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Der Geruch des Hafens blieb hinter uns und wurde durch eine unangenehme Kombination aus abgestandenem Bier, gegrilltem Fleisch und Urin ersetzt. Wir waren tief im Old-Port-Viertel, als mein Handy klingelte. Laut Klingelton musste das Jinx sein. Aber sie rief vom Bürotelefon an, nicht von ihrem Handy.
Was machte Jinx so früh am Morgen im Büro? Selbst wenn sie keinen Kater hätte, wäre es seltsam, dass Jinx jetzt im Büro war. Wir bleiben manchmal länger dort, wenn wir Kunden mit Sonnenallergie haben, aber Jinx öffnete das Büro nie so früh. Sie war ein echter Morgenmuffel. Ich übrigens auch.
Ich unterdrückte ein Gähnen, verzog das Gesicht und beantwortete den Anruf.
„Hey“, sagte ich. „Ich bin fast daheim. Ceff ist bei mir, und wie sind auf dem Weg zum Loft. Was machst du im Büro?“
„Wir haben ein Problem“, sagte Jinx. „Moment mal.“
Etwas strich über das Handy, wahrscheinlich die Hand meiner Mitbewohnerin. Ich konnte im Hintergrund ein Würgen und das Rascheln von Papier hören. Hatte sie gerade in einen unserer Papierkörbe gekotzt? Vielleicht hätte ich sie nicht allein zuhause lassen sollen.
„Anscheinend hast du ein Problem“, sagte ich nachsichtig, als sie wieder ans Telefon kam. „Wie schlimm ist der Kater?“
„Ha, ha“, sagte sie. „Ich werde nie mehr mit einem Cluricaun trinken, das steht fest. Aber ich rufe nicht deshalb an. Das Bürotelefon klingelt nonstop. Wir haben mehrere Notfälle. Ich rufe diese Kunden so schnell wie möglich zurück, und ich muss noch mehrere anrufen, aber eines ist bizarr ... ich glaube, dass all die Fälle miteinander verknüpft sind.“
„Ich bin auf dem Weg“, sagte ich. Ich legte auf und sprach mit Ceff. „Der Plan hat sich geändert. Ich muss zum Büro gehen.“
„Wann hast du zum letzten Mal geschlafen oder etwas gegessen?“, fragte er.
Ich steckte meine Zunge in meine Wange und dachte an die letzten zwei Tage.
„Ich habe vorgestern ein Nickerchen gemacht, und ich glaube, dass ich gestern früh eine Scheibe Toast gegessen habe“, sagte ich. Ich zuckte mit den Schultern. „Die Pflicht ruft.“
Ceff wusste, was Pflicht bedeutete. Er widersprach mir nicht, obwohl er mich abwägend von Kopf bis Fuß anblickte.
„Ich werde einen Ort finden, wo ich Nahrung für Menschen kaufen kann“, sagte er. Anscheinend gefiel Ceff das, was er sah, nicht besonders, denn er klang förmlicher – und ich hatte bemerkt, dass er das unter Stress tat. „Ich werde zu deinem Geschäftssitz zurückkehren, sobald ich fertig bin.“
„Und Kaffee?“, bat ich ihn und drückte die Daumen.
Er nickte und ging die Straße hinunter zu einer Pizzeria, die die ganze Nacht offen war. Tomaten und Fett waren ein bewährtes Mittel gegen einen Kater, also war das eine gute Wahl. Jinx würde es vielleicht schaffen, das im Magen zu behalten.
Ich drehte mich um und schleppte mich zum Büro von Private Eye, unserer aufstrebenden Detektei. Das Geschäft war in letzter Zeit gut gelaufen, aber das hatte mich nicht auf die Menge vorbereitet, die vor unserer Tür wartete.
Viele drängten sich vor unserem Büro. Manche standen händeringend da, andere weinten oder trösteten die noch mehr verstörten, aber alle hatten eines gemeinsam. Alle unsere verzweifelten Kunden waren Feenwesen. Das war ungewöhnlich. Wir hatten eine zunehmende übernatürliche Kundschaft, seit unserer Rolle bei der Suche nach Ceff und dem Zurückschlagen der Invasion der Each Uisge in Harborsmouth. Aber mit Ausnahme von Pixies und Pukas versammelten sich Feenwesen nicht gern in großen Gruppen. Eine ganz aus Feenwesen bestehende Menge war seltsam.
Was zum Teufel war hier los?
