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Wir kauerten neben einer Steinmauer, und das Tor von Ocean Overlook war eine Masse aus Schmiedeeisen, die aus den Wirbeln des Bodennebels herausragte. Während wir zu dem Friedhof gingen, war der Nebel vom Meer her gekommen und hatte sich bei unseren Füßen gesammelt. Ich richtete mich auf und spähte über die Steinmauer. Der eiserne Zaun war tief in den Stein gesetzt, und scharfe Spitzen ragten in den Himmel.
Wir konnten nicht über die Mauer klettern. Ceff schwitzte bereits enorm aufgrund der Nähe zu so viel Eisen. Nein, wir mussten durch das Tor kommen – falls wir es öffnen konnten, ohne gesehen zu werden.
Ich suchte das Friedhofsgelände nach einem Gärtner oder Wachmann ab. Der Nebel floss geisterhaft zwischen den Grabsteinen, aber ich sah keine Spur von Menschen. Keine verräterischen Strahlen von Taschenlampen erleuchteten die Nacht. Wenn es einen Wachmann gab, war er nicht in der Nähe.
„Alles klar“, sagte ich. „Ich bin gleich wieder da.“
„Warte“, sagte Jinx. Sie wühlte in ihrem Beutel herum und holte zwei kleine Kunststoffbehälter heraus, etwa so groß wie die für Kontaktlinsen. „Das hätte ich fast vergessen. Hier, nimm die.“
„Was ist das?“, fragte ich.
„Ohrenstöpsel“, sagte sie. „Ich verwende die in Clubs. Sie dürften die Musik der Flöte dämpfen.“
Ich lächelte und steckte die Ohrenstöpsel in eine Jackentasche. Jinx war genial. Ceff bewegte sich langsamer, um seine zu nehmen, und das erinnerte mich daran, dass wir es eilig hatten. Er konnte nicht mehr viel Eisen aushalten.
„Danke“, sagte ich. „Ich werde das Tor in einem Moment öffnen.“
Ceffs Haut war blass, aber er nickte und zog den Dreizack aus seinem Hosenbein. Er hatte den Griff eingeklappt und hielt ihn umgekehrt, so dass die Zacken der Waffe auf seinen Körper gerichtet waren und schräg an seinem Unterarm lagen. Jinx hatte einen Bolzen bereit, hielt aber ihre Armbrust zwischen ihrem Körper und der Straße. Auf den ersten Blick wirkten beide unbewaffnet.
Der Eingang des Friedhofs befand sich in einer Sackgasse, und wir hatten bisher keine Autos gesehen, aber es war besser, kein Risiko einzugehen. Niemand durfte unsere Waffen sehen. Es würde den Kindern nicht helfen, wenn wir die Nacht auf dem Polizeirevier verbrachten.
Ich schlich mich mit verkrampften Schultern vorwärts. Seit wir Sir Torn und den Club verlassen hatten, hatte ich das juckende Gefühl, dass uns jemand beobachtete. Als ich auf halbem Weg zum Tor war, wirbelte ich auf den Fußballen herum und suchte die Dunkelheit hinter mir ab, aber Jinx und Ceff waren die einzigen Personen in Sicht.
Ich atmete keuchend aus und wendete meine Aufmerksamkeit wieder dem Friedhof zu. Die Torflügel waren aus Schmiedeeisen, das ein kunstvolles Muster bildete. An der höchsten Stelle waren sie über zwei Meter hoch.
Ich zog eine Flasche mit Muskatellersalbei aus meiner Tasche, schraubte den Verschluss ab und tropfte etwas Öl auf die Scharniere der Torflügel. Ich konnte den scharfen Kräuterduft in der Luft riechen und ölte die anderen Scharniere. Muskatellersalbei war das einzige Öl, das ich momentan dabei hatte. Ich hoffte, dass dadurch das Metall nicht quietschen würde, wenn ich das Tor öffnete.
Das Tor selbst war durch eine dicke Edelstahlkette und ein großes Vorhängeschloss verschlossen. Ich rollte das Tuch mit meinen Werkzeugen zum Schlösserknacken aus und blickte nach links und rechts. Da ich niemanden kommen sah, nahm ich mir das Vorhängeschloss vor.
