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Vor vierundzwanzig Stunden hatte ich einen Arm voller Einkaufstüten jongliert, während Jinx auf Joysen Hill einkaufte. Jetzt lief ich wieder durch Market Street, begleitet von Ceff. Es machte viel mehr Spaß, ihn anzuschauen als meine Mitbewohnerin. Mein Freund, der Kelpie-König hatte ein tailliertes Hemd an, das in dunkelblaue Jeans gesteckt war, als er den Hügel hinauf lief. Die Jeans betonten einige seiner attraktivsten Aspekte. Ich leckte mir die Lippen, und mein Herz schlug schneller. Wie hatte ich, ein mürrisches Halb-Feenwesen so einen traumhaften Freund gefunden?
Ich schüttelte den Kopf und wendete meine Aufmerksamkeit dem Hügel und seinen Bewohnern zu. Ich machte einen schnellen Doppelschritt vorwärts, um neben Ceff zu kommen. Hinter ihm und seinem knackigen Hintern zu gehen war eine Ablenkung, die ich mir nicht leisten konnte.
Wir suchten beide die Straße nach Hinweisen und Spuren von Melusine, Wisps oder dem Katzen-Sidhe ab. Für Passanten sahen wir wahrscheinlich wie ein Pärchen aus, das noch etwas Spaß haben wolle, bevor es die Bars abklapperte.
Ich ließ meine Arme locker hängen und achtete auf etwaige Bedrohungen. Meine Lederjacke bedeckt die Wurfmesser, die ich an meine Handgelenke geschnallt hatte, sowie die Pflöcke hinten im Gürtel. Ich hatte weitere Amulette gegen Feenwesen in meinen Taschen und einen eisernen Dolch in meinem rechten Stiefel.
Ceff war ebenfalls bewaffnet. Bevor wir das Loft verließen, hatte ich gebeten, die Waffe an seinem Knöchel näher ansehen zu dürfen. Er hatte sein Hosenbein hochgezogen und die Waffe aus einem Futteral am Knöchel gezogen, das verdächtig aussah, als ob es aus dickem Seetang gemacht worden wäre.
Ich hatte vorher recht gehabt. Ceffs Waffe war ein Dreizack, ein tödlicher Speer mit drei Spitzen. Ceff bewegte sein Handgelenk, und die Spitzen schossen aus einem ausziehbaren Griff. Die Waffe war beeindruckend, wie der Mann selbst.
Jetzt ging Ceff mit geschmeidiger Grazie die Straße entlang, und seine Waffe und die mit einem Rennpferd vergleichbare Geschwindigkeit waren bereit. Ich zog mein Handy aus meiner Jackentasche und sah mir nochmals die Karte an. Wir näherten uns dem ersten Heim auf unserer Liste.
„Hier entlang“, sagte ich. Ich nickte auf die Straße rechts vor uns zu. „Zwei Kinder wurden aus Häusern in Baker’s Row entführt – eine Bean Tighe und eine Wassernixe.“
Ich ging Baker’s Row entlang, und bei dem Duft von Brot und Gebäck lief mir das Wasser im Mund zusammen. Plötzlich bemerkte ich, dass Ceff nicht mehr neben mir war. Ich drehte mich um und sah, dass er mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck stehengeblieben war.
„Eine Wassernixe, hier?“, fragte er.
Wassernixen lebten üblicherweise nicht in Städten, vor allem nicht hoch auf einem Hügel und weit von Gewässern entfernt. Wassernixen, die zu den Nymphen gehörten, lebten meist in Süßwasser, in Bächen oder Flüssen. Joysen Hill war ein ungewöhnlicher Aufenthaltsort für ein Wasser-Feenwesen, aber eine der Familien, die ein verschollenes Kind gemeldet hatte, wohnte in einem Brunnen in Baker’s Row.
„Ja“, sagte ich. „Ich glaube, sie leben im Springbrunnen am Merrion Square.“
Dann erreichten wir Merrion Square. Hier verbreitete sich die schmale Baker’s Row an der Kreuzung mit Grant Street und bildete einen kleinen Park. Parks waren in diesem Stadtteil selten, und die Einkäufer nutzen diesen Ruheplatz. Jede Bank war von Leuten besetzt, die Kaffee und Gebäck gekauft hatten, sowohl von verdächtig aussehenden Männern, die dubiose Geschäfte abwickelten. Der Springbrunnen befand sich direkt vor uns, in der Mitte des Parks.