„Entschuldigung“, sagte ich, als ich mich der Menge näherte. „Stellen Sie sich bitte ordentlich hintereinander an. Ich verspreche, dass wir mit jedem sprechen werden, sobald wir können.“
Sobald die versammelten Feenwesen erkannten, war ich war, drängten sie sich vor und sprachen alle gleichzeitig. Ich sprang zur Seite und wich greifenden Händen und flehenden Stimmen aus. Ich hob meine Hände, so dass die Ärmel meiner Jacke herunter rutschten und das Silber und Eisen meiner Klingen enthüllten.
„Halt!“, schrie ich. „Ich kann Ihnen so nicht helfen.“ Das war keine Lüge. Wenn alle mich gleichzeitig berührten, würde ich wahrscheinlich tagelang ein zitterndes Häufchen Elend sein. „Stellen Sie sich bitte in einer Schlange an und warten Sie, bis Sie dran sind. Ich verspreche, dass ich mein Bestes tun werde, Ihnen allen zu helfen.“
Ich schluckte aufgeregt und hielt den Atem an, während ich wartete, ob sie auf mich hören würden. Ich wollte weglaufen, bis die Menge sich verlaufen hatte, da ich so weniger das Risiko einer unerwünschten Vision einging, aber ich wollte andererseits Jinx nicht in diesem Chaos allein lassen. Ich hatte keine Ahnung, was diese Feenwesen so aufgeregt hatte, aber es musste schlimm sein. Ich verschränkte die Arme und wartete.
Einige Feenwesen fletschten die Zähne, aber sie alle traten zurück und bildeten eine Schlange, die um den ganzen Häuserblock reichte. Als ich mir die lange Schlange ansah, bemerkte ich Gegenstände, die in Händen, Tentakeln, Mäulern und Pfoten gehalten wurden. Jedes Feenwesen hielt ein Spielzeug, eine Decke oder ein Kleidungsstück eines Kindes.
Bei Mabs Knochen, das war mir einfach nicht geheuer.
Während mich all diese geröteten Augen anstarrten, räusperte ich mich und ging zur Bürotür. Ich suchte mit zitternden Fingern nach meinen Schlüsseln, aber Jinx kam mir zuvor. Sie öffnete die Tür und zog mich hinein.
„Sorry, ich habe ihnen gesagt, dass sie draußen warten und dich nicht berühren sollen“, sagte sie.
Jinx wirkte blass, aber sie hatte geduscht und trug nun ein sauberes schulterfreies Kleid mit schwarzrotem Blumenmuster. Das Büro roch etwas nach Raumspray, aber ich vermied es, tief einzuatmen. Ich hielt eine Hand vor den Mund und unterdrückte einen Seufzer. Bei diesem Spießrutenlauf zwischen Kunden war mir fast schlecht geworden. Wenn ich den Geruch des Erbrochenen unter dem Raumspray roch, würde ich wahrscheinlich in meinen eigenen Papierkorb kotzen.
Ich ließ mich in den Sessel für Kunden fallen, der vor dem Schreibtisch von Jinx stand, so dass die Gesichter der nervösen Feenwesen hinter mir waren.
„Weißt du, warum sie alle hier sind?“, fragte ich und deutete mit dem Daumen über die Schulter.
Das Telefon klingelte, aber Jinx ließ das vom Anrufbeantworter übernehmen. Sie wendete ihre Augen von den blinkenden Signalen des Telefons ab und biss sich auf ihre rubinrote Lippe.
„Ja“, flüsterte sie. Jinx räusperte sich und blickte mich dann direkt an. Meine Partnerin sah nicht nur verkatert aus, sie wirkte gequält. „Sie sind hier, weil ihre Kinder verschwunden sind.“
„Warte“, sagte ich und packte die Armlehne des Sessels mit meinen behandschuhten Händen. „Willst du sagen, dass sie alle Eltern entführter Kinder sind?“
Jinx nickte.
„Ja, jemand hat sie alle entführt“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Alle in einer Nacht. Diese Feenkinder lagen sicher in ihren Betten, und dann waren sie plötzlich weg. Ich meine nur, wie ist das überhaupt möglich?“
Ich hatte gehört, dass Feenwesen Kinder von Menschen aus ihren Betten stahlen, aber nicht umgekehrt. Eine Massenentführung von Feenkindern ergab einfach keinen Sinn.
„Und die Kunden am Telefon?“, fragte ich.
