28. 5. 2042, Spaceliner 1
Aus heiterem Himmel
schlägt ihm sein Gegenüber in den Bauch. Rick krümmt sich vor Schmerzen. Was fällt dem Mann ein? Was will er von ihm? Hat er ihm etwas getan? Aus dem Augenwinkel sieht er die erschreckend große Faust des Mannes ein zweites Mal auf sich zukommen. Sie befindet sich am Ende eines etwa drei Meter langen Armes, der aus Kettengliedern besteht. Doch bevor Rick getroffen wird, klingelt sein Wecker. Er öffnet die Augen und sieht zur Seite. Der Wecker zeigt 03:50 Uhr. Er hat nicht geklingelt. Sein Armband hat ihn geweckt. Er wird gerufen, mitten in der Nacht. Irgendetwas muss passiert sein. Rick sucht nach seiner Hose. Sie ist unter das Bett gerutscht. Eine Seite des Wandschranks steht offen. Er ist sicher, dass er sie gestern Abend geschlossen hat. Rick sieht sich den Wecker an. Auf der Ablage hat sich eine dünne Staubschicht gebildet. Der Wecker muss verrutscht sein, das sieht Rick an der Spur, die er hinterlassen hat. Vielleicht war der Schlag in die Magengrube echt? Ist das Schiff irgendwo dagegen geprallt? Der Wecker ist in Richtung Bug gerutscht, also muss es kurzzeitig eine Bremswirkung auf das Schiff gegeben haben. Er hat aber keinen allgemeinen Alarm gehört, also hat man gezielt ihn geweckt. Das Problem muss mit den Triebwerken zu tun haben, für die er zuständig ist.
In der Zentrale zählt er elf Menschen. Das sind mehr als doppelt so viele wie in einer normalen Schicht. Ein Mann in einem schicken, offenbar maßgeschneiderten Anzug fällt ihm sofort auf. Er trägt ein kleines Namensschild mit goldenen Lettern, das ihn als Passagier mit besonderen Privilegien ausweist. Rick versucht, den Namen zu erkennen. Kurzer Vorname, längerer Nachname, wenn das nicht der Herr Senator ist! Rick lächelt und denkt an das Beweisstück in seiner Kabine. Wenn der Mann das wüsste!
In diesem Moment taucht Terran hinter dem Senator auf.
»Rick, da bist du ja endlich«, sagt er und schwebt auf ihn zu.
Rick hebt abwehrend die Hände. »Bin so schnell gekommen, wie es ging.« Er bemerkt, wie der Senator Terran einen Blick zuwirft. Er wirkt dabei wie ein Herr, der seinem Hund unmerklich einen Befehl gibt. Und Terran, der große, starke Terran Carter, reagiert darauf.
»Darf ich vorstellen«, sagt er, »das ist Rick Ballantine, einer der Haupt-Sponsoren dieser Reise.«
Der Senator lächelt. Rick kommt das Lächeln künstlich vor. Er streckt die rechte Hand aus und Ballantine drückt sie.
»Sie sind Triebwerkstechniker? Terran hat mir schon von Ihnen erzählt«, sagt er.
»Hoffentlich nichts Schlechtes. Ich bin hier Mädchen für alles.«
»So so, Mädchen für alles.«
Das Lächeln des Senators kommt ihm zunehmend anzüglich vor.
»Mein Spezialgebiet sind Bäder und Toiletten«, sagt er. »Die Triebwerke brauchen mich selten.«
»Dann haben Sie die Verstopfung gestern repariert? Was war denn das Problem?«
»Der Ventilator hat versagt, das passiert öfter mal. Ist ein spezielles Problem der Bäder in den Passagierkabinen.«
»Ich muss eure Plauderei leider unterbrechen«, sagt Terran. »Wir haben ein ernsthaftes Problem.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, antwortet der Senator. »Ich möchte Sie nicht von der Arbeit abhalten.«
»Bist du schon instruiert?«, fragt Rick. Es ärgert ihn, dass Terran anscheinend noch vor ihm gerufen wurde. Sie haben dieselbe Stellung, also sollte sie der Flight Manager auch gleichzeitig benachrichtigen.