„Wir können uns ja mal umsehen“, sagte ich.
Ich seufzte und ging zum Rand des Parks. Ich bezweifelte, dass wir etwas Nützliches finden würden. Seit der Entführung waren hier zu viele Leute entlang gekommen. Als die Such am Rande nichts fand, ging ich in den Park hinein und folgte einem klassischen Rastermuster. Aber ich fand nichts, außer weggeworfenen Pappbechern, Kondomen und Zigarettenkippen.
Ich ging zu Ceff, der neben dem Springbrunnen stand und in plätschernden Pfeiftönen mit einer attraktiven nackten Frau sprach. Langes, grünes Haar floss in kunstvollen Wellen über ihren Körper und bedeckte ihre Brüste teilweise. Ich neigte meinen Kopf und ließ mein eigenes Haar über mein Gesicht fallen. Ich spürte, dass meine Wangen und Ohren rot wurden.
Unter anderem Umständen wäre ich eifersüchtig gewesen, aber die blauhäutige und grünhaarige Frau weinte und stand händeringend da. Wir hatte unsere Nixenfamilie gefunden.
Niemand zuckte wegen der nackten Frau im Springbrunnen auch nur mit der Wimper. Ich warf einen Blick aus den Augenwinkeln und bestätigte meinen Verdacht. Die Nixe verbarg sich unter einem Glamourzauber, den nur Ceff und ich durch durchschauen konnten. Für die Passanten war die Nixe nur eine Wasserfontäne im Springbrunnen.
Das Ceff in der zwitschernden Nixensprache mit niemandem sprach, würde seltsam erscheinen, aber vielleicht dachten die Leute nur, dass er Vogelstimmen imitierte. Und zudem waren wir auf Joysen Hill. Wahrscheinlich war es egal, was die Leute dachten. Selbst tagsüber kümmerte man sich hier um seine eigenen Angelegenheiten.
„Sie sagt, dass ihr Kinder sicher unter Wasser war, als sie letzte Nacht einschlief, aber als sie heute früh erwachte, was das Kind weg“, sagte er.
Ich nickte.
„Das ähnelt dem, was unsere anderen Kunden erzählt haben“, sagte ich. „Frage sie, ob sie in letzter Zeit verdächtige Dinge im Park bemerkt hat.“
Ceff zwitscherte die Frage, und die Nixe wedelte mit den Händen und deutete auf eine Gruppe von Männern, die offensichtlich nichts Gutes im Schilde führten. Als sie fertig war, zog sie an ihrem Haar und stöhnte.
„Sie sagt, dass sich die Menschen hier immer verdächtig benehmen, aber sie glaubte, dass ihre Familie in Sicherheit wäre, da sie sorgfältig durch hinter einem Glamourzauber versteckt waren“, sagte er. „Kein Mensch hätte ihr Kind stehlen können, und die Feenwesen, die auf diesem Teil des Hügels leben, sind eher Einzelgänger. Sie war sich keiner Gefahr bewusst. Sie dachte, dass das Kind sicher sei.“
„Sage ihr, dass wir alles tun werden, um ihr Kind zurückzubringen“, meinte ich.
Als ich wegging, wurde es mir eng um die Brust. Ich hatte versprochen, diese Kinder heimzubringen, aber bisher hatte ich keine nützlichen Hinweise, sondern nur Fragen. Ich sah mir an, wo die Sonne stand und seufzte. Der Tag verging viel zu schnell.
Ceff lief im Gleichtakt neben mir, als ich zur nächsten Adresse auf unserer Liste eilte. Ich lief der weinenden Nixe nicht davon, bestimmt nicht. Wenn ich mir das immer wieder sagte, würde ich es vielleicht sogar glauben.
„Hast du etwas gefunden?“, fragte er.
