Es ist merkwürdig, aber Wandel vollzieht sich nie sofort.
Er passiert nicht von jetzt auf gleich. Er braucht Zeit, sich zu entfalten. Die Menschen Zeit, sich an ihn zu gewöhnen. Wir ändern uns nicht innerhalb weniger Sonnenschritte. Ebenso wenig, wie es Länder und Gewohnheiten tun.
Es macht uns nervös und unsicher, plötzlich keinen Regeln mehr folgen zu müssen. Keine Arbeitszeiten einhalten zu müssen. Keine Essensmarken mehr an den dafür vorhergesehenen Tagen zu bekommen. Adelige hören nicht auf, sich wie Adelige zu benehmen, nur weil sie keinen Titel mehr tragen. Diebe hören nicht auf zu stehlen, nur weil sie es nicht mehr müssen.
Nicht alle Bewohner fliehen sofort aus ihrem Land, selbst wenn es nicht mehr von einer undurchdringlichen Wand begrenzt wird. Es macht ihnen zu viel Angst, von einem Tag auf den nächsten aufzubrechen und ins Ungewisse zu ziehen. Sie brauchen Zeit, um zu verstehen. Um ihre Realität neu kennenzulernen. Die aus Lügen geschriebene Geschichte zu vergessen und eine neue Wahrheit anzuerkennen.
Ich verstand sie. Mir ging es genauso. Ich brauchte ebenfalls Zeit.
Eine Pause. Um meine Wunden zu versorgen. Ein Marzipantörtchen zu essen. In den Armen meiner Schwester zu weinen. Die Entschuldigung meines Bruders anzunehmen. Zu verstehen, dass es nicht mehr alle auf mein Leben abgesehen hatten. Ich war nicht mehr auf der Flucht – und doch fühlte es sich jeden Tag so an, als würde ich vor etwas davonlaufen.
Und seien es nur die schrecklichen Bilder in meinem Kopf, die ich den Rest meines Lebens mit mir herumtragen würde. Ebenso wie die Menschen, die ich verloren hatte. Die Orte, die ich nie wiedersehen wollte.
Wie zum Beispiel das Innere der Minen. Die engen diamantenen Gänge, in denen so viele Wissensjäger ihr Leben gelassen hatten. Das Feld, auf dem meine beste Freundin und verhasste Feindin ihren Tod gefunden hatte. Crows Grab, das ich nur ein einziges Mal zu seiner Beerdigung besucht hatte und das mich schmerzhaft daran erinnerte, was wir verloren hatten, um zu gewinnen.
Und das Schloss. Das Schloss, das für alles stand, was ich verachtete. Das Gebäude, dessen Regenten unser Land seit Jahrhunderten gefangen gehalten hatte. Wenn ich könnte, würde ich es nie mehr wiedersehen. Nie wieder auch nur einen Gedanken daran verschwenden. Doch meistens bekam ich meinen Willen nicht.
»Wow, die Swefts haben das Wort protzig großgeschrieben, oder?«, murmelte Finch verdrießlich und stolperte über seine eigenen Füße, weil er den Kopf in den Nacken gelegt hatte, um die goldene mit Stuck verzierte Decke zu betrachten.
»Das ist nicht einmal der größte Raum hier«, bemerkte Jyn seufzend. »Das hier ist nur die Eingangshalle. Der Ball- und der Thronsaal sind noch viel monumentaler.«
»Unmöglich«, stieß Finch aus und schüttelte den Kopf.
Sein Blick glitt von rechts nach links und mit jedem in der Wand eingesetzten Rubin und jeder kleinen goldenen Statue auf einem Sockel wurden seine Augen runder. »Wer braucht denn all das Zeug?«, murmelte er kopfschüttelnd und wanderte zur Seite, um eine goldene Katzenfigur hochzuheben, die neben ein paar tierischen Freunden auf einem hölzernen Pult stand.
Er wog sie in seiner Hand und sah zögerlich zu mir hinüber. »Die muss Hunderte von Menti wert sein – und niemand würde sie vermissen, oder?« Mit unschuldiger Miene ließ er sie in seine Manteltasche wandern.
