Ewa schält
sich aus dem Zelt. Das ist gar nicht so einfach, denn sie hat die darin enthaltene Atemluft schon abgesaugt, und sie trägt den klobigen Raumanzug der MfA. Diese Nacht in Unterwäsche war ein Luxus, den sie sich nicht so bald wieder leisten darf. Sie hat dabei viel zu viel Sauerstoff verbraucht – die Ressource, die ihr wohl als erste ausgehen wird. Es ist völlig klar, dass sie auf dem Mars sterben wird. Ihre Atemluft reicht vielleicht noch eine Woche. Wasser hat sie noch für die doppelte Zeit, wenn sie weiter so gut recycelt, und mit Nahrung braucht sie überhaupt nicht zu sparen. Aber es gibt keinen Zweifel, in spätestens zehn Sol ist sie tot.
Trotzdem wird sie sich nicht einfach hinsetzen und sterben. Sie hat ein, zwei Mal daran gedacht. Sie bräuchte ja nur den Sauerstoff abzudrehen. In kürzester Zeit würde sie ersticken. Das ist kein schöner Tod, aber ein schneller. Sie würde sich viele Schmerzen ersparen. Es geht ja schon los. An den Arm- und Beingelenken ist ihre Haut vom Raumanzug aufgescheuert. Sie hat die Stellen im Zelt eingecremt, aber heute Nacht wird sie im Anzug schlafen müssen. Aber Ewa kann nicht anders, sie muss kämpfen, auch wenn der Kampf längst entschieden ist.
Sie wirft einen Blick gen Himmel. Heute ist die Sicht besser. Sie erkennt sogar Phobos, den Marsmond. Ewa kontrolliert die Tabellen in ihrem Universalgerät. Mit der Sonne und dem kleinen Mond zusätzlich ist die Orientierung noch einfacher. Ewa blickt in Richtung Süden, wo irgendwo die NASA-Basis liegt. Am Horizont bemerkt sie einen eigentümlich geformten Berg. Er passt nicht hierher. Vielleicht ist er bei einem Meteoriteneinschlag entstanden. Sie visiert ihn an und marschiert los.
Nach drei Minuten
bleibt sie plötzlich stehen. Ewa weiß selbst nicht, warum. Irgendetwas hat ihre Schritte angehalten. Sie sieht nach unten. Sie hebt den rechten Fuß an. Er gehorcht. Dann testet sie den linken. Auch er folgt ihrem Befehl. Sie geht weiter – und bleibt wieder stehen. Was ist das? Hat sie gerade einen Anfall von Schizophrenie? Ewa atmet tief aus und ein. Dann greift sie mit beiden Händen an ihr rechtes Bein und zieht es nach vorn, zehn Zentimeter, das reicht. Sie wiederholt den Prozess mit dem linken Bein. Ewa ist froh, dass niemand sie so beobachtet. Aber es funktioniert. Sie kommt voran, wenn auch ganz langsam. Dann gehorchen ihre Beine plötzlich wieder.
Ewa ist erleichtert. Sie fasst den merkwürdigen Berg ins Auge und marschiert gen Westen. Der Boden ist sandig, sodass sie tiefe Spuren hinterlässt. Der Rucksack drückt auf ihre Schultern. Die Gelenke brennen. Plötzlich ist der Berg weg. Ewa bleibt stehen. Ihr Herz schlägt schnell. Was ist mit dem Horizont passiert? Sie dreht sich einmal um ihre Achse. Da ist der Berg wieder. Er befindet sich hinter ihr. Wie kann das sein? Ewa sieht sich um. Eine Reihe menschlicher Spuren läuft auf den Berg zu. Daneben führt eine zweite Reihe zu ihrem jetzigen Standort zurück. Hier ist niemand außer ihr. Sie muss umgekehrt sein, ohne es zu bemerken. Was soll das? Wer versucht da, ihr einen Streich zu spielen, ihr eigener Körper – oder ihr Bewusstsein?
Ewa nimmt den Rucksack ab und setzt sich demonstrativ darauf. Wer ist hier der Chef? Sie! Sie wird sich nicht irritieren lassen. Sie bestimmt, in welche Richtung sie sich bewegt.
Dann zuckt plötzlich ihr Arm. Die rechte Hand bewegt sich vor dem Helm hin und her, als wolle sie Zeichen geben. Ewa versucht, die Muskeln zu kontrollieren, doch es gelingt ihr nicht. Was will die Hand von ihr? Panik steigt in ihr auf. Sie muss die Kontrolle zurückgewinnen, egal wie. Sie kramt mit der linken Hand nach einem Werkzeug. Sie könnte die rechte abschneiden! Nein, dazu müsste sie den Anzug durchtrennen. Sie würde sofort sterben.
Sie beugt sich nach vorn. Der Arm ist nun in Reichweite des Marsbodens. Er streckt sich. Der Zeigefinger fährt aus. Ihre eigene Hand beginnt, Muster in den Sand zu malen. Nein, es sind keine Muster, es sind Buchstaben. Ihre Hand will mit ihr kommunizieren! Nun ist sie wohl endgültig verrückt geworden. Ewa muss lachen. Sie steht vornübergebeugt in der Marswüste und malt Zeichen in den Sand. Wahrscheinlich wacht sie gleich an Bord der Santa Maria auf, und alles erweist sich als schrecklicher Alptraum.
