»Junger Mann,
was kann ich für Sie tun?«
Der alte Mann hinter der Theke des Skorpion Bay Cafés lächelt ihn an, obwohl er ihn nicht kennt. Sollte er nicht wenigstens erst abwarten, ob er vielleicht eine Kanone aus der Tasche zieht, um damit die Kasse des alten Mannes zu leeren? Immerhin würde es gerade keine Zeugen geben. Rick sieht sich nach allen Seiten um, als hätte er wirklich die Absicht, das Café auszurauben, und kontrolliert auch die Decke. Doch, die Überwachungskamera wäre Zeuge. Ein Grund, sich sicher zu fühlen, sollte das trotzdem nicht sein.
»Ich ... ich hätte gern einen Kaffee. Nein, einen Cappuccino«, sagt er.
»Dunkle oder helle Röstung?«
Was weiß denn er? Aber dunkel klingt gut. Rick nickt, dann fällt ihm ein, dass der Mann keine Gedanken lesen kann. »Dunkel, bitte.«
Er muss sich zusammenreißen. Wenn er die Leute seine Aufregung spüren lässt, werden sie sich an ihn erinnern. Das will er nicht. Er ist ein Fremder, dessen Gesicht niemand im Gedächtnis bleiben wird. Er hat extra in einem billigen Motel eingecheckt, das keinen Ausweis von ihm sehen wollte.
»Sonst noch etwas? Die Muffins sind ganz frisch.«
Upselling, analysiert Rick. Der Mann versucht, seinen Umsatz zu vergrößern, indem er ihm etwas verkauft, was zu dem recht billigen Kaffee passt. Wahrscheinlich läuft der Laden nicht gut. Der alte Mann wirkt, als stände er schon seit fünfzig Jahren hinter der Theke und sei auch dort geboren worden. Seine Haut ist bleich; das scheint zwar ungewöhnlich für einen Bewohner der sonnigen zentralkalifornischen Küste, aber der Laden hat jeden Tag geöffnet und Angestellte kann sich der Besitzer wohl nicht leisten. Vielleicht sollte er die Ladenfront freundlicher streichen? Das Dunkelbraun hat auf ihn nur deshalb einladend gewirkt, weil er ein düsteres Vorhaben hat.
Er macht sich mal wieder viel zu viele Gedanken. Rick ist nicht hier, um die Probleme anderer Leute zu lösen. Es geht um seine eigenen Schwierigkeiten, um den Platz, der ihm zusteht und den sich Robert, der alte Schleimer, gerade unter den Nagel zu reißen droht.
»Und?«, fragt der alte Mann. Er macht sich wohl immer noch Hoffnung auf etwas mehr Umsatz.
»Nein«, antwortet Rick und ärgert sich. Das war zu unfreundlich. Der Mann wird sich sein Gesicht merken. Er muss wirklich aufpassen, auch wenn es höchstwahrscheinlich völlig irrelevant ist, ob der alte Mann sich an ihn erinnert. Niemand wird ihn fragen. Er hat schließlich nicht vor, jemanden umzubringen. Ricks linke Hand umfasst das Rasiermesser in seiner Hosentasche.
»Drei neunundachtzig«, sagt der Mann mürrisch. Rick kann es ihm nicht verdenken. Er hätte an einen Kunden wie ihn auch kein Lächeln verschwendet.
»Stimmt so«, sagt Rick. Er gibt dem Mann eine Fünf-Dollar-Note, nimmt den Kaffee von der Theke und verlässt den Laden. Vor dem Schaufenster stehen zwei kleine, runde Tische mit je zwei schmiedeeisernen Stühlen. Alle Plätze sind frei. Rick setzt sich mit dem Rücken zum Schaufenster und betrachtet die langsam vorbeirollenden Wagen. Irgendwo weiter vorn muss eine Geschwindigkeitsbegrenzung sein, sonst würden die Autos nicht mit zehn Meilen pro Stunde an ihm vorbeischleichen. Am lautesten ist das Abrollgeräusch ihrer riesigen Räder. Die Elektromotoren sind fast gar nicht zu hören. Rick sieht auf seine Armbanduhr. Sie ist absolut kitschig mit ihren Zeigern in Schmiedeoptik, und sie geht mal vor und mal nach, aber er mag sie trotzdem. Die Uhr zeigt zwanzig Minuten nach sechs. Das heißt, er hat auf jeden Fall noch eine halbe Stunde Zeit.
Robert wohnt gleich um die Ecke. Wenn er ihn hier sehen würde mit seinem Kaffee, würde er sich bestimmt wundern. Aber er wird ihn nicht sehen, denn Rick hat seine Gewohnheiten erkundet. Robert schläft bis sieben, dann joggt er zwanzig Minuten, duscht, trinkt einen schwarzen Kaffee und fährt zur Arbeit. Und das jeden Tag! Die Konsequenz lässt ihn in Ricks Achtung steigen. Aber das ändert nichts daran, dass er ein Konkurrent ist – der einzige echte Mitbewerber.
Der Cappuccino ist gut. Eigentlich schade, dass der alte Mann nicht mehr Gäste hat. Man sollte herumerzählen, dass es hier guten und nicht so teuren Kaffee gibt. Aber er wird niemandem davon berichten, denn niemand, der ihn kennt, darf wissen, wo er heute Kaffee getrunken hat. Er fasst noch einmal unauffällig in seine Hosentasche. Das Rasiermesser ist noch da, der Draht ist noch da und auch die Tüte mit ihrer weichen Füllung fehlt nicht.