»Lass das, Finch«, sagte ich verärgert und stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. »Stell sie zurück.«
»Was denn?«, fragte er unschuldig. »Das ganze Zeug gehört doch niemandem mehr.«
»Na und? Wir sind nicht länger Diebe. Wir müssen es nicht sein«, erinnerte ich ihn streng.
Finch seufzte schwer und legte den Gegenstand widerstrebend zurück an seinen angestammten Platz. »Dass ich das noch mal erleben darf. Fawn, die Heilige, ermahnt mich zur Vernunft. Aber schön«, meinte er und hob die leeren Hände. »Zufrieden?«
»Sehr.«
»Du bist eine ganz schöne Heuchlerin, Fawn«, murmelte Caeden, der neben mir stehen geblieben war, nah an meinem Ohr.
»Was?«
»Na ja, darf ich dich daran erinnern, dass du mir erst gestern eine der goldenen Figuren aus meinem Schlafzimmer gestohlen hast?«
»Das ist etwas völlig anderes«, erwiderte ich pikiert. »Du hast sie mir geschenkt.«
»Wirklich? Davon weiß ich nichts.«
»Natürlich nicht. Du hast sie mir wider besseres Wissen geschenkt. Weil dir klar ist, wie gerne ich schon immer eine von ihnen besitzen wollte, und du sie ohnehin nicht brauchst.«
»Ah.« Er nickte, so als ergäbe das alles plötzlich einen Sinn. »Sicher. Gern geschehen. Ich hoffe, das Geschenk hat dir gefallen.«
Ich lächelte zufrieden. »Sehr.«
»Was treibt ihr dahinten?«, rief Jyn, die bereits einige Manneslängen mehr als wir zurückgelegt hatte und am riesigen Portal am Ende der Halle stand. »Sie warten auf uns. Sie haben uns bereits vor einem Sonnenschritt herbeordert.«
»Ach, Fawn reagiert immer noch nicht gut auf Anweisungen – außerdem bewundern wir die Umgebung«, erklärte Finch, setzte sich jedoch wieder in Bewegung.
Wie um ihn zu bestätigen, ließ auch ich meinen Blick kurz über die teuren Wandteppiche und marmornen Büsten schweifen. Das ganze Schloss wirkte mit seiner schieren Größe noch viel lächerlicher, seitdem niemand mehr hier wohnte.
Der König war zusammen mit dem Prinzen geflohen. Direkt nach dem Fall der Wand. Niemand wusste, wohin sie verschwunden waren – und mir war es auch egal.
Ich war es leid zu kämpfen. Leid, dass Leute verfolgt und Rechnungen beglichen wurden. Sollten sie doch in irgendein Loch kriechen und ein neues Leben beginnen. Solange ich sie nie wiedersehen musste, sollte es mir recht sein. Ich hatte genug von Rache und Wut. Die Gefühle fraßen einen von innen heraus auf und ließen eine unbefriedigende Leere zurück. Damit hatte ich abgeschlossen.
Wir holten zu Jyn auf und traten durch das Tor, das sie für uns öffnete. Sie behielt recht: Der dahinter liegende Thronsaal war noch monumentaler. Wie waren Könige nur jemals auf die Idee gekommen, dass sie so viel Platz brauchten? Es war mir ein Rätsel.
Wir hatten fast einen halben Sonnenschritt gebraucht, allein um das Schlosstor, die vorliegenden Höfe und die diversen Eingangshallen zu durchqueren. War es nicht unglaublich anstrengend, immer so viel Zeit aufzuwenden, wenn man mal seinen Garten besuchen wollte?
Nun, leider gab es hier keinen König mehr, den ich danach fragen konnte. Stattdessen war der Raum mit anderen, nicht königlichen Leuten gefüllt. Sechs Stück an der Zahl.
