Sol 68, Mars-Oberfläche
Es war ein Fehler, dass sie die vergangene Nacht im Zelt verbracht hat. Ihren geschundenen Körper zu sehen, hat sie ernsthaft ans Aufgeben denken lassen. Einige Stellen haben sich entzündet. Besonders schlimm sieht es an der Innenseite ihrer Oberschenkel aus. Sie hat in ihrer Verzweiflung eine dicke Lage Toilettenpapier darumgewickelt, das nun Blut, Schweiß und Eiter aufsaugt. Ihre letzte Nacht wird sie im Anzug verbringen. So muss sie das Elend wenigstens nicht sehen. Sie wird die nötigsten Stunden schlafen und sich dann so früh wie möglich auf den Weg machen. Hoffentlich treibt sie das Adrenalin bis dahin noch etwas an.
Eine weitere Nacht wird es nicht geben, das hat sie nach dem Losmarschieren beschlossen. Wenn sich das angebliche Ziel als Wunschvorstellung ihres zweiten Ich herausstellt, öffnet sie den Helm. Sie wird es nicht darauf ankommen lassen, allmählich zu ersticken. Der Sauerstoff reicht, wenn sie spart, vielleicht noch für einen Tag mehr, aber was bringt ihr ein Tag voller Quälerei?
Ewa sieht nach vorn. Sie durchquert gerade einen uralten Krater. In seiner Mitte befindet sich ein Geröllfeld voller kleiner und großer Steine. Sie überlegt kurz, ob sie es umgehen soll, doch sie entscheidet sich dagegen. Sie erklimmt den ersten Felsbrocken, dann springt sie von Stein zu Stein. Sie erinnert sich an einen Familienurlaub am Meer. Es muss an der kroatischen Adria gewesen sein. Sie war gemeinsam mit ihrer Schwester über große, schwarze Steine am Ufer gehüpft, die die Brandung mit Feuchtigkeit benetzt hatte. Dabei war sie gestürzt und mit dem Kopf gegen einen der vom Wasser glatt geschliffenen Felsen geprallt. Es war nicht viel passiert; der Arzt hatte nur eine kleine Gehirnerschütterung festgestellt. Aber danach hatten die Anfälle begonnen.
Die Steine hier sind rau und nicht glatt, auch wenn es vor drei Milliarden Jahren vielleicht einmal Wasser gab. Aber sie sind schwarz wie die Felsen an der kroatischen Küste. Als der Meteorit auf die Oberfläche prallte, muss die entstehende Reibungshitze das Material der Kruste eingeschmolzen haben. Ewa stellt sich vor, wie es flüssige Gesteinsschlacke in den Krater regnete. Oder erstarrte das Material noch in der Luft? Wer oder was immer sich im Einschlaggebiet aufhielt, muss zu Staub zermahlen worden sein. Ewa überlegt, was das für die MfA-Basis bedeutet. Dem Mars fehlt die dichte Atmosphäre der Erde, in der kleinere Meteoriten verglühen. Wenn sie mit Sicherheit dauerhaft überleben wollen, müssen sie sich an verschiedenen Orten niederlassen. Ein einziger Einschlag darf nicht die gesamte restliche Menschheit auslöschen.
Ewa lacht. Es tut gut, an etwas anderes als ihren baldigen Tod und die Schmerzen zu denken. Aber natürlich ist es sinnlos. Nie wieder wird sie jemand nach ihrer Meinung zur Zukunft der MfA-Initiative fragen. Sie ist raus, ein für allemal.
Und wenn die Nachricht stimmt, die mit ihrer Handschrift in ihrem Tagebuch notiert ist? Wenn da wirklich etwas in ihr steckt, das die Fähigkeit hat, ihr Bewusstsein zu kontrollieren? Ewa schwitzt, aber dieser Gedanke lässt ihr einen kalten Schauer über den Rücken fahren. Sie hofft beinahe, dass sich alles nur als Fata Morgana erweist. Eine fremde Macht in ihrem Kopf, die ihre eigene Persönlichkeit jederzeit ausschalten kann – das ist, wenn sie es sich genau überlegt, viel beängstigender als die Vorstellung, dass sie an einer Krankheit leidet. Sie wäre dann zwar keine Mörderin, aber sie wäre eine noch weitaus größere Gefahr für alle, mit denen sie zu tun hat. Sie dürfte sich nie wieder anderen Menschen nähern. Dank der Kenntnisse des Implantats hätte sie zwar überlebt, aber sie kann sich nicht vorstellen, die nächsten sechzig oder siebzig Jahre in Einsamkeit zu verbringen.
Sie muss etwas tun. Falls da etwas Fremdes in ihr ist, darf sie sich nicht von ihm abhängig machen. Sie muss die Kontrolle zurückgewinnen.