 25

Es gibt diese Momente im Leben.

Diese flüchtigen Augenblicke zwischen Träumen und Wachwerden, in denen man unsicher ist, ob man noch schläft oder schon zurück in die Realität gefunden hat. In denen man nichts und alles empfindet. Nichts und alles sieht … In denen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen. In denen man die Zukunft aus den Augen verliert. In denen Zeit nicht existiert. Nichts wirklich existiert.

Ich schwebte und lag doch auf dem Boden. Bilder flogen an mir vorbei, Stimmen wirbelten in meinem Kopf umher. Doch waren sie Einbildung? Traum? Realität? Ich konnte es nicht sagen.

Lügen sind die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft unseres Landes, Fawn. Wenn man nicht lernt, Lüge und Realität zu unterscheiden, wird man blind durchs Leben laufen. Vergiss das nie.

Die Stimme meiner Mutter strich wie sanfte Hände über mein Gesicht.

Ich bin nicht mehr blind, wisperte ich. Und ich habe die Zukunft verändert. Lügen haben keinen Platz mehr in ihr.

Finchs verärgerte Miene tauchte vor mir auf. Seine Augenbrauen zusammengezogen. Was redest du da? Lügen verlieren nie an Wert. Sie sterben nicht aus. Sie verjähren nicht. Ist es nicht das, was du mir immer wieder gesagt hast?

Ich wollte den Kopf schütteln – nur um zu bemerken, dass ich keinen hatte. Die Schwärze, die mich umgab, hatte mir meinen Körper genommen.

Jetzt ist es anders. Rote Magie existiert nicht. Afilo hat sie doch nur erfunden.

Na und?, fragte Crow. Er war nur ein Schatten am Rande meines Sichtfeldes, doch ich wusste, dass er es war. Dass er spöttisch eine Augenbraue gehoben hatte und mit der Zunge schnalzte. Nur weil jemand etwas erfindet, heißt es doch nicht, dass es nicht existiert.

Meine Mutter lächelte und meine Brust füllte sich mit Wärme. Lügen sterben nur, wenn niemand sie mehr glaubt, Fawn. Hast du den Glauben an dich selbst verloren? Nach allem, was du erreicht hast? Nach allem, was du durchlebt hast? Wie kannst du so viel Leid und Freude durchleben, wenn du nicht existierst?

Und dann waren da plötzlich Hände. Caedens Hände, die mich fest umklammert hielten. Die mich nicht gehen lassen wollten. Und als er sprach, war seine Stimme laut und deutlich. Sie durchdrang den Rauch. Wischte die Schwärze fort …

»Du bist keine Lüge. Du bist meine Wahrheit. Komm zurück, Fawn. Du kannst nicht sterben. Du bist zu dickköpfig dafür …«

Ich schlug die Augen auf und zog zitternd Luft in meine Lunge. Mein ganzer Körper brannte. Als wäre er zu Asche zerfallen und dann zu neuem Leben erwacht. Meine Glieder bebten. Meine Muskeln ächzten. Mein Herz pumpte hektisch Blut durch meine Adern.

Aber ich war wach. Ich existierte. Keuchend ballte ich meine Hände zu Fäusten … und zerquetschte dabei fremde Finger.

Doch ich konnte nicht auf sie achten. Noch nicht. Denn der Himmel über mir war rostrot. Frei von splitternder Energie. Frei von einer Kuppel. Er war … unendlich. Unbegrenzt.

»Ist es vorbei?«, stieß ich aus und die Worte drangen nur sperrig aus meiner engen Kehle.

»Ja«, antwortete eine tiefe Stimme und jetzt wandte ich endlich den Kopf. Da war Caeden. Und sein Lächeln nahm sein ganzes Gesicht ein. »Es ist vorbei.«

»Und ich lebe?«

Er lachte unsicher auf. »Sag du es mir.«

»Ich fühle mich zumindest lebendig«, murmelte ich und hielt mir die Hand vor Augen. Sie war bleich und tat weh – aber sie war nicht durchsichtig. »Alles tut weh«, presste ich hervor. »Jeder Fleck meines Körpers.«

»Das verbuche ich als ein gutes Zeichen.«

Ich lachte und betastete mein Gesicht. »Ja … ich auch. Es hat auch wirklich keinen Spaß gemacht zu sterben. Zu verschwinden.«

Ich konnte Caeden schlucken hören, während er sich Tränenspuren von den Wangen wischte. »Es hat auch keinen Spaß gemacht, dir dabei zuzusehen.«

Ich nickte, konzentrierte mich auf den Sauerstoff, den meine Lunge noch immer nur mühsam in sich aufzunehmen schien.