„Nein“, sagte ich und schüttelte den Kopf. „Dieser Ort ist zu öffentlich. Wenn die Entführer Spuren hinterlassen hatten, sind diese schon lange verwischt.“
Die Suche im Park und die Befragung der Mutter hatten nichts eingebracht.
„Wir müssen die Kinder finden“, sagte er. Er ballte seine Fäuste, und seine Augen spiegelten seine Emotionen wider.
„Sehen wir uns mal das Heim der Bean Tighe an“. sagte ich. Ich blinzelte schnell und zog mein Handy heraus, um die Adresse zu überprüfen. Ich kannte die Adresse bereits, aber das gab mir einen Vorwand, meinen Blick abzuwenden. Ceffs in die Augen zu schauen war zu verdammt schmerzlich. Er hatte den Verlust seiner eigenen Kinder erleben müssen, und ich fühlte mich schuldig, weil ich den Wisp-Thron nicht rechtzeitig beansprucht und dadurch die Entführungen verhindert hatte. „Hier entlang.“
Wir gingen schweigend die nächsten beiden Häuserblocks entlang, was mir ganz recht war. Ich verwendete die Zeit für die Atemübungen, die mir Jenna beigebracht hatte. Egal, ob beim Kampf gegen Monster oder gegen meine eigenen Gefühle, half dieses Ein- und Ausatmen dabei, mich zu konzentrieren und meinen pochenden Puls zu beruhigen. Ich konnte es mir jetzt nicht erlauben, die Lage dadurch zu komplizieren, dass meine Haut leuchtete. Gestern konnte ich unentdeckt entkommen, aber ich erwartete nicht, dass ich immer so viel Glück hätte.
Ich ging in eine Gasse, die rechtwinklig in Baker’s Row einmündete. Im Gegensatz zu den meisten Gassen auf Joysen Hill war diese sauber gefegt und roch nach Erdbeeren. Das war eindeutig der richtige Ort.
Die Familie der Bean Tighe wohnte im zweiten Stock, in einer kleinen Wohnung, die man nur über die an der Backsteinmauer befestigte Feuerleiter erreichen konnte. Ich war mir ziemlich sicher, dass es gegen die Bauvorschriften verstieß, eine Feuerleiter als einzigen Eingang oder Ausgang zu haben, was bedeutete, dass dieses Gebäude wahrscheinlich Vampiren gehörte. Vampire besitzen viele Gebäude auf Joysen Hill, und ihre Wohnungen sind oft so kalt, staubig und zerfallen wie ihre Eigentümer.
Die Vampir-Vermieter waren nur darauf aus, ihre Mieter auszubluten. Dabei kümmerten sich diese Blutsauger nicht um die Bauvorschriften. Wenn Mieter aufgrund der unsicheren Bauweise zu Tode stürzten, kehrten die Vampire den Unfall schnell unter den Teppich – und verfütterten die Leichen an einen ihrer Ghule.
Wenn die Vampire dieses Gebäude kontrollierten, war es möglich, dass einer etwas in der Nacht der Entführungen gesehen hatte. Das war eine weitere Frage für den Rat der Vampire. Natürlich würde der Rat wohl keine nützlichen Zeugenberichte weiterleiten, falls ein Vampir hinter den Entführungen steckte. Vampire konnten sehr gut Strippen ziehen und Probleme verschwinden lassen. Ihre skrupellosen Machenschaften waren legendär. Ich musste vorsichtig vorgehen, wenn ich mit den Vampiren sprach, damit sie nicht beschlossen, mich verschwinden zu lassen.
Ich zitterte und rieb über die kleinen Ausbuchtungen, die meine Messer unter den Ärmeln meiner Jacke erzeugten. Ich war froh, dass Ceff bei mir war. Ceff folgte mir in die Gasse hinein, und ich ging an der Feuerleiter vorbei und suchte in den finstersten Winkeln nach Hinweisen. Man konnte die meisten Geheimnisse dieser Stadt entdecken, indem man in den dunklen Ecken von Joysen Hill herumstöberte.
