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Ich erwachte am nächsten Morgen und war bereit, Nachforschungen nach dem Aufenthaltsort meines Vaters anzustellen. Torn kümmerte sich zwar darum, aber das bedeutete nicht, dass ich nicht meine eigene Untersuchung beginnen konnte.
Ich schlüpfte unter den Bettlaken hervor und achtete darauf Ceff nicht zu stören, der neben mir schlief. Sein Arm lag über seinem Kopf und sein Gesicht wirkte entspannt. Der arme Kerl war erschöpft. Ich sollte ihn schlafen lassen.
Ceff war wie versprochen bei Sonnenuntergang zurückgekehrt. Seine Augen waren rot unterlaufen und geschwollen, aber als ich fragte, wie es ihm ging, lächelte er. Er hatte sich von Melusine verabschiedet und war jetzt bereit, neu anzufangen, mit mir.
Ich deckte Ceff zu und wendete mich vom Bett ab. Dann packte ich meine Ausrüstung und eine Handvoll Kleider und ging auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer. Ich duschte mich und zog mich schnell an, da ich meine heutigen Erledigungen bald abschließen wollte.
Ich zog meine Jeans und eine warmes Langarmshirt mit angenähten Daumenschlaufen an, die dafür sorgten, dass meine Ärmel sicher in meinen Handschuhen steckten. Nachdem es Melusines Schlange gelungen war, mein nacktes Handgelenk zu erreichen, beschloss ich, mehr Shirts mit Daumenschlaufen zu bestellen, um mich gegen unerwünschte Visionen abzusichern. Dann zog ich einen schwarzen Kapuzenpulli, die Lederjacke und meine Handschuhe an. Ich schwitzte sofort, aber ich betrachtete den zusätzlichen Schutz als wichtiger als mein Unbehagen.
Anschließend zog ich meine Stiefel an, schnallte beide Wurfmesser fest und steckte einen Dolch in meinen Stiefel. Ich band mein Haar nach hinten und steckte einen polierten Holzpflock in den unordentlichen Haarknoten.
Ich sah wild aus. Ich war nicht gerade für ein Wiedersehen mit meiner Mutter gekleidet, aber die Waffen und die schützende Kleidung beruhigten mich. Momentan war es wichtiger, ruhig zu bleiben, als meine Mutter zu beeindrucken. Wenn ich auf dem Weg zu ihrem Haus zu leuchten begann, riskierte ich, hingerichtet zu werden.
Ich zog die Kapuze über meinen Kopf und verließ die Wohnung. Ich hatte nicht viele Optionen, in die Vororte zu kommen. Ich fahre nicht, und Taxis machten mich nervös, also musste ich entweder den Bus nehmen oder laufen. Da ich einen frischen Lamienbiss in meiner Seite hatte, nahm ich den Bus.
Ich nahm den Stadtbus Nummer 7 an einer Haltestelle in Congress Street. Zu dieser frühen Morgenstunde war der nach außen fahrende Bus fast leer. Pendler strömten auf der Weg zur Arbeit in die Stadt. Niemand außer mir und dem Fahrer war in die Vorstadt unterwegs.
Ich kauerte mich in einen vorderen Sitz und sah, wie die Stadt hinter mir verschwand. Ziegel, Stein und Beton wurden durch Bäume und Gartenzäune abgelöst. Am Stadtrand stieg ich aus und lief etwa eine Meile zu dem Haus, in dem ich aufgewachsen war.
Ich blieb in der Straße vor dem vertrauten grauweißen Haus mit Holzornamenten stehen. Ich steckte meine Hände in meine Jackentaschen und suchte das Grundstück nach Anzeichen des wunderbaren Orts ab, den ich in meinen freigeschalteten Erinnerungen gesehen hatte.
Hier hatte alles angefangen. Meine Eltern, meine wahre Mutter und mein Vater, waren hier einst glücklich gewesen. Aber mein echter Vater hatte einen Teufelspakt abgeschlossen, der schiefgelaufen war. Da mein Vater dazu verflucht war, eine teuflische Laterne zu tragen, hatte er einen Zauber auf mich und meine Mutter gewirkt, um unsere Sicherheit zu garantieren.
Ich hoffte nur, dass sie sich noch an ihn erinnerte.
