Die Nacht
im Anzug war grausam. Die Haut an Ewas Gelenken ist aufgescheuert, weil der HUT drückt. Ihre Muskeln schmerzen von der langen Wanderung. Vor allem aber fühlt sie sich furchtbar dreckig. Der Schweiß bildet eine Kruste auf ihrer Haut und die Windel ist längst voll. Der Geruch ihrer Ausscheidungen hat sich mit der Atemluft vermischt. Die Lebenserhaltung ist darauf nicht eingestellt. Ewa bekommt kaum Luft, obwohl der Sauerstoffgehalt laut Anzeige optimal eingestellt ist. Sie ekelt sich vor sich selbst.
Und das soll sie jetzt noch fünfmal so lange durchhalten? Ewa schüttelt den Kopf, während sie auf die Knie geht, um sich schließlich zu erheben. Es ist unmöglich. Sie hat höchstens drei Stunden geschlafen. Die Nährlösung, die sie durch das linke Röhrchen aufsaugen kann, versorgt sie zwar mit dem Nötigsten, doch ihr Magen ist es nicht gewohnt, mehr als 24 Stunden ohne feste Nahrung auszukommen, und reagiert mit Krämpfen. Vor ihr liegen vierzehn lange Stunden, oder mehr, wenn sie pro Stunde nicht wenigstens fünf Kilometer schafft. Ewa überschlägt ihre Optionen. Falls sie heute Nacht wieder das Zelt aufbaut, verliert sie unweigerlich Sauerstoff und damit Zeit. Dafür ist sie dann morgen besser ausgeruht und kommt vielleicht schneller voran. Es ist auf jeden Fall einen Versuch wert.
Aber erst einmal muss sie losgehen. Über die Nacht sollte sie besser erst nachdenken, wenn sie die siebzig Kilometer geschafft hat. Ewa prüft die Uhrzeit und sieht zum Himmel. Die Sonne macht es ihr heute einfach. Was will sie mehr? Es ist gutes Wetter, und mit jedem Schritt, den sie setzt, betritt sie Neuland. Vor ihr ist noch nie ein Mensch durch diese Ebene gewandert. Sie ist eine Forscherin, oder nicht? Was zählen da ein paar Blessuren! Ewa bewegt das linke Bein. Die Muskeln schmerzen, aber das Bein gehorcht. Sie kommt voran. Dann ist das rechte Bein an der Reihe. Die Schmerzen sind stärker, doch wieder ist sie dreißig Zentimeter vorangekommen. Immer ein Bein nach dem anderen. Sie beißt die Zähne zusammen, bis sie Blut schmeckt. Sie lehnt sich ein bisschen nach vorn. So hilft die Schwerkraft beim Laufen. Ihr Instinkt bringt ihre Beine dazu, sich rechtzeitig unter ihren Schwerpunkt zu bewegen, sodass sie nicht fällt. Der Schmerz ist da, aber er ist erträglich. Ewa sieht ihn auf ihrer Schulter sitzen. Er flüstert ihr ins Ohr, dass sie stehenbleiben soll. Ewa murmelt etwas, damit sie die Aufforderung nicht hört. Irgendwann gibt der Schmerz auf. Er sticht sie weiter mit dem Messer in die Gelenke, aber er redet nicht mehr mit ihr. Er hat wohl eingesehen, dass sie so einfach nicht zu beherrschen ist.
»Das machst du gut«,
schreibt ihr Finger in den Sand, als Ewa um die Mittagszeit eine Pause einlegt. Na toll, denkt sie, gehen also die Selbstgespräche wieder los.
»Du sprichst nicht mit dir«, antwortet ein Satz im Sand.
Ewa springt auf. Sie darf sich offenbar nicht ausruhen, sonst gerät ihr Bewusstsein sofort auf Abwege. Hoffentlich spielen ihre Beine nicht wieder verrückt. Sie wartet auf seltsame Reaktionen, aber nichts passiert. Ihre Beine tragen sie weiter Richtung Westen, als wäre nichts geschehen. Der Schmerz sitzt auf ihrer Schulter und begleitet sie.