Ich zog eine kleine Taschenlampe aus meiner Jacke und leuchtete damit den Boden und die Backsteinmauern an. Ich erreichte die am weitesten entfernte Ecke und beugte mich vor, um besser sehen zu können. Der Boden war in seinem seltsamen runden Muster geglättet. Ich ließ das Licht über die Spiralen scheinen, bis ich das fand, was ich gesucht hatte. Aus einer Spalte im Boden ragte eine glänzend grüne Schuppe hervor.
Ich zog eine durchsichtige Plastiktüte und eine Pinzette aus einer Jackentasche und zog die Schuppe heraus. Ich ging in die Hocke und hielt sie ans Licht hoch. Ich konnte nicht feststellen, ob sie von einem Fisch oder einer Schlange stammte, aber ich hatte ein ungutes Gefühl, dass sie keinem natürlichen Wesen gehörte.
„Hast du etwas gefunden?“, fragte Ceff.
Ich hielt die Schuppe niedriger und schirmte sie mit meinem Körper ab. Ich zwang mich zu einem Grinsen und lächelte Ceff über meine Schulter an.
„Noch nicht“, sagte ich. „Kannst du schon hochgehen und mit den Bean Tighe reden? Du kannst besser mit Leuten umgehen, und ich will die Gasse nochmals absuchen. Ich melde mich in einer Minute bei dir.“
Ceff hob eine Augenbraue an, aber er nickte. Ich hörte, wie er die Feuerleiter herunter zog und zum Fenster der Bean Tighe kletterte. Ich tat so, als ob ich meine Suche nach Hinweisen fortsetzte, während ich Ceffs Stimme über mir hörte. Nach eine kurzen Unterhaltung zwischen Ceff und zwei weiblichen Stimmen betrat er die Wohnung.
Als ich hörte, wie sich das Fenster hinter ihm schloss, legte ich die Pinzette und die Schuppe auf die Plastiktüte und atmete tief ein. Ich musste wissen, ob die Schuppe etwas mit den Entführungen zu tun hatte, aber ich musste das alleine tun. Wenn mein Verdacht sich bestätigte, würde ich Zeit brauchen, um mir zu überlegen, wie ich das Ceff sagen konnte. Und wenn ich mich geirrt hatte, musste ich ihn nicht mit Theorien belästigen, die nur alte Wunden aufreißen würden.
Ich zog einen billigen Mundschutz, den man bei Kampfsportarten verwendet, aus meiner Tasche und steckte ihn zwischen meine Zähne. Ich hatte das erst kürzlich gekauft und nur einige Male damit experimentiert, aber dadurch wurde es fast unmöglich, zu schreien. Ich sabberte zwar wie ein geifernder Barghest, aber ich wollte lieber mit Speichel bedeckt sein, als durch meine Schreie ungewünschte Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Wenn der Mundschutz einen abgebrochenen Zahn verhindert, wäre das ein weiterer Vorteil.
Ich warf einen letzten Blick auf die leere Feuerleiter und das geschlossene Fenster über mir. Ceff würde mindestens fünfzehn Minuten drinnen bleiben und die Bean-Tighe-Familie trösten und befragen, bevor er nach mir suchte. Hoffentlich würde ich bis dahin fertig sein.
Ich zog mir unbeholfen den Handschuh aus. Mit zitternden Fingern griff ich nach der Schuppe, die im Licht der Taschenlampe schillerte. Ein lautes, zischendes Geräusch ertönte in meinen Ohren und ich musste mich mit der behandschuhten Hand an der Backsteinmauer abstützen. Die Realität verschwamm und verschob sich, und neben dem Zischen nahm ich eine Kaskade wirbelnder Bilder dar. Ziegel, Mörtel, der Straßenbelag, die Feuerleiter und ein Fleck des mittäglichen Himmels schmolzen und vermischten sich wie eine Spiegelung in einer aufgewirbelten Pfütze, und nur die trüben Tiefen einer Vision blieben übrig.
Ich kämpfte gegen den Sturm von Emotionen an, der wie ein Gewitter durch die Vision wütete und versuchte, mein inneres Auge zu öffnen. Durch reine Willenskraft unterdrückte ich das Chaos aus zischenden und rasselnden Geräuschen und konzentrierte mich auf das, was ich sehen konnte. Die fremdartige Perspektive war verwirrend, aber das Spiegelbild in der Pfütze im Nebel war mir bekannt. Mein Verdacht hatte sich bestätigt.