Ich lächelte Wren zu, der sich über Wochen hinweg in den Minen versteckt hatte und heute als Repräsentant des grauen Rings hier war. Dann hob ich die Hand und grüßte ein Dienstmädchen, das Gelb vertrat, und Caedens Mutter, die vom weißen Ring einstimmig als Vertreterin ihrer Interessen gewählt worden war. Sogar ein bärtiger Mann in goldenem Gewand war hier – es war derselbe Mann, der Alphias und meinen Kampf beaufsichtigt hatte. Er war auf Geheiß des Königshofs, des goldenen Rings, wenn man so wollte, hier, der zumindest noch aus einigen Fürsten und Adeligen bestand. Nur der rote Ring hatte niemanden geschickt. Denn es gab keine Roten Magier mehr und keiner hatte sich dazu berufen gefühlt, sie zu repräsentieren. Und dann war da noch …
»Nuthatch«, sagte ich bemüht freundlich. »Nett, dich in ganzen Stücken zu sehen.« Ich nickte dem ehemaligen Wissensjäger zu, der als Repräsentant für den blauen Ring einen Stuhl besetzte. Er grunzte lediglich. Ja, Veränderung brauchte Zeit. Doch manche würde sich dennoch nie vollziehen.
»Wir haben auf euch gewartet«, sagte Lady Falcron ungeduldig. »Wieso habt ihr so lange gebraucht?«
»Weil das Schloss riesig ist und wir keine Lust mehr haben zu rennen«, bemerkte Caeden knapp und zog sich einen Stuhl direkt neben ihr heran.
»Typisch«, knurrte Nuthatch. »Du bist schon immer zu spät zu wichtigen Besprechungen gekommen.«
»Mir war nicht klar, dass das hier wichtig ist. Ich dachte, ihr gründet gerade vielleicht einen Glückssteinverein«, erwiderte er trocken.
Nuthatch knackte mit dem Kiefer, doch ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Wieso bin ich hier?«, wollte ich wissen und sah erwartungsvoll in die Runde, bevor ich auf den Platz neben Caeden sank. »Weshalb sollte ich herkommen?«
»Nun, es gibt noch einige Unklarheiten, die wir hoffen, aus dem Weg räumen zu können«, unterrichtete mich Lady Falcron.
»Richtig«, stimmte ihr der Bärtige eifrig zu. »Wir können das Land erst neu aufbauen, wenn wir sie geklärt haben.«
»Und dafür braucht ihr mich?«, fragte ich verwirrt. »Ich vertrete keinen Ring. Ich bin unwichtig.«
Der goldene Hampelmann verzog das Gesicht. »Das stimmt so nicht ganz. Niemand von uns kann zum Beispiel entscheiden, was mit diesem Schloss passiert.« Er wedelte mit den Händen über seinem Kopf umher.
»Aber ich schon?«, erwiderte ich verdutzt.
»Nun ja«, sagte er und blickte mich etwas irritiert an. »Der Palast gehört schließlich Euch.«
Mein Herz fiel mir in die Hose. »Bitte was?«
»Ja«, fuhr der Mann fort und seine Wangen liefen pink an. »Er ist in Euren Besitz übergegangen, sobald Ihr Königin Alphia besiegt hattet.« Etwas ungelenk zog er etwas unter seinem Umhang hervor. »Ebenso wie es diese Krone ist. Ihr seid die rechtmäßige Königin Mentanos, Lady Tresten. Ihr habt Euch Alphias Platz erkämpft.«
Ungläubig starrte ich ihn an … während Finch neben mir anfing, laut zu lachen. »Königin Fawn?«, stieß er aus und sein gesamter Körper vibrierte von unterdrücktem Kichern. »Das Mädchen, das mich gestern mit ihren dreckigen Socken beworfen hat, ist Königin?«
»Du hast das letzte Marzipantörtchen gegessen!«, rief ich ungläubig. »Du kannst froh sein, dass es kein Stein war, der deinen Kopf getroffen hat.«
Finchs Lachen wurde lauter. »Es tut mir ausgesprochen leid, Eure Hoheit«, meinte er und verbeugte sich tief.
Ich verdrehte die Augen und wandte mich zu Caeden. Der sah angestrengt auf seine Fußspitzen, doch auch seine Mundwinkel fochten einen Kampf mit einem breiten Grinsen aus. Klasse.
Aber ich konnte ihnen nicht wirklich einen Vorwurf machen. Ich teilte ihre Meinung.