Der auf mich gewirkte Zauber hatte meine Erinnerungen verborgen, so dass mir die Existenz meines Vaters nicht bewusst war. Aber der Zauber löste sich langsam auf, und meine Vergangenheit wurde sichtbar. Kaye vermutete, dass dies darauf zurückzuführen war, dass Erinnerungszauber bei Kindern besser wirken. Als ich erwachsen wurde, löste sich der Zauber langsam auf, und die Erinnerungen erschienen.
Kaye nahm an, dass ein auf meine Mutter gewirkter Erinnerungszauber nur kurzzeitig Einfluss gehabt hätte. Meine Hexenfreundin sagte, dass meiner Mutter wahrscheinlich ein Geis-Zauber auferlegt wurde, der sie daran hinderte, je über meinen Vater zu sprechen. Wenn das stimmte, musste ich sehr kreativ werden, um Antworten auf meine Fragen zu erhalten.
Ich biss die Zähne zusammen und ging mit gleichmäßigen Schritten auf das Haus zu. Meine Stiefel knirschten auf dem Kiesweg. Das Auto meines Stiefvaters war nicht hier, aber das meiner Mutter war neben dem Werkzeugschuppen geparkt. Als ich den Schuppen und die Mülleimer daneben sah, bekam ich eine Gänsehaut. Das war der Ort, wo ich meine erste Vision erlebt hatte. Es war nicht gerade schön gewesen, die Büchse der Pandora zu öffnen, die meine paranormale Fähigkeit enthielt. Dieser Moment, in dem meine paranormale Begabung ihre hässliche Fratze zeigte, war wie ein Erdbeben, das meine Welt zerstörte. Selbst jetzt, lange nachdem sich der Staub gelegt hat, erlebe ich immer noch Nachbeben jenes Tages.
Ich musste schwer schlucken und machte einen weiten Bogen um den Schuppen. Ich durfte nicht vor den Nachbarn zu leuchten anfangen. Ich kletterte die Stufen vor dem Haus auf die hölzerne Veranda hinauf. Dann atmete ich tief ein, um mich zu beruhigen und drückte die Türklingel mit einem behandschuhten Finger. Ich hatte immer noch einen Schlüssel für die Haustür, aber ich hielt es nicht für richtig, einfach ins Haus zu gehen. Es war schon lange nicht mehr mein Heim gewesen.
Ich hörte Schritte, und dann öffnete meine Mutter die Tür und blinzelte in der Morgensonne.
„Ivy?“, fragte sie.
„Hallo, Mama“, sagte ich. „Äh, darf ich reinkommen?“
„Selbstverständlich, komm doch rein“, sagte sie. „Ich habe gerade eine zweite Kanne Kaffee gemacht.“
Meine Mutter trank dicken, schwarzen Kaffee, als ob das Zeug Ambrosia wäre. Das war eigentlich das Einzige, dass wir nach all den Jahren noch gemeinsam hatten. Ich folgte ihr durch den Korridor zur Küche an der Rückseite des Hauses.
Meine Mutter sah magerer aus, als ich sie in Erinnerung hatte, und ich nahm mir vor, sie zum Abendessen einzuladen. Ich hatte selten Gäste und hatte vor Ceff nie jemanden ins Loft eingeladen, aber für meine Mutter würde ich eine Ausnahme machen. Als ich merkte, wie ihr Schlüsselbein scharf hervorstand und ich ihre knochigen Schultern durch ihre Strickjacke sah, wurde mir der Hals eng.
Ich war meiner Mutter gegenüber nicht fair gewesen. Sie war nicht in der Lage gewesen, mir die Wahrheit über meinen Vater zu sagen, und deshalb hatte ich mir meine eigene Meinung gebildet. Mein Urteil über diese Frau basierte auf den Jahren, in denen ich ihre traurigen Augen und missmutigen Lippen sah, ohne sie je zu fragen, warum sie so unglücklich war. Ich hatte angenommen, dass ich der Grund war. Ich mochte meine Mutter nicht, weil ich glaubte, dass sie die Person hasste, die ich durch meine Begabung geworden war. Ich nahm an, dass sie darüber verbittert war, so eine bizarre Tochter zu haben.