Die Schlangenschuppe gehörte Melusine.
Ein Licht glitzerte in der Pfütze und Melusine schaute hoch und sah, wie eine Wolke von Wisps aus dem Fenster über ihr kam. Ihnen folgte ein kleines Bean-Tighe-Mädchen, das auf einem Besen ritt.
Das erklärte den schwierigen Aufstieg zur Wohnung im zweiten Stock. Wenn die Bean Tighe fliegen konnten, reichte die Feuerleiter aus. Das beantwortete auch meine andere Frage bezüglich dieser Feenwesen. Bean Tighe werden immer als alte Frauen mit rosa Bäckchen und faltigem Gesicht dargestellt. Jetzt erkannte ich den Grund dafür.
Offensichtlich sahen Bean Tighe schon bei der Geburt wie Miniaturversionen ihrer Eltern aus. Das Kind auf dem Besen war kleiner als erwachsene Bean Tighe, hatte aber die typischen Falten auf seinem engelhaften Gesicht. Ein Kopftuch verdeckte seinen Kopf, aber graue Haare spitzten darunter hervor und wehten im Wind. Das Kind lächelte und jagte hinter den Wisps her, die durch die Gasse flogen.
Melusine erlebte nacheinander Gefühle wie Freude, Zufriedenheit, Schmerz, Verlust, Eifersucht und Zorn, als sie durch den Schatten schlängelte. Die Frau war so labil wie ein Zwerg auf einem Surfbrett. Melusines Schlangenkörper rollte sich rhythmisch zusammen und wieder ab, so dass ihr Schwanz gegen die Wand schlug. Die Lamia schien darauf aus zu sein, dem Kind zu folgen, aber sie wartete.
„Bald, meine Sssssüße“, sagte sie.
Etwas Kaltes glitt über Melusines Schulter. Ich hielt den Atem an, als eine dicke Schlange sich um ihren Hals wickelte. Die schwarzen Schuppen waren im Schatten fast unsichtbar, aber der blasse Bauch und der gelbe Schwanz leuchteten im Mondlicht. Melusine hatte eine Wassermokassinschlange als Haustier, eine giftige Grubenotter.
Sie berührte die Schlange und streichelte zärtlich ihren Kopf. Melusine wollte das Kind jagen, aber während des Wartens schien es sie zu beruhigen, wenn sie ihre Schlange streichelte. Die Wisps verließen die Gasse vor dem Kind der Bean Tighe, und ich hörte Flötenmusik. Ich vergaß die Schlange.
Eine wunderschöne, beschwingte Melodie erklang aus dem Bereich jenseits der Gasse. Das Lied zog mich an und drohte, meine Seele tiefer in die Vision zu verstricken. Ich könnte dieser Melodie ewig folgen.
Ich konnte die Person nicht sehen, die Flöte spielte. aber ich wollte die Gasse hinunter laufen und in ihre Arme tanzen. Ich wusste, dass dies zweifellos die wunderbarste Person war, die ich je treffen würde. Ich würde für diesen Musiker von einer Klippe springen.
Ich schüttelte meinen geisterartigen Kopf. Einem Fremden in die Arme tanzen? Von einer Klippe springen? Das war verrücktes Gerede. Ich zwang mich, an der Stelle zu bleiben, wo Melusine im Dunkeln schlängelte, aber ich sehnte mich danach, dem Flötenspieler bis ans Ende der Erde zu folgen.
Anscheinend fühlte das Ungeziefer in der Gasse das auch.
Mäuse und Maulwürfe, sogar ein fliegendes Eichhörnchen eilten der Musik nach, aber ihre Anzahl war gar nichts im Vergleich zu der Menge der Ratten. Enorme Ratten mit langen Schwänzen und großen Zähnen strömten aus den Wänden, aus Löchern, aus Kanalabdeckungen und rannten in die Gasse. Der Boden war mit Wellen von räudigem, graubraunem Fell bedeckt.