Es wäre schneller gegangen, die Kette durchzuschneiden, aber ich hatte leider keinen Bolzenschneider dabei. Außerdem wäre es schlimm genug, erwischt zu werden, ohne auch noch wegen Sachbeschädigung angeklagt zu werden.
Ich führte ein L-förmiges Spannwerkzeug unten in das Schlüsselloch ein. Ich drückte es gegen den Schließzylinder, erst im Uhrzeigersinn und dann in umgekehrter Richtung. Der Zylinder drehte sich um den Bruchteil eines Zentimeters gegen den Uhrzeigersinn. Dann setzte ich ein leichtes Drehmoment gegen den Uhrzeigersinn auf das Werkzeug an und hielt es mit meiner linken Hand.
Nun führte ich einen Haken in den oberen Teil des Schlüssellochs ein. Ich drückte mit dem Haken von hinten nach vorne kommend nach oben und spürte jeden der vier Stifte. Ich fing mit dem Stift an, der am meisten Widerstand leistete und drückte den Haken nach oben, um den Stift zu setzen. Ich wiederholte das Verfahren mit den anderen drei Stiften. Dann entfernte ich den Haken und drehte das Spannwerkzeug gegen den Uhrzeigersinn, wobei ich den Atem anhielt. Das Vorhängeschloss klickte auf.
Ich nahm die Kette vorsichtig von einem Torflügel ab und ließ sie in einer Schlaufe hängen. Wenn wir fertig waren, würde ich das Tor wieder abschließen. Ich atmete tief ein und drückte das geölte Tor halb auf. Ich benötigte genug Platz, so dass Ceff durchschlüpfen konnte, ohne das Eisen zu berühren. Nachdem ich mich nochmals umgesehen hatte, lief ich zum Gehsteig zurück und winkte meine Freunde herbei.
Dann klingelte mein Handy, und mein Herz hämmerte schneller. Ich beeilte mich, den Anruf anzunehmen und ärgerte mich, dass ich den Klingelton nicht abgestellt hatte.
„Ich habe den Totentanz erforscht“, sagte Pater Michael hektisch. Er klang außer Atem. „Ich glaube, ich weiß, wie man den Tanz beenden kann. Aber Ivy? Ich habe mit Kaye gesprochen, und sie glaubt, dass die Zahl der entführten Feenkinder von Bedeutung ist. Der Rattenfänger braucht vielleicht eine bestimmte Anzahl von Feenwesen, um den Zauber zu beginnen. Weißt du, wie viele Kinder schon entführt worden sind?“
„Einen Moment mal“, sagte ich. Ich trabte zu Jinx, die langsam auf das Friedhofstor zuging. Ceff stützte sich schwerfällig auf sie, da das Eisen in der Nähe ihn sehr schwächte. „Jinx, Pater Michael muss wissen, wie viele Kinder verschwunden sind.“
Jinx hob eine geschminkte Augenbraue, stellte aber keine Fragen. Sie schob Ceff auf die andere Seite und zog ihr Handy heraus. Während sie ihre Zunge gegen die Innenseite ihrer Wange drückte, rief sie die Dateien des Falls auf. Innerhalb von Sekunden hatte Jinx die gewünschten Informationen. Ich war froh, dass eine von uns Organisationstalent hatte.
„Dreiunddreißig“, sagte sie.
„Es wurden dreiunddreißig Kinder vermisst gemeldet“, sagte ich ins Handy.
Ich hörte, wie jemand am anderen Ende schnell Luft holte.
„Wenn der Rattenfänger bereits dreiunddreißig Kinder hat, bleibt euch nicht viel Zeit“, sagte Pater Michael. „Er hat alles, was er braucht, um den Zauber abzuschließen.“
„Bestimmt?“, fragte ich.
„Ja“, sagte er. „Nachdem Kaye mir ihre Theorie erläutert hatte, sah ich mir die mittelalterlichen Gemälde und Schnitzereien des Totentanzes genauer an. Diese Kunstwerke zeigen oft dreiunddreißig lebende Tänzer und dreiunddreißig auferstandene Tote.“
Zahlen enthalten Macht, wie auch Namen. Ich wusste von Kaye, dass die Ziffer drei oft beim Wirken von Zaubern verwendet wurde. Die Anzahl der entführten Kinder war also bedeutsam. Ich wünschte nur, dass ich dieses Detail früher bemerkt hätte.