Ich hatte nicht erkannt, dass eine Frau den Verlust ihrer ersten Liebe betrauerte. Durch diese Fehleinschätzung hatte ich meine Mutter von mir gestoßen und ihr die einzige Verbindung geraubt, die sie noch zu meinem Vater hatte. Ich war so stur und hitzköpfig gewesen. Ich hoffte, dass es nicht zu spät war, um unsere Beziehung zu bereinigen. Aufgrund meiner eigenen Unwissenheit hatte meine Mutter nicht nur einen Liebhaber, sondern auch eine Tochter verloren.
Sie holte zwei Tassen aus dem Küchenschrank und nahm die Kaffeekanne vom Brenner. Ich musste schwer schlucken und räusperte mich.
„Ist Stan bei der Arbeit?“, fragte ich.
„Ja“, sagte sie und runzelte die Stirn. „Warum fragst du?“
„Ich muss mit dir über eine wichtige Angelegenheit reden ... es geht um meinen wahren Vater“, sagte ich.
Die Zähne meiner Mutter klapperten, und sie machte den Mund zu. Sie fingerte an der Kaffeekanne herum und verschüttete Kaffee auf die Küchentheke. Sie machte große Augen und wischte den Kaffee auf. Sie drehte sich zu mir hin, atmete mühsam und drehte das Küchenhandtuch zwischen ihren Händen.
„Schon gut, Mama“, sagte ich. „Ich weiß, wer er ist, was er ist ... was ich bin. Und ich weiß, dass er auf uns beide einen Zauber gewirkt hat. Weißt du, wovon ich rede?“
Ja. Sie nickte. Sie war blass geworden und zitterte so sehr, dass ich fürchtete, sie könnte in Ohnmacht fallen. Ich zog einen Stuhl heraus und deutete mit einer behandschuhten Hand darauf.
„Komm, setz dich“, sagte ich. „Ich kümmere mich um den Kaffee.“
Ich füllte die Tassen auf und trug sie zu dem alten Küchentisch. Meine Mutter nahm eine Tasse und hielt sie zwischen Fingern, deren Knöchel weiß hervortraten.
„Meine Freundin Kaye, die eine Hexe ist, glaubt, dass Papa einen Geis-Zauber gewirkt hat, der dich daran hindert, über ihn zu reden“, sagte ich. „Stimmt das?“
Ja. Meine Mutter nickte. Okay, wenn ich nur Fragen stellte, die man mit Ja oder Nein beantworten konnte, würde ich vielleicht etwas über meinen Vater erfahren. Ich grinste.
„Du machst das gut, Mama“, sagte ich. „Ich werde dir einige Fragen stellen. Versuche, den Kopf zu schütteln oder zu nicken. Ist Will-o’-the-Wisp, der König der Wisps, mein wahrer Vater?“
Ja.
„Hat er uns verlassen, damit wir in Sicherheit sind?“, fragte ich.
Ja. Tränen liefen über die Wangen meiner Mutter.
„Weißt du, wohin er gegangen ist?“, fragte ich.
Nein. Sie schüttelte den Kopf und stöhnte frustriert.
„Okay, lassen wir die Frage“, sagte ich. „Ging Papa, um eine Methode zu finden, den Fluch zu brechen?“
Ja.
„Hat er Freunde, an die er sich wenden könnte?“, fragte ich.
Meine Mutter verzog das Gesicht und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Torn hatte gemeint, dass mein Vater keine Freunde in der Feengemeinschaft hatte, die mächtig genug waren, um ihm helfen zu können. Aber ich fragte mich, ob Torn die ganze Geschichte kannte. Er mochte meinen Vater, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie eng befreundet gewesen waren. Wenn ich die Verbündeten meines Vaters fand, konnte ich vielleicht seine Spur verfolgen.
Ich zog einen Block und einen Kuli aus meiner Jackentasche und schob sie über den Tisch zu meiner Mutter hin. Vielleicht würde der Geis-Zauber sie nicht daran hindern, die Antworten auf meine Fragen aufzuschreiben. Es war einen Versuch wert.
„Schreibe alle Namen auf, die Papa erwähnt hat, soweit du dich erinnern kannst“, sagte ich.
Meine Mutter nahm den Kuli und schrieb etwas. Inari.
Ein schreckliches Knackgeräusch war in der Küche hörbar. Ich suchte nach der Ursache und musste schlucken, als ich die furchtbar verformte Hand meiner Mutter sah, die sich um den Kuli verkrampfte. Sie schrie, und ich nahm ihr den Kuli und den Block weg. Meine Mutter hielt vorsichtig ihre rechte Hand hoch und biss sich auf die Lippe, um den Schmerz zu unterdrücken. Einer ihrer Finger war schrecklich entstellt. Der Geis-Zauber hatte den Knochen gebrochen.
Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Mir wurde plötzlich klar, dass ich es mit etwas zu tun hatte, dass ich nicht völlig verstand. Was wäre, wenn meine Mutter das nächste Mal nicken oder den Kopf schütteln wollte und der Zauber beschloss, ihr das Genick zu brechen? Wie weit würde der Geis-Zauber gehen, um meine Mutter zum Schweigen zu bringen? Ich wollte das lieber nicht herausfinden.
„Mama, das tut mir so leid“, sagte ich. „Ich hatte keine Ahnung, dass der Zauber das tun würde. Ich schwöre, dass ich dir ab jetzt keine Fragen mehr stellen werde. Ich hole Eis, und dann bringen wir dich zu einem Arzt.“
Ich rannte zum Kühlschrank und nahm eine Eiswürfelschale aus dem Gefrierfach. Ich verdreht die Schale und ließ die Würfel auf ein sauberes Handtuch fallen. Dann trug ich die provisorische Eispackung zum Tisch und legte sie neben die Hand meiner Mutter.
„Danke“, sagte sie.
„Soll ich Stan anrufen, damit er dich ins Krankenhaus fährt?“, fragte ich.
Ich selbst fahre nicht, aber ich würde bei meiner Mutter bleiben, bis mein Stiefvater oder ein Nachbar sie abholen konnte.
„Nein, ich schaffe das schon“, sagte sie. „Gib mir einen Moment. Ich kann selber fahren.“
„Tut mir leid wegen der Fragen“, sagte ich.
„Schon gut“, sagte sie. „Es sollte mir leid tun. Ich wollte dir so viel erzählen.“
„Aber du konntest das nicht“, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf und seufzte.
„Nein, aber da du jetzt die Wahrheit weißt, will ich, dass du etwas bekommst“, sagte sie.
Meine Mutter stand auf, mit der Eispackung um ihre Hand, und ging zum Schlafzimmer. Sie kehrte mit einem kleinen Schmuckkästchen zurück.
„Es ist nicht viel, aber das ist alles, was ich noch von ihm habe, deinem Va ...“, sagte sie. Deinem Vater. Sie hustete und räusperte sich. „Passe gut darauf auf, und wenn du ihn findest, sage ihm, dass ich ihn immer noch liebe.“
Sie holte eine Plastiktüte aus einer Schublade und steckte das Kästchen hinein. Meine Mutter wusste, dass ich ungern alte Gegenstände trug und wollte es mir dadurch leichter machen. Sie gab mir das Kästchen, und ich konnte wegen meiner Tränen kaum sehen. Ich lächelte und nickte.
Ich war hierher gekommen, um einen Hinweis auf den Aufenthaltsort meines Vaters zu finden, und ich ging nicht mit leeren Händen. Meine Mutter hatte gelitten, weil sie mir diese Informationen geben wollte, aber jetzt hatte ich wenigstens einen Namen – Inari. Außerdem besaß ich das Kästchen und was auch immer darin war.
„Ich werde Papa zurückbringen“, sagte ich. „Das verspreche ich.“
Meine Mutter lächelte durch ihre Tränen und holte ihren Mantel und ihre Handtasche. Als sie zurückkehrte, bot sie an, mich in die Stadt zu fahren. Da sich das beste Krankenhaus des Gebiets, Harborsmouth General, in der Innenstadt befand, stimmte ich zu. Wir schwiegen während der Fahrt, in unsere eigenen Gedanken vertieft.
Ich hatte das Schmuckkästchen auf meinem Schoß und wollte in die Stadt zurückkehren und die Suche nach meinem Vater fortsetzen. Ich hatte geplant, Kaye zu besuchen, um mich zu bedanken, dass sie mich nach dem Kampf im Friedhof geheilt hatte. Jetzt hatte ich einen weiteren Grund dafür, meine freundliche Nachbarschaftshexe aufzusuchen. Wenn jemand Informationen über Inari besitzen könnte, wäre das Kaye. Ich blickte aus dem Fenster und grinste.
Zum ersten Mal, seit ich von der Existenz meines Vaters erfahren hatte, besaß ich einen konkreten Hinweis.