Ich spürte den Drang, durch die Gasse zu tanzen und ihnen zu folgen. Wenn ich nicht vor kurzem meine Konzentrationsübungen gemacht hätte, wäre meine Seele ihnen vielleicht gefolgt und ich wäre ewig in dieser Vision geblieben. Es wäre leicht, nachzugeben und einfach loszulassen.
Stattdessen konzentrierte ich mich auf Melusine. Die Schlange um ihren Hals roch die Luft mit ihrer Zunge und wünschte wahrscheinlich, dass sie sich eine leckere Ratte für unterwegs schnappen könnte. Aber Melusine ignorierte ihre Schlange. Sie schlängelte sich in der schmalen Gasse von einer Seite zur anderen. Als die Flötenmusik nicht mehr hörbar war, eilte sie vorwärts, und die Vision wurde dunkel.
Die Schuppe war von Melusines Körper abgerissen worden und steckte in der Spalte am Boden, und die Vision war nun vorbei.
Ich blinzelte schnell, als ich allmählich wieder sehen und hören konnte. Die Welt um mich herum erschien als verschwommene Formen, und Geräusche klangen gedämpft, als ob ich Watte in den Ohren hätte. Ich atmete heftig ein und schüttelte den Kopf. Meine nackte Hand wurde sichtbar, und ich zuckte zusammen, so dass ich die Schlangenschuppe fallen ließ.
Ich zog meinen Handschuh an und seufzte. Es war schwer, mich von der Vision zu trennen, da mir die Flötenmusik immer noch durch den Kopf ging, aber es hätte schlimmer sein können. Mein Verdacht hatte sich bewahrheitet. Melusine war in die Entführungen verwickelt.
Ich musste schlucken, und mir lief es kalt den Rücken herunter. Diesmal hatte ich Glück gehabt. Wenn die Lamia die Schuppe nicht erst kürzlich verloren hätte, wäre ich vielleicht in mehr als einem Moment gefangen gewesen. Melusine war tausend Jahre alt, und sie war seit mindestens einigen Jahrhunderten wahnsinnig gewesen. Es war dumm von mir gewesen, etwas zu berühren, das dieser Frau gehört hatte. Aber wenigstens hatte ich nun einen Hinweis bezüglich der Entführungen.
Leider würde das Ceff schwer mitnehmen.
Da gestern niemand sonst Melusine auf der Market Street gesehen hatte, hatte ich insgeheim gehofft, dass sie nur ein Hirngespinst war. Aber dieser Geist aus Ceffs Vergangenheit war echt, und Melusine hatte offensichtlich etwas mit der Entführung der Feenkinder zu tun.
Ich hatte keine Ahnung, warum Melusine Kinder stahl, aber ich wusste, wen ich fragen konnte. Ich ließ meine Schultern hängen. Das was ich vorhatte, war allerdings keine normale Befragung. Sobald ich Fragen über Ceffs Ex-Frau stellte, gab es kein Zurück mehr.
Ich steckte die Schuppe schnell wieder in die Plastiktüte und schob diese in meine Tasche. Ich stand ruckartig auf und ging zur nächsten Kanalabdeckung. Ich musste mit Ceff sprechen, aber zuerst gab es eine weitere Spur, die ich verfolgen wollte.
Jemand hatte in jener Nacht Flöte gespielt, und ich hatte den nagenden Verdacht, dass das ein Feenwesen war. Feenmusik hat besondere Auswirkungen auf Menschen. Die meisten Menschen, selbst ein Halbblut wie ich, können von dem Drang überwältigt werden, zur Feenmusik zu tanzen. Der Zwang kann so stark werden, dass die Person dazu verflucht wird, zu tanzen, bis die Musik aufhört oder sie vorher aus Erschöpfung stirbt.
Aber ich hatte nie von einem Feenwesen gehört, dessen Musik andere Feenwesen betören konnte, geschweige denn eine ganze Horde von Ratten. Waren Feenwesen als Kinder der Feenmusik gegenüber verwundbar? Das musste ich herausfinden.
Ich trat gegen die Kanalabdeckung, aber sie war sicher befestigt. Ich ging in die Hocke und leuchtete mit der Taschenlampe durch die Metallstreben in die Dunkelheit darunter. Ich sah keine kleinen Augen, die mich anstarrten, oder Alligatoren in der Kanalisation, nur schmutziges, stehendes Wasser am Boden eines großen Abwasserrohrs, das zur Straße abzweigte.