»Das kann nicht Euer Ernst sein«, meinte ich kopfschüttelnd und fixierte den Bärtigen. »Ich bin keine Königin.«
»Doch, schon«, beharrte er und zog unwohl die Schultern hoch, bevor er aufstand, auf mich zuging und mir zögerlich die Krone entgegenstreckte. »Sie gehört Euch.«
»Aber ich will sie nicht«, antwortete ich tonlos.
»Oh, kann ich sie dann haben?«, schlug Jyn vor und beäugte den goldenen Gegenstand neugierig. »Ich hatte nie das Ziel, Königin zu werden, aber jetzt kommt mir das wie ein Versäumnis vor.«
»Nein!«, sagte ich verärgert und nahm dem armen Vorsteher die Krone aus der Hand, bevor Jyn sie sich schnappen konnte. »Niemand wird sie bekommen«, stellte ich klar. »König Abrahl wollte seine niederlegen. Er wollte jedem Menschen eine Stimme geben – und dasselbe werde ich tun. Ich will die Krone nicht. Ich lehne es ab, Königin zu werden.«
Mit offenem Mund sah der Mann mich an … und aus den Augenwinkeln bekam ich mit, dass er nicht der Einzige war, der sichtlich überrascht wirkte.
»Aber Ihr könnt nicht einfach die Krone ignorieren! Ihr könnt nicht …«
»Klar kann ich«, unterbrach ich ihn harsch. »Caeden, wärst du so gütig?«, fragte ich dann und reichte den goldenen Gegenstand an ihn weiter.
»Mit Vergnügen«, murmelte er, bevor seine Hände anfingen, weiß zu glühen. Ich spürte die Hitze seiner Magie auf meinen eigenen, während er damit fortfuhr, die Krone zu einem wunderschönen goldenen Klumpen zu schmelzen.
Der Vorsteher sah ihm mit großen Augen dabei zu, bis Caeden den Ball fallen ließ und er vor seine Füße rollte.
»Wunderbar«, sagte ich erleichtert. »Keine Krone, keine Königin.«
»Aber so einfach ist das …«
»Das Land braucht keine Königin mehr«, unterbrach ich den Mann ungeduldig.
»Aber es braucht Euch«, stammelte der Vorsteher. »Ihr wart es, die es befreit hat. Die Leute sehen zu Euch auf.«
Mein Magen wurde flau und hastig schüttelte ich den Kopf. Das sollten sie lassen. Mein moralischer Kompass war vielleicht innerhalb der letzten Monate geflickt worden – aber er war noch immer ein brüchiges altes Ding.
»Ihr solltet Ihre Anführerin werden«, beharrte der Vorsteher.
Ich schluckte und schüttelte den Kopf. »Aber das möchte ich nicht.«
»Ihr könntet den Palast besitzen«, stellte er klar. »Hier wohnen.«
»Aber das möchte ich nicht!«, wiederholte ich lauter.
»Aber was wollt Ihr dann?«, brachte er hervor. »Welches Leben wollt Ihr führen?«
Ich öffnete den Mund … doch wusste nicht, was ich sagen sollte.
Wie sollte ich jetzt bestimmen, was für ein Leben ich den Rest meiner Tage führen wollte? War das Leben nicht gerade so schön, weil man es nicht wusste? Weil hinter jeder Ecke eine neue Überraschung lauerte?
Eigentlich, wenn ich darüber nachdachte, wusste ich nur eines.
»Ich möchte gehen«, stellte ich leise fest. »Überall sein, aber nicht hier.«
Es war eine fundamentale Wahrheit, die mich bereits die ganzen letzten Tage über verfolgt hatte. Denn alles an diesem Ort machte mich nervös und traurig. Und damit meinte ich nicht nur das Schloss. Also stand ich auf, nickte dem Vorsteher zu und drehte mich um.
Das Getuschel der Ringrepräsentanten verfolgte mich bis zur Tür, doch es war mir egal. Es kümmerte mich längst nicht mehr, was andere über mich dachten. Ich konnte ihnen ihre Gedanken nicht vorschreiben und wollte es auch gar nicht. Jeder sollte sein eigenes Denken selbst übernehmen, auch wenn die wenigsten Menschen dazu in der Lage zu sein schienen.