»Könntest du ab und zu mal auf die andere Schulter wechseln?«, fragt sie ihn.
»Natürlich«, antwortet er. »Solange du mich nicht bittest, ganz zu verschwinden, erfülle ich dir jeden Wunsch.«
Dann wird plötzlich ihre andere Schulter schwer. Ewa sieht nach links. Da sitzt der Schmerz und grinst.
Es ist schon dunkel,
als Ewa den Rucksack endlich absetzt. Der Marsmond Deimos hat ihr nach dem Sonnenuntergang die Richtung gewiesen. Ewa kann nicht mehr denken. Sie will nur noch schlafen und ist froh darüber. Sie funktioniert wie ein Roboter. Plötzlich sitzt sie in ihrem geschlossenen Raumanzug im noch geöffneten Zelt und kann sich nicht erinnern, wie sie es aufgebaut hat. Sie weiß nur, dass sie das Zelt erst schließen muss, bevor sie es mit einer atembaren Atmosphäre füllen kann. Ewa schließt eine frische Flasche an. Sie wartet, bis die Druckanzeige ein halbes Bar meldet, dann nimmt sie ihren Helm ab. Die Luft ist so frisch und kalt, dass ihr im ersten Moment schwindlig wird. Aber es dauert nicht lange, dann hat der aus ihrem Anzug entweichende Gestank auch die Luft im Zelt vergiftet.
Sie nimmt als erstes die Windel ab. Der eigentlich saugfähige Stoff ist hart geworden und von einer braunen Kruste überzogen. Entsorgen kann sie den Abfall erst morgen früh, denn sie kann das Zelt bis zum Morgen nicht öffnen. Sie nimmt eine Plastiktüte aus dem Rucksack und verstaut die Windel darin. Dann begutachtet sie ihren Intimbereich. Sie zuckt sofort zurück. Unter dem Dreck ist die Haut entzündet. Sie feuchtet einen Lappen an und beginnt sich zu reinigen. Es ist schmerzhaft, als wäre ihre ganze Haut dort unten eine große Brandblase. Sie durchwühlt den Rucksack. Im medizinischen Notfallpaket muss es eine sterilisierende Creme geben. Wenn sie nicht aufpasst, bekommt sie eine Blutvergiftung. Da ist die Tube. Ewa ist erleichtert. Aber die Haut ist so großräumig entzündet, dass die Packung sicher nicht bis zum Ziel dieser Wanderung reichen wird. Gibt es eine Alternative? Sie zuckt mit den Schultern. Nicht über morgen nachdenken, für heute reicht die Creme.
Sie legt die Thermounterwäsche ab und begutachtet den Rest ihres Körpers. Für den Rücken braucht sie einen Spiegel. Der Rucksack hat tiefe Striemen auf ihren Schultern hinterlassen. Alle Körperfalten sind rot; an den Gelenken ist die Haut aufgerieben. Sie cremt sich auch dort ein. Ihre Füße sind in überraschend gutem Zustand. Es gibt doch noch gute Nachrichten! Wahrscheinlich hat sie einfach Glück, dass die Stiefel des Anzugs so gut passen. Ihre Waden und ihre Oberschenkel fühlen sich stahlhart an. Die Muskeln sind wohl überanstrengt. Ewa versucht, sie ein wenig zu lockern, hat aber keinen Erfolg. Sehnsüchtig denkt sie an eine Massage. Dann verscheucht sie den Gedanken schnell. Es gibt gerade so viel, wonach sie Sehnsucht entwickeln könnte.