Ich richtete den Strahl der Taschenlampe nach rechts und entdeckte etwas Interessantes. Die Seiten des Rohrs waren mit Hunderten kleiner, schmutziger Fußabdrücke bedeckt, wie von einer Horde von Ratten. Aber es musste schwer gewesen sein, da rauszuklettern. Ich sah sogar die Leichen mehreren Ratten unten im Wasser. Warum hatten die Ratten also die warme, feuchte Kanalisation zugunsten der kalten Straßen der Stadt aufgegeben?
Ich stand auf und ging wieder zu Baker’s Row hin, wobei ich den Boden genau beobachtete. Die Gasse hatte auf den ersten Blick sauber ausgesehen. Es gab keine Müllhaufen, keine nach Urin stinkenden Pappkartons oder herumwehenden Zeitungen, aber ich fand Rattenkot. Man konnte die kleinen, dunklen Kugeln leicht zu übersehen oder für etwas anderes halten. Wenn ich die Ratten nicht in meiner Vision gesehen hätte, hätte ich den Kot wahrscheinlich nicht für wichtig gehalten. Aber die Ratten waren in der Nacht der Entführung hier gewesen. Aber ich wusste einfach nicht warum. Waren sie nur durch die Musik des Flötenspielers in die Gasse gelockt worden?
Ich biss mir auf die Lippen und verzog das Gesicht. Wie passte all das zusammen? Ich wusste, dass die mit mir verwandten Wisps die Feenkinder aus ihren Betten gelockt hatten. Im Falle des Kindes der Bean Tighe hatte Melusine aus dem Schatten zugesehen, wie es nach draußen gelockt wurde. Sobald das Kind das Elternhaus verlassen hatte, spielte ein mysteriöser Flötenspieler Musik, die das Kind und jedes Nagetier in der Umgebung zu zwingen schien, ihm zu folgen.
Leider wusste ich nicht, ob Melusine oder der Flötenspieler an allen Entführungen beteiligt waren, oder ob ihre Anwesenheit in diesem Fall zufällig war. Ich brauchte mehr Informationen, aber die Zeit wurde knapp.
Ich hob den Kopf, blickte zum Fenster im zweiten Stock hoch und seufzte. Ich musste Kaye anrufen und Fragen über bekannte Feenmusiker stellen, aber zuerst musste ich mich mit einer verzweifelten Feenfamilie unterhalten.
Ich sprang hoch und erwischte die unterste Sprosse der Feuerleiter mit einer behandschuhten Hand, so dass ich die Leiter herunter ziehen konnte. Ich kletterte schnell hoch und konzentrierte mich auf den Schmerz in meinen Schultern und Waden. Wenn ich nicht an die Vision dachte, könnte ich vielleicht Ceff noch eine Weile vorenthalten, dass Melusine möglicherweise in den Fall verwickelt war.
Oben angekommen klopfte ich ans Fenster und wartete. Eine faltige Bean Tighe, die einen zerschlissenen roten Schal trug, der zu ihren rosa Backen und rot unterlaufenen Augen passte, kam zum Fenster und öffnete es. Sie lächelte schwach und winkte mich herein. Dann schlurfte sie in ihren Hausschuhen in die Küche zurück. Wenn sie ein Mensch gewesen wäre, hätte ich ihr Alter auf siebzig geschätzte, aber nachdem ich das faltige und grauhaarige Kind gesehen hatte, wusste ich, dass alle Bean Tighe so aussahen. Es war verwirrend, vor allem, da die meisten Feenwesen so langsam alterten.
Ich folgte dem Feenwesen in die Küche, wo Ceff an einem kleinen Tisch saß, Erdbeerkuchen aß und mit einer zweiten Bean Tighe sprach. Erdbeeren sind das Lieblingsessen der Bean Tighe, und diese Familie stellte keine Ausnahme dar. Auf dem Fensterbrett wuchsen Erdbeerpflanzen in Blumentöpfen. Weiße Schränke und Türstöcke waren mit Erdbeeren bemalt, und ein flauschiger gestrickter Teekannenwärmer in Rot und Grün bedeckte die Kanne auf dem Tisch.