»Go West, geh nach Westen«, erscheint auf Englisch im Sand. Wenn da ihr eigenes Unterbewusstsein mit ihr kommuniziert, warum dann nicht auf Polnisch? Wäre das nicht logischer? Sie denkt schließlich auch in ihrer Muttersprache. Oder handelt es sich um einen Teil ihrer Persönlichkeit, den sie abgespalten hat? Ewa hat gelesen, dass solche Abspaltungen auch manchmal in unbekannten Sprachen reden. Wenigstens handelt es sich um Englisch, also kann sie die Anweisung verstehen.
»Warum?«, fragt Ewa laut. Sie hat zwar nicht die Absicht, dem Befehl zu folgen, aber die Beweggründe ihres zweiten Ichs interessieren sie schon. Was will die andere Ewa im Westen? Sie tritt einen Schritt nach hinten, damit Platz für die Antwort ist, und ihr Finger beginnt zu schreiben. Es ist erschreckend und faszinierend zugleich anzusehen. Sie fühlt sich an einen dieser Horrorfilme erinnert, wo die Protagonisten mit einem Andenken Geister beschwören, die dann auf eine Tafel schreiben.
»Vertrau mir«, ist nun im Sand zu lesen.
»Ich bin du und du bist ich«, sagt Ewa. »Wie könnte ich mir da vertrauen, wo ich doch all die Menschen umgebracht habe?«
»Das warst du nicht«, schreibt ihr Zeigefinger.
»Schön wäre es«, antwortet Ewa laut, »aber die Beweise waren eindeutig. Ich habe mich doch sogar selbst gesehen. Darauf falle ich nicht herein.«
Ganz von allein tritt sie erneut einen Schritt zurück.
»410 Kilometer westlich lagern Vorräte«, schreibt sie jetzt.
Ewa zuckt zurück. Ihr abgespaltetes Ich muss jetzt völlig durchgedreht sein. Woher sollen mitten in der Mars-Wüste Vorräte kommen?
»Das ist völlig unmöglich«, sagt Ewa. »Das musst du dir ausgedacht haben. Das muss ich mir ausgedacht haben.«
»Spaceliner 1«, schreibt ihr Zeigefinger.
Der Spaceliner ist das Mars-Raumschiff eines reichen Unternehmers. Es müsste in ein paar Monaten hier ankommen, um eine Kolonie zu gründen. Sicher hat die Firma auch schon vorab Vorräte auf den Mars gebracht. So ist es auch bei der NASA üblich. Nur die MfA-Initiative hatte alles auf eine Karte setzen müssen. Aber niemand kann wissen, wo sich die Spaceliner-Vorräte befinden. Ihr Unterbewusstsein hat sich da eine schöne Geschichte ausgedacht.
»Das kannst du nicht wissen«, sagt Ewa und schüttelt den Kopf. Allein die Tatsache, dass sie mit sich selbst spricht und dabei ihre eigene Hand benutzt, um sich Botschaften zu schreiben, zeigt schon, dass es um ihren Geisteszustand noch schlimmer bestellt ist als befürchtet.
»Vertrau mir«, schreibt diese Hand.
Ewa lacht. Ganz so verrückt ist sie dann doch nicht. Wenn sie nach Süden marschiert, wird sie irgendwann auf die NASA-Basis treffen.
»Das schaffst du nicht«, notiert ihr Finger im Sand.
Erst erschrickt Ewa, weil ihr zweites Ich ihre Gedanken liest. Dann stellt sie fest, dass das Erschrecken der eigentliche Beweis für ihre Krankheit ist. Natürlich kennt die zweite Ewa ihre Gedanken, sie besteht ja komplett aus ihnen. Das passiert alles ganz allein in ihrem Kopf. Wenn sie es bloß schaffen würde, ihre Hand wieder unter Kontrolle zu bekommen!
»Was hast du zu verlieren?«, liest sie.
Sie argumentiert gut, aber das ist nicht überraschend. Ewa hatte schon immer die Fähigkeit zu überzeugen. 420 Kilometer in sechs Tagen, das scheint machbar, auch wenn sie dann pro Tag 70 Kilometer laufen muss. Vierzehn Stunden auf den Beinen, zehn Stunden ausruhen. Das wird ein Gewaltakt, aber immerhin gäbe es ein Ziel. Die Strecke zur NASA-Basis schafft sie auf keinen Fall lebendig.
»Du wirst es nicht bereuen«, schreibt ihr Finger in den Sand.
Davon ist Ewa allerdings überzeugt. Es gibt so viel, das sie bereuen kann. Diese Wanderung nach Westen gehört sicher nicht dazu. Sie freut sich schon darauf, ihre eigenen Ausreden zu hören, wenn am Ende der Reise nur die erbarmungslose Wüste wartet.