Aber es war nicht mehr meine Aufgabe, sie darauf aufmerksam zu machen. Ich hatte alles getan, was ich hatte tun können … und ich war müde. Erschöpft. Ich wollte nicht mehr diskutieren. Keine Intrigen mehr aufdecken. Ich wollte … frei sein. Wirklich und wahrhaftig frei. Denn selbst ohne Rote Wand gab es in und um Mentano noch viel zu viele Mauern.
Ich konnte erst wieder freier atmen, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. All diese Menschen wollten dieses Land besser machen. Doch ich wollte es nur verlassen. Es war nicht mehr meine Heimat. Es war nichts mehr als eine schreckliche Erinnerung.
Ich hatte die Eingangshalle zur Hälfte durchquert, als ich hörte, wie das Portal zum Thronsaal sich erneut öffnete.
Ich dachte, es wäre Caeden, der mir folgte. Doch ich irrte mich. Als ich mich umwandte, erkannte ich Nuthatch.
»Weißt du, Fawn, ich versuche schon einige Friedensjahre lang zu ergründen, ob du mutig oder dumm bist«, meinte er, während er auf mich zuschlenderte. »Und du machst es mir wirklich immer wieder schwer, eine Entscheidung bezüglich dessen zu treffen.«
Ich lachte trocken auf und blieb stehen. »Du solltest aufhören, die Menschen, die du kennst, in Kategorien zu ordnen, Nuthatch. Warum muss es denn das eine oder andere sein? Kann ich nicht mutig und dumm sein?«
Er lächelte. Seine verzogenen Mundwinkel hoben sich und für einen kurzen Moment konnte ich mir vorstellen, wie er ausgesehen haben musste, bevor ihm seine Tochter genommen worden war. Bevor sein Gesicht verbrannt und vernarbt worden war.
»Du hast recht. Das kannst du«, stimmte er mir zu. »Aber was ich nicht verstehe … Du hast so hart dafür gekämpft, dieses Land zu verändern. Hast dich gegen den Willen von allen durchgesetzt, um deinen eigenen Weg gehen zu können. Willst du jetzt nicht die Früchte für deine Arbeit ernten?«
Ich rieb mir mit der Faust über die Wange und nickte. »Doch. Das will ich. Aber mein Ziel war es niemals, dieses Land zu regieren. Mein Ziel war es immer nur, Gerechtigkeit zu ermöglichen … und ein Leben zu haben, das mir gehört. Und das habe ich erreicht. Ist es da nicht mein gutes Recht, es endlich so zu führen, wie ich es möchte? Und nicht, wie alle anderen es von mir erwarten?«
Nuthatch senkte das Kinn und nickte langsam. »Crow hatte recht mit dir, weißt du?«, sagte er dann leise. »Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass du zu waghalsig und stur bist … aber er hat nur erwidert, dass dein Herz am richtigen Fleck ist und unser Land ein paar waghalsige Sturköpfe gebrauchen kann. Er meinte … wir bräuchten mehr Menschen, die eine eigene Meinung haben. Die zu viele Fragen stellen. Die sich nichts vorschreiben lassen wollen. Und du würdest all diese wichtigen Eigenschaften vereinen. Glaub mir, sie nerven, aber … er hatte recht. Du hast das Herz am richtigen Fleck und wir brauchen Menschen wie dich.«
Eine Weile sah ich Nuthatch nur mehrfach blinzelnd an. Dann sagte ich verwundert: »Wow, Nuthatch. Sollte es etwa noch so weit kommen, dass wir Freunde werden?«
Der Dunkeldieb schnaubte. »Jetzt mach mal halblang. Ich erkläre dir lediglich, dass ich dich respektiere. Dein Weg war besser … besser als der, den ich einschlagen wollte.«
Ich lächelte und Wärme flutete meine Brust. »Danke schön«, murmelte ich. »Ich nehme an, du bist trotzdem erleichtert darüber, dass ich nicht deine Königin werde?«
»Sehr«, sagte er sofort. »Ich würde am liebsten jeden Adeligen von seinem Podest stoßen – vor Königinnen würde ich auch nicht haltmachen.«