„Keine Sorge“, sagte ich. „Torn hat uns geholfen, unsere Suche auf zwei Friedhöfe in Harborsmouth einzuschränken. Wir sind jetzt am Tor von Ocean Overlook. Wenn die Kinder nicht hier sind, gehen wir zu Far Point.“
„Nein, du verstehst das nicht“, sagte er mit schriller Stimme. „Dafür reicht die Zeit nicht mehr. Kaye glaubt, dass der Rattenfänger den Tanz um Mitternacht beginnt, sobald er die für den Zauber nötigen dreiunddreißig Kinder hat.“
Mitternacht? Ich sah nach, wie spät es war. Verdammt spät. Es war elf Uhr fünfundvierzig. Der Priester hatte recht – die Zeit wurde knapp.
Der Friedhof Far Point war zu weit weg, und beide Friedhöfe waren riesengroß. Wir konnten unmöglich einen so großen Bereich in fünfzehn Minuten absuchen, jetzt vierzehn, selbst wenn wir uns aufteilten.
Ich blickte Ceff an, dessen Haut im Mondlicht blass aussah. Er war unser schnellster Renner, vor allem wenn er in die Pferdegestalt wechselte, aber er würde nie allein durch das eiserne Tor von Far Point kommen.
Ich biss die Zähne zusammen und sah meinen Begleitern in die Augen. Wir mussten zusammen bleiben. Das stellte unsere beste Chance dar, Melusine und den Rattenfänger zu besiegen und die Kinder lebend heimzubringen. Ich hoffte nur, dass wir im richtigen Friedhof waren. Ich signalisierte Jinx und Ceff, durch das Tor zu gehen, während ich mit angespannter Stimme mein Gespräch mit dem Priester fortsetzte.
„Was kannst du mir sonst noch sagen?“, fragte ich.
„Falls ihr die Kinder findet ...“, sagte Pater Michael.
„Wenn“, korrigierte ich ihn. Ich schob das Tor hinter meinen Freunden zu. Das würde vielleicht jemanden täuschen, der zufällig vorbei kam, aber nicht jemanden vom Sicherheitspersonal. Ich hoffte nur, dass keine Wachleute unterwegs waren. „Wenn wir die Kinder finden.“
„Falls der Totentanz bereits angefangen hat, musst du den Zauber irgendwie unterbrechen“, sagte er. „Ich habe einen heiligen Vers gefunden, der vielleicht die Macht der Dämonenflöte neutralisieren und den Tanz anhalten kann. Sage folgende Worte: Sancte Michael Archangele, defende nos in proelio, contra nequitiam et insidias diaboli esto praesidium. Imperet illi Deus, supplices deprecamur, tuque, Princeps militiae coelestis, satanam aliosque spiritus malignos, qui ad perditionem animarum pervagantur in mundo, divina virtute, in infernum detrude. Amen.“
„Nichts für ungut, Vater“, sagte ich. „Aber mein Latein ist nicht besonders gut. Wäre es möglich, das als SMS zu schicken?“
„Ja, natürlich“, sagte er.
„Danke, und umarme Galliel für mich“, sagte ich. „Ich werde euch beide besuchen, wenn das alles vorbei ist.“
„Ivy, der Kirchen-Grimm ist immer noch da“, sagte er flüsternd.
„Keine Sorge“, sagte ich. „Omen treten nicht unbedingt ein. Wir können immer noch unser Schicksal ändern. Ich werde diese Kinder sicher nach Hause bringen.“
„Ich werde für euch beten“, sagte er.
„Danke, Pater“, sagte ich.
Ich beendete den Anruf und beeilte mich, Jinx und Ceff zu erreichen. Ich wünschte nur, dass ich das glaubte, was ich dem Priester gesagt hatte. Ich hoffte, dass wir das Schicksal ändern können, wenn wir uns nur genug anstrengen, aber mit Todesomen ist das so eine Sache. Wir konnten die Gebete des Priesters brauchen, wenn wir die nächsten fünfzehn Minuten unversehrt überstehen wollten.