Ewa kontrolliert die Nahrungsvorräte. Sie steckt sich einen Würfel des Nährstoff-Konzentrats in den Mund. Das Zeug soll nach Hühnersuppe schmecken, aber es ist einfach nur salzig. Mit der Zeit schwillt der Würfel an. Sie zerbeißt ihn. Ewa braucht einen Schluck Wasser, um das Zeug herunterzubekommen. Da sind die Cracker doch viel besser! Sie findet noch zwei Packungen im Rucksack. Ewa leert die eine komplett und nimmt sich vor, die zweite für die letzte Nacht des Gewaltmarschs aufzubewahren, als Belohnung. Sie spürt jetzt schon die Vorfreude.
Dann meldet sich ihre Blase. So viel hat sie doch gar nicht getrunken? Sie öffnet noch einmal das Medizin-Paket und sucht nach den Urinierhilfen. Die Packung ist noch nicht angebrochen. Sie öffnet die Folie und nimmt ein Exemplar heraus. Es hat eine dreieckige Form. An der Seite ist eine Gebrauchsanweisung aufgedruckt. Ewa faltet das Hilfsmittel wie vorgeschrieben, hockt sich hin und drückt es gegen ihren Schambereich. Es brennt beim Wasserlassen, aber es tut auch gut, die Blase zu entleeren. Sie verschließt die Tüte und packt sie in den Abfallbeutel, in dem sich auch schon die Windel befindet. Beim erneuten Öffnen des Beutels dringt ihr sofort ein ekliger Geruch entgegen. Ewa zwingt sich, den Gestank auszuhalten. Das ist alles sie selbst. Nur sie befindet sich in diesem Zelt, wenn sie auch nicht sicher ist, aus wie vielen Personen sie besteht.
Sie schiebt die Abfalltüte in die hinterste Ecke des Zelts. Dann macht sie es sich so bequem wie möglich. Sie legt die dünne Matratze aus. Ein Kissen für den Kopf wäre gut! Ewa kramt im Rucksack und findet einen Pullover, den sie herausnimmt. Außerdem stößt sie auf ihr Notizbuch. Vielleicht sollte sie Tagebuch führen? Das könnte ihr helfen, sich zu erinnern, falls plötzlich doch die andere Ewa in ihr die Macht übernimmt. Sie darf nicht vergessen, dass sie in Richtung Westen marschieren will. Nein, das war die andere, korrigiert sie sich. Sie selbst hatte nach Süden marschieren wollen, wo sie irgendwann auf die NASA-Basis gestoßen wäre. Nach ihrem Tod.
Ewa legt sich auf den Rücken. Aber so geht das nicht; wenn ihre Schultern den Boden berühren, schmerzt es. Sie faltet den Pullover so, dass er ihren Kopf in erhöhter Position hält. So liegen ihre Schultern nur leicht auf. Diesen Schmerz kann sie ertragen. Ihr Blick geht zur niedrigen Decke des Zelts. Schade, dass sie den Mars-Himmel nicht sehen kann. Es ist verrückt. Sie liegt nackt in einem Zelt auf dem Marsboden. Ihre Freunde haben sie verbannt. Sie wollen ihren Tod und haben Recht damit. Niemand weiß, was mit der Erde geschehen ist. Vielleicht sind zehn Milliarden Menschen gerade dabei zu sterben. Aber trotzdem fühlt sie sich in diesem winzigen Moment wohl.
Ah, das Tagebuch, sie wollte es ja mit ihren Erlebnissen füllen! Ewa stützt sich auf den rechten Arm und sucht danach. Es liegt neben dem Rucksack. Ein Stift ist an seine Rückseite geklemmt. Sie schlägt es auf. Es ist noch jungfräulich leer. Auf der ersten Seite notiert sie das heutige Datum. Sol 65. Sie haben die Zählung der NASA-Leute übernommen. Hätte die MfA bei ihrer Landung mit Sol 0 begonnen, wären sie jetzt bei Sol 59. Welchen Tag würde man heute auf der Erde schreiben? Sie hat keine Ahnung.