Unverhofft musste ich erneut lächeln … als seine Worte eine Erinnerung lostraten. Mir fiel etwas ein, das Red Dove gesagt hatte. »War er wirklich ein Adeliger?«, fragte ich leise. »Crow?«
Nuthatch lachte tief. »Ich werde gar nicht erst fragen, woher du das weißt, aber ja … Er hat sogar am Königshof gelebt. Mae hat ihn eines Tages dort erkannt. Aber er war ein guter Mann. Hat sich nie über andere gestellt. War nur Anführer, weil er etwas Gutes erreichen wollte. Nicht, weil er es genossen hätte. Ihr ähnelt euch in dem Fall wohl.«
Ich nickte und wischte eine einzelne Träne von meiner Wange. »Er war mein Vorbild. Auch wenn er es nicht sein wollte, weil die Dunkeldiebe ja einen schlechten Einfluss auf mich haben könnten.«
»Er hat dich sehr geliebt, Fawn«, murmelte Nuthatch ernst und suchte mit dem Blick meinen. »Auch wenn er es nicht vor den Dunkeldieben aussprechen konnte. Er wollte dich schützen.«
Meine Kehle schnürte sich enger, dennoch lächelte ich dankbar. »Ich weiß. Und er war erfolgreich, oder nicht?«
Nuthatch nickte, und auf einmal verlegen, wandte ich den Blick ab und räusperte mich. »Was wirst du tun?«, wollte ich wissen. »Jetzt, da die Wissensjäger nicht mehr gebraucht werden.«
»Ich bleibe hier«, antwortete er ohne Umschweife. »Irgendwer muss dafür sorgen, dass kein weiterer Adeliger die Gunst nutzt und sich selbst zum König erklärt. Mentano hat einen langen Weg vor sich, aber ich möchte, dass es die Freiheit bekommt, die es verdient. Die meisten Bewohner gehen noch immer ihrer Arbeit nach. Weil sie nicht wissen, was sie sonst mit ihrer Zeit anfangen sollen. Jemand muss dafür sorgen, dass sie ordentlich entlohnt werden. Dass sie überhaupt lernen, mit Geld und nicht mit Essensmarken umzugehen. Jemand muss ihnen zeigen, dass sie sich nicht mehr vor Roten Magiern zu verstecken brauchen, weil die ihre Kraft verloren haben – und dass sie genauso viel wert sind wie die Weißen Magier oder Adeligen.«
Ich schluckte und nickte. »Das ist gut«, flüsterte ich. »Du bist der richtige Mann für diese Aufgabe.«
Er wirkte ehrlich überrascht von meiner Aussage. »Tatsächlich?«
»Ja.« Ich lächelte und berührte ihn sacht am Arm. »Ich habe dich schon immer für einen guten Mann gehalten, Nuthatch. Einen grimmigen Idioten, aber einen guten Mann. Du musstest einer sein, sonst hätte Crow dir nicht vertraut. Du willst das Richtige tun – und jetzt hast du die Mittel dazu. Gratuliere.«
»Danke«, antwortete er etwas unbeholfen und seine Wangen überzog eine sanfte Röte.
Wir waren wohl beide dankbar, als die Tür sich auf ein Neues öffnete und Caeden heraustrat. »Sie brauchen dich drinnen, Nutty«, verkündete er. »Niemand hat Ahnung davon, wie Schule mit Zugang zu Büchern funktionieren soll.«
»Schön«, sagte Nuthatch sofort und trat erleichtert einen Schritt zurück. »Ich wünsche dir das Beste, Fawn«, meinte er dann noch, bevor er mir den Rücken zuwandte und zurück in den Thronsaal verschwand.
Ich sah ihm nach und nickte. »Ich dir auch«, murmelte ich dann und fragte mich, als er hinter der Tür verschwand, ob ich ihn soeben wohl zum letzten Mal in meinem Leben gesehen hatte.
»Alles okay?«, fragte Caeden vorsichtig und kam auf mich zu, bevor er den Arm um meine Schultern legte.
Ich nickte und ließ mich gegen ihn sinken. »Ja. Aber …«, zögerlich griff ich nach seiner Hand. »Ich habe es ernst gemeint, Caeden. Gerade im Thronsaal. Ich möchte gehen. Mentano verlassen.«
Caeden drückte mich an sich und küsste sacht meine Schläfe. »Natürlich«, erwiderte er. »Das haben wir doch schon längst besprochen.«
»Was?« Verdutzt sah ich zu ihm auf.