„Wo sind nur meine Manieren geblieben?“, sagte die Bean Tighe, die mich hereingelassen hatte. Sie hatte sich hinsetzen wollen, sprang aber dann auf und brachte einen weiteren Stuhl an den Tisch. „Wie wäre es mit einer Tasse Tee?“
So ist das mit Feenwesen. Sie sind extrem höflich, wenn sie nicht gerade versuchen, einen den Kopf abzubeißen.
„Nein, danke“, sagte ich.
Ich setzte mich auf den angebotenen Stuhl, ließ aber meine Hände auf meinem Schoß. Ich wäre lieber stehen geblieben, aber die Bean Tighe waren so buckelig, dass ich fürchtete, dass sie sich weh tun würden, wenn sie zu mir hoch blicken mussten. Selbst so mussten sie ihre Köpfe unbequem neigen, um nicht auf den Tisch zu starren.
„Myrtha und Glynda haben mir von ihrer Tochter Flynis erzählt“, sagte Ceff.
Er hielt mir die Zeichnung eines lächelnden Bean-Tighe-Kinds hin. Alle Feenwesen achten darauf, nicht in ihrer wahren Form fotografiert zu werden, aber Gemälde und Zeichnungen sind erlaubt. Der Künstler hatte das Kind perfekt dargestellt. Das war eindeutig das Mädchen aus meiner Vision.
„Sie ist ... hübsch“, sagte ich. „Äh, hat Flynis Feenfreunde oder Lehrer, die Musiker sind? Oder gibt es vielleicht einen Nachbarn in diesem Gebäude, der einer wäre? Ich suche jemanden, der vielleicht in der Nacht, in der sie verschwand, etwas gesehen hat. Diese Person beherrscht ein Holzblasinstrument, vielleicht eine Flöte, Panflöte oder Blechflöte.“
Myrtha runzelte die Stirn, und Glynda schüttelte den Kopf.
„Nein, wenigstens soweit ich es weiß“, sagte Glynda. „Fällt dir jemand ein, Myrtha?“
„Nein, niemand“, sagte Myrtha.
Na ja, es war unwahrscheinlich gewesen.
„Ist letzte Nacht etwas Ungewöhnliches geschehen?“, fragte ich. „Irgendetwas?“
„Wir sind alle Details so oft durchgegangen, aber wir erinnern uns an nichts“, sagte Glynda. Die Teetasse in ihrer Hand klapperte gegen die Untertasse, da ihre Hand zitterte. Myrtha nahm ihre Hand und legte ihre eigene darüber. „Es war eine ganz normale Nacht. Wir hatten Erdbeermarmelade auf Toast und warme Milch, wie immer, und dann brachten wir Flynis ins Bett. Wir gingen zu unserem Zimmer, wo Myrtha las und ich strickte. Tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte mich an etwas Nützliches erinnern.“
„Schon gut“, sagte ich und stand auf. „Das war sehr hilfreich.“
Ceff stand auf und dankte den Bean Tighe für den Kuchen und den Tee. Als wir die Küche verließen, schaute ich über meine Schulter.
„Und noch etwas“, sagte ich. „Gibt es in diesem Stadtteil viel Ärger mit Ratten?“
Ceff hob eine Augenbraue an, fragte aber nicht, woher meine seltsamen Fragen kamen. Myrtha schüttelte den Kopf und Glynda brach in bellendes Gelächter aus.
„Ratten?“, fragte Glynda. „Wir halten unser Haus sauber, Frau Detektiv. Hier gibt es nichts für dieses Ungeziefer, oder in der Gasse unten. Es gibt in dieser Stadt viel bessere Orte, um Nahrung zu finden. Wenn Sie Ratten suchen, sollten Sie sich die Docks ansehen.“
Das stimmte. Die Bean Tighe verwendeten offensichtlich ihre Besen nicht nur zum Fliegen. Die Ratten waren aus der Kanalisation geklettert, aber warum? Ich fürchtete, dass ich das bald herausfinden würde.