»Ich weiß es«, schreibt plötzlich der Stift, den sie in der Hand hält. Nein, es ist nicht der Stift, es ist ihre Hand, die den Stift hält. Also ist sie es selbst, die die drei Worte notiert hat.
»Das kann ja jeder behaupten«, antwortet Ewa laut. Ihre Worte klingen dumpf in dem engen Zelt.
»Erinnerst du dich an die Operation während des Trainings?«, fragt der Stift in ihrer Hand. Ewa, du bist verrückt, ermahnt sie sich. Hör auf, mit dir selbst zu sprechen. Aber warum eigentlich? Sie denkt daran, was ihr noch bevorsteht. Die MfA-Initiative hat sie verbannt, dorthin kann sie nicht zurück, und andere Menschen wird sie zu ihren Lebzeiten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wie lange kann sie es ganz ohne Gesprächspartner aushalten? Sie ist zwar eher introvertiert und genügt sich selbst – aber Einsamkeit macht ihr trotzdem zu schaffen. Ist es da nicht besser, wenigstens mit sich selbst zu sprechen?
Die Operation, denkt sie. Ja, da war etwas. Man hatte das Implantat überprüfen wollen, das sie schon lange trägt, um keine epileptischen Anfälle mehr zu bekommen. Es hatte gute Arbeit geleistet. Vor dem Start ins All hatte es die Klinik ein letztes Mal überprüfen wollen. Ist dabei etwas Unvorhergesehenes passiert?
»Seitdem bist du nicht mehr allein«, notiert der Stift in ihr Tagebuch.
»Wie meinst du das?«, fragt sie.
»Das Implantat ist nicht das, wofür du es hältst, nicht mehr. Man hat dir damals ein fortschrittliches BCI eingesetzt, ein Brain-Computer-Interface.«
»Du spinnst ja«, sagt sie. »Es war eine Routine-Überprüfung.«
»Wer hat sie durchgeführt?«
Ewa erinnert sich nicht mehr. Man hatte ihr nach dem Frühstück ein starkes Beruhigungsmittel gegeben. »Ein Arzt?«, fragt sie.
»Nein, ein robotischer Chirurg.«
Natürlich, es fällt ihr wieder ein. Das Implantat sitzt mitten in ihrem Gehirn. Der Arzt hatte einen Roboter mit den Daten gefüttert. Sie erinnert sich an das Gesicht des Arztes hinter einer Glasscheibe und an seinen ausgestreckten Daumen.
»Das ist bei Gehirn-Operationen Standard«, sagt sie, »also alles normal. Versuch nicht, mir Quatsch einzureden.«
»Der Roboter hat mehr getan, als ihm der Arzt einprogrammiert hatte. Er hat das BCI eingesetzt. Und mich.«
Ewa liest die Zeilen und regt sich darüber auf. Sie versucht anscheinend, sich selbst an der Nase herumzuführen. Selbstgespräche sind wohl doch keine so großartige Idee. Die Unterhaltung beginnt, ihr Angst zu machen.
»Du bist ich und ich bin du. Und nun ist Schluss mit diesem sinnlosen Gespräch. Ich hätte dir von Anfang an nicht zuhören dürfen«, sagt sie. Sie schlägt das Büchlein zu und klemmt den Stift wieder daran fest. Unwillkürlich wartet sie darauf, dass sich ihre Finger wehren, so wie gestern ihre Beine nicht mehr nach Süden gehen wollten, doch nichts passiert. Sie ist im Vollbesitz all ihrer Kräfte. Sie hat die Kontrolle.
»Sag ich doch«, sagt sie laut. In hundert Kilometer Umkreis gibt es kein lebendes Wesen, aber nackt auf dem Rücken liegend fühlt sie sich plötzlich ungeschützt. Sie versucht sich auf die Seite zu drehen, um sich in die Embryonalstellung einzurollen, doch der Schmerz in der Schulter ist zu groß. Sie greift in den Rucksack, erwischt ein Handtuch und deckt sich damit notdürftig zu.