»Na, im Wald. Auf dem Weg zur Roten Wand. Wir haben beschlossen, dass wir gehen und nicht zurücksehen. Dass wir wahrscheinlich Jyn und den Baum mitnehmen müssen. Ich habe es nicht vergessen.«
Erleichterung durchströmte mich und ich ließ meine Stirn gegen sein Kinn sinken. »Gut«, sagte ich etwas atemlos.
»Ja, gut«, bestätigte er. »Aber du musst es meiner Mutter sagen.«
Ich lachte nervös. »Nein, nein. Das ist deine Aufgabe.«
Er zog eine Grimasse. »Sie wird nicht erfreut sein, aber na gut … Und sag mal: Wo willst du am liebsten hin?«
»Irgendwohin, wo das Meer blau ist«, murmelte ich. »Wo die Sonne nicht aufhört zu scheinen.«
»Ah.« Caeden verzog das Gesicht. »Nie? Ich weiß nicht, ob ich damit einverstanden bin. So ein wenig Regen ab und zu wäre schon ganz nett. Davon gibt es hier viel zu wenig. Ich würde gern mal an einen Ort reisen, an dem Kälte kein Fremdwort ist. Solche muss es doch geben, oder?«
»Aber Kälte ist so … kalt«, erwiderte ich verdrießlich und zog ihn in Richtung Ausgang. Das Schloss war viel zu stickig.
»Ja. Das ist der Sinn von ihr.«
»Mhm, nein. Das gefällt mir nicht.« Ich schüttelte den Kopf. »Du hast doch sonst immer von Palmen und dem Meer geredet. Das möchte ich. Und ich fürchte, ich muss meinen Kopf in dem Fall ausnahmsweise durchsetzen.« Entschuldigend blickte ich ihn an. »Tut mir leid.«
Caeden lachte heiser. »Ausnahmsweise?«
Ich zuckte die Achseln. »Ja. Ich schleif dich mit gefesselten Händen an meinen Traumort, wenn es sein muss.«
Er grinste. »Ich würde aufpassen, wem du hier drohst, Fawn«, wisperte er nah an meinem Ohr. »Ich besitze meine Magie noch. Ich bin stärker als du.«
»Bist du das?«, fragte ich zweifelnd und fuhr mit der Hand seinen Hals hinauf. Ich spürte unter meiner Berührung, wie sich sein Puls beschleunigte. »Bist du sicher, dass du mehr Macht als ich besitzt, Lord Kaltherz?«
Einige Herzschläge lang sah er mich unbewegt an. Dann seufzte er schwer. »Schön. Wir reisen erst ans blaue Meer. Danach können wir ja immer noch gucken.«
»Wunderbar«, sagte ich zufrieden.
»Jaja«, meinte er belustigt. »Habe ich mir damit nicht langsam den Spitznamen Lord Warmherz verdient?«
Ich tippte mir mit dem Zeigefinger ans Kinn und tat so, als würde ich überlegen. »Nein«, stellte ich jedoch schließlich schlicht fest.
Caeden schnaubte. »Gut. Wenn du mich mit Lord Kaltherz ansprichst, werde ich anfangen, dich nur noch als Hoheit zu bezeichnen.«
Ich verengte die Augen. »Das würdest du nicht wagen.«
Zweifelnd wiegte er den Kopf von der einen auf die andere Seite. »Bist du dir da sicher?«, fragte er und öffnete das Schlossportal zu einem der Innenhöfe. »Es ist doch nur die Wahrheit. Die kleine Lügendiebin ist zur Lügenkönigin aufgestiegen … Wer hätte damit rechnen sollen?«
Ich verdrehte die Augen, musste jedoch lächeln. »Nur Königin, Caeden. Mit Lügen habe ich nichts mehr am Hut.«
»Du wirst also auch nie wieder eine aussprechen?«, folgerte er mit gehobenen Brauen.
Ich lächelte breit und reckte mein Kinn der Sonne entgegen. »Klar«, log ich.
Aber was sollte ich auch tun? Lügen lag mir einfach im Blut.
ENDE