Von links kommt ein Polizeifahrzeug. Rick bekommt einen Schreck. Er muss sich beruhigen. Die Beamten können nicht wissen, warum er hier ist. Es gibt keinen Grund, ihn zu durchsuchen, auch wenn das für ihn unangenehm enden würde. Wie erwartet fährt der Wagen mit dem Blaulicht auf dem Dach ebenso langsam vorbei wie alle anderen Autos.
Es ist Zeit. Rick steht auf. Den halbvollen Kaffeebecher lässt er stehen. Halb voll oder halb leer, denkt er noch. Er ist ein Halb-voll-Typ. Er läuft einen Block in Richtung Süden und biegt dann nach links ab. Nach einem weiteren Block erreicht er einen Appartment-Komplex. Es handelt sich um zweistöckige Wohnungen, die über einer offenen Tiefgarage erbaut wurden. Die Garage ist von vorn einsehbar, das ist das Risiko, das er eingehen muss. Rick schlendert den Eingang der Tiefgarage nach unten. Roberts Wagen steht in der hinteren Reihe. So ist er zumindest teilweise durch die Autos in der Vorderreihe vor Blicken geschützt. Was jetzt kommt, hat Rick lange geübt. Er hat sogar den gleichen Fahrzeugtyp angemietet, nur um sicher zu gehen, dass sein Plan funktioniert. Er stellt sich neben die Beifahrertür und schiebt den schlingenförmigen Draht zwischen Scheibe und Verkleidung nach unten.
Ein Ruck, und in der Tür klackt etwas. Nun kann er sie öffnen. Rick triumphiert innerlich, lässt sich aber nichts anmerken. Auf dem Beifahrersitz liegt eine kleine Stoffpuppe, die er zur Seite schiebt. Er setzt sich auf den Sitz und zieht die Tür zu. Dann schneidet er mit dem Rasiermesser die Innenverkleidung an ihrem seitlichen, vorderen Ansatz ein, immer darauf bedacht, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Im Stoff klafft nun eine Lücke, die man jedoch nur aus dem Fußraum des Beifahrers sieht. Ob Roberts Frau Hühneraugen hat? Wenn ja, wären das in diesem Fall die einzigen Zeugen. Rick nimmt ein Taschentuch in die Hand und zieht damit die flache, weiche Tüte aus der Hosentasche. Sie war das teuerste Utensil seines Planes gewesen und zugleich der Faktor, der am längsten auf der Kippe gestanden hatte. Wo bekommt man als unbescholtener Bürger eine größere Menge Heroin her? Und es hatte Heroin sein müssen, um sicher zu gehen, denn in Kalifornien galten harmlosere Drogen als, nun ja, harmlos. Rick seufzt. Was er jetzt vorhat, tut er nicht gern. Er möchte anderen kein Leid zufügen. Aber es ist notwendig. Rick schiebt die Tüte vorsichtig in die Öffnung, die niemand außer ihm kennt.
Das ist doch gut gelaufen. Rick dreht sich um, aber in der Tiefgarage ist niemand zu sehen. Also steigt er aus und schließt leise die Tür hinter sich. Plötzlich hört er ein Pfeifen. Er kennt dieses Geräusch. Es ist Robert. Schnell versteckt sich Rick hinter einem anderen Wagen. Sein Herz schlägt laut. Müsste Robert das nicht hören? Was ist mit dieser Ahnung, die die Opfer in Filmen befällt, wenn ein Verbrecher hinter ihnen lauert? Rick hat immer gedacht, dass das Quatsch ist. Man kann andere Menschen nicht an ihrer Aura spüren. Robert jedenfalls kann es ganz gewiss nicht. An seinem Pfeifen hört er, wie er sich unbekümmert seinem Auto nähert, eine Tür öffnet, »Mensch, Mary« sagt und die Tür wieder schließt, um dann ebenso unbekümmert die Garage wieder zu verlassen. Vermutlich hat er etwas ins Auto gelegt oder aus dem Auto geholt und nun seine Frau im Verdacht, dass diese die Beifahrertür nicht richtig geschlossen hat.
Rick wartet fünf Minuten, dann schlendert er davon. Sein Auto steht zwei Querstraßen weiter. Er erreicht es und setzt sich hinein. Dann nimmt er das extra neu erworbene Telefon aus dem Handschuhfach und ruft damit die 911.
»In dem Wagen mit dem Kennzeichen ... werden Sie in 35, Pierce-Street in Pismo Beach eine größere Menge Heroin finden«, sagt er, dann legt er auf. Er fährt los, um dann gleich wieder an einem Mülleimer zu halten. Er hatte überlegt, das Handy einem Obdachlosen zu schenken, aber der würde sich sein Gesicht bestimmt merken, also wirft er es nun einfach in den Müll. Dann fällt ihm panisch ein, dass er vergessen hat zu prüfen, ob ihn jemand beim Entsorgen des Handys gesehen hat. Er hält an und sieht sich um. Die obdachlose, dicke Frau da hinten, die mit dem voll beladenen Einkaufswagen, hat die etwas bemerkt? Sie macht sich anscheinend auf den Weg zum Mülleimer. Er muss sie umbringen, sie ist eine Zeugin. Der Gedanke huscht kurz durch seinen Kopf, aber er verwirft ihn. Die Frau hat ihn nicht aus der Nähe gesehen. Vermutlich ist sie sowieso nicht nüchtern und gibt gar keine gute Zeugin ab. Er tritt aufs Gas und fährt in Richtung Lompoc, wo sich seine Forschungsgruppe heute zur Besprechung trifft. Wenn alles gut geht, wird Robert diesmal und in den kommenden Wochen nicht dabei sein. Und danach ist es dann zu spät – dann ist er schon auf Roberts Ticket unterwegs zum Mars.