„Weitere Kinder, die von daheim verschwunden sind“; sagte sie. „Ich habe die Eltern gebeten, etwas aus dem Kinderzimmer zu bringen, das du berühren könntest. Die da draußen kamen als erste. Sie erschienen schneller, als ich erwartet hatte.“
Ich schloss meine Augen, und es wurde mir so schwindlig, dass sich der Raum zu drehen schien. Stress und Müdigkeit machten sich bei mir bemerkbar. Jinx atmete heftig ein, und ich öffnete die Augen, um zu sehen, was jetzt los war. Ich hoffte, dass es warten konnte, was auch immer das war. Ohne eine Tasse starken Kaffee konnte ich mir das nicht antun. Ich sah mein Handgelenk an und seufzte. Der Grund dafür, dass Jinx überrascht eingeatmet hatte, war das Leuchten meiner Haut.
„Verdammt, ich habe keine Zeit für so etwas“, sagte ich.
„Du hast heute nichts gegessen“, sagte sie. Jinx tippte mit einem langen, roten Fingernagel auf ihre Schreibunterlage und starrte mich wütend an. Tipp, tipp, tipp. „Und letzte Nacht hast du auch nicht geschlafen.“
Das war keine Frage, aber ich beantwortete sie trotzdem.
„Nein“, sagte ich. Ich ließ den Sessel los, strich mir die Haare aus dem Gesicht und zog sie zu einem unordentlichen Haarknoten zusammen. „Ceff bringt Essen, aber der Schlaf wird warten müssen.“
Ich würde erst schlafen können, nachdem ich mit allen Eltern gesprochen hatte, die vor meinem Büro standen. Ich blickte aus dem Fenster und seufzte. Die Menge an Feenwesen wurde nicht kleiner.
Das war kein Fall, bei dem es um einen weggelaufenen jungen Grottenschrat ging. Es waren Dutzende von Feenkindern entführt worden. Zu sagen, dass wir nicht vorbereitet und vom Personal her unterbesetzt waren, wäre eine enorme Untertreibung. Ich war froh, dass Ceff sich entschlossen hatte, hier zu bleiben. Wir konnten jede Hilfe gebrauchen.
Ich richtete mich auf und setzte mich dann hinter meinen Schreibtisch. Ich lief dem vorwurfsvollen Blick von Jinx nicht davon, bestimmt nicht.
Ich warf mich auf meinen Stuhl und bereitete mich auf den Fall vor. Obwohl wir zahlreiche Kunden hatten, war das ein Fall – das musste so sein. Ich schloss die Augen und dachte an die aufgeregten Eltern, die heute Morgen entdeckt hatten, dass die Betten ihrer Kinder leer waren. Ich stellte mir vor, wie die verängstigten Kinder an einem kalten und dunklen Ort kauerten. Wut stieg in mir auf, und ich beobachtete, dass die goldenen Funken hinter meinen Augenlidern allmählich verschwanden. Ich biss die Innenseite meiner Wange und dachte an die Familien da draußen, die verzweifelt ihre Kinder retten wollten. Ich packte meinen Zorn mit beiden Händen und hielt mich daran fest.
Schmerz und Zorn hatten mich früher schon gerettet. Hoffentlich konnten sie Stress, Sorgen und Erschöpfung wegbrennen, bis das alle vorbei war. Wenn meine Wut auf den Entführer – dem wahren Ungeheuer in diesem Fall, egal, wie meine Kunden aussahen – mir half, meine Wisp-Kräfte zu kontrollieren, umso besser. In der Stadt mit leuchtender Haut herumzulaufen würde meine Aufgabe nur erschweren, vor allem, wenn die Feenhöfe eingriffen.
Es wäre schwierig, entführte Kinder zu finden, wenn man in einem Holzsarg lag.
Verdammt, warum musste es um Kinder gehen? Ich schlug mit der Faust auf den Schreibtisch und warf eine Kaffeetasse voller Kulis, Bleistifte und Scheren um. Ich blickte auf mein Spiegelbild in einer großen Schere, die auf meiner Schreibunterlage landete. Meine Haut leuchtete nicht mehr, Mab sei Dank. Zeit, sich an die Arbeit zu machen und diese Kinder heimzubringen.
Ich öffnete eine Schublade und schob das Durcheinander auf meinem Schreibtisch hinein. Ich könnte das später wieder sortieren. Jetzt hatte ich Arbeit zu erledigen. Ich hob mein Kinn und blickte Jinx an.
„Lasse sie herein“, sagte ich.