»Aber … warum? Ich verstehe nicht. Ich habe es gespürt. Ich war dabei zu sterben …«

»Was soll das heißen, du warst dabei zu sterben?«, schnitt eine zornige Stimme durch mein Trommelfell. Es war Finch, der zusammen mit Jyn über das Feld stapfte. Das vollkommen leere Feld, wie mir jetzt auffiel.

»Wo sind alle hin?«, fragte ich perplex. »Wie lange war ich weg?«

»Sie lenkt vom Thema ab, oder?«, fragte Finch bitter an Caeden gewandt, bevor er mich wieder besorgt ansah.

»Sie hätte sich gerade beinahe in Luft aufgelöst«, erwiderte er trocken. »Mach es ihr nicht so schwer.«

»Sie hat was?« Entsetzt sah Jyn mich an, sank zu Boden und fing an, auf meinen Gliedmaßen herumzudrücken.

Ich stöhnte auf. »Au«, stieß ich aus. »Hör auf damit! Ich bin wieder voll und ganz da, okay? Ihr … scheint an mich zu glauben. Deswegen bin ich nicht verschwunden – denk ich.«

Denn das musste es sein. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Solange jemand an mich glaubte, würde ich nicht verschwinden. So wie es bei jeder Lüge war.

»Warum hättest du überhaupt verschwinden sollen?«, fragte Finch irritiert.

Ach, richtig. Er wusste nicht, dass ich eine Erfindung meiner Mutter war.

»Es ist egal«, sagte ich ruhig und lächelte. »Es ist nicht mehr wichtig … Ich hab mich nicht geändert. Ich bin noch immer dieselbe.«

Finch verengte die Augen und schüttelte den Kopf. »Das stimmt nicht so ganz. Es gibt da schon etwas, von dem ich nicht weiß, ob ich mich daran gewöhnen kann.« Kritisch betrachtete er mich.

Erschrocken sah ich ihn an. »Was? Wovon redest du?«

»Du bist blond, Fawn«, sagte er mit Grabesstimme.

»Was?«

Schockiert setzte ich mich aufrecht hin und griff nach meinen Haaren. Hielt mir die plötzlich bleichen Spitzen vors Gesicht. »Oh nein. Das ist ja schrecklich«, sagte ich perplex.

Caeden gab einen Ton von sich, der sich nicht zwischen einem Lachen und Schnauben entscheiden konnte. »Du wirst es überleben.«

»Ich versteh das nicht.« Jyn blinzelte mich verwirrt an. »Wie kann das sein? Wie bist du plötzlich blond geworden?«

Ich lächelte und zuckte die Schultern. »Wer kann das schon wissen? Aber es ist auch egal. Wo sind die ganzen Menschen? Wieso ist es hier so leer?«

»Alphias Leiche haben sie mitgenommen. Zum Palast. Der Rest … der Rest ist zur Wand gelaufen«, meinte Caeden und legte seine Hand warm in meinen Nacken. »Wollten sich wohl davon überzeugen, dass sie wirklich zerstört ist.«

»Und? Ist sie das? Ist die Wand verschwunden? Und die rote Magie mit ihr?«

Er hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung.«

»Nun, dann müssen wir es wohl herausfinden«, stellte ich fest, bevor ich tief durchatmete und lächelnd sagte: »Lüg mich an, Caeden.«

»Ich find dich richtig scheiße«, sagte er ernst. »Hässlich noch dazu.«

Ich lachte, betrachtete seine Lippen, suchte nach der Magie in meinen Adern … doch fand nichts. Sah nichts.

»Ich weiß nicht, ob du lügst oder die Wahrheit sagst«, meinte ich und es war das erste Mal, dass ich mich darüber freute. »Ich glaube, die Wand ist fort«, hauchte ich aufgeregt. »Meine Magie ist weg. Und ich bin … normal.«

Finch schnaubte laut. »Oh, bitte. Als ob du normal überhaupt verstehen würdest.« Doch seine Erleichterung war greifbar.

Caeden lachte leise, bevor er mich an den Händen auf die Füße zog und sanft küsste. »Er hat recht. Du bist was Besonderes. Egal ob mit Fähigkeiten oder ohne.«

Nein. War ich nicht. Aber sollten sie das doch weiter denken. Ich würde sie nicht davon abhalten.

Ich klopfte mir den Dreck von der Hose, wandte mich um … und blieb wie angewurzelt stehen. Meine Brust füllte sich mit Schmetterlingen und Wärme flutete mich bis in die Fingerspitzen.

»Leute«, hauchte ich und nickte über das Feld. »Seht mal.«

Die anderen wandten sich stirnrunzelnd um.

»Was ist?«, wollte Caeden wissen.

Ein breites glückliches Lächeln nahm mein Gesicht ein. »Ich kann den Horizont sehen.«

Und er war wunderschön.