»Vor siebzehn Minuten haben plötzlich alle Korrekturdüsen gleichzeitig in dieselbe Richtung gefeuert. Dadurch kam es zu einer kurzzeitigen negativen Beschleunigung«, erklärt Terran.
»Jemand hat uns gebremst? Und was war die Ursache?«
»Die Sensoren haben keinerlei Hindernis angezeigt. Da war nichts, gar nichts.«
»Also war es nur ein kleiner Schluckauf?«, fragt Rick.
»Der diensthabende Pilot hat zum Glück sehr schnell reagiert und die Düsen deaktiviert.«
Das hat der Pilot gut gemacht. Hätten die Triebwerke länger gefeuert, wären sie möglicherweise von der vorgesehenen Bahn zum Mars abgekommen. Dann hätten sie jetzt eine mehrjährige Odyssee durch das Sonnensystem vor sich. Sie würden die Erde zwar in etwa zweieinhalb Jahren wieder erreichen, aber so lange Zeit auf so engem Raum, das wäre kein vergnüglicher Ausflug gewesen.
»Und nun sollen wir herausfinden, was die Ursache war«, stellt Rick fest.
»Du sagst es.«
»Dann an die Arbeit.« Rick schwebt zu seinem Sitz, der sich abseits der für den Piloten und den Flight Manager vorgehenden Konsolen befindet. Er schnallt sich an, man weiß ja nie, und holt sich das Schema der Korrekturtriebwerke auf den Schirm. Diese sind rund um das Schiff verteilt. Sie sind für kleinere Korrekturen gedacht und werden in der Nähe des Mars dann dafür gebraucht, das Schiff so zu drehen, dass es mit den Haupt-Triebwerken bremsen kann. Sie arbeiten genauso auf chemischer Basis wie die Haupt-Triebwerke, kommen aber nur auf eine deutlich geringere Leistung.
Rick geht den Status jeder einzelnen Komponente durch. Die Daten verraten ihm, was er schon weiß: dass die Düsen vor nunmehr 20 Minuten aktiviert wurden, und zwar mit Leistungs-Parametern, die deutlich über den Grenzwerten lagen. Jemand muss das Bremspedal nicht nur gedrückt, sondern so stark getreten haben, dass er beinahe das Bodenblech eingedrückt hätte. Der Pilot scheidet damit als Verursacher aus; selbst versehentlich kann er die Korrekturdüsen nur mit ihrer vorgesehenen Leistung starten.
Mit dem Finger zoomt er in die einzelnen Strukturbereiche. Rick sucht nach Defekten, die durch eine Verkettung unglücklicher Umstände zu dem bekannten Ergebnis geführt haben könnten. Ihr Ausbilder hat immer gern auf die Schubumkehr bei Flugzeugtriebwerken verwiesen, deren versehentliche Auslösung zu einigen Unfällen geführt hat. Es ist unmöglich, bei der Konstruktion eines Triebwerks sämtliche Eventualitäten abzusichern. Rick glaubt zwar nicht wirklich, dass das Problem damit zu tun haben könnte, denn es hat wirklich alle Korrekturdüsen gleichzeitig beeinflusst. Aber er muss es auf jeden Fall ausschließen. Tatsächlich findet sich keinerlei in den Daten sichtbarer Defekt.
»Es gibt keine organische Ursache«, sagt er zu Terran.
»Ich finde auch nichts«, antwortet sein Kollege. »Theoretisch könnte der Defekt aber noch irgendwo unsichtbar in der Hardware stecken. Nicht jede Komponente ist mit Fehlersensoren ausgestattet.«
»Die, die gern mal kaputtgehen, schon«, sagt Rick.
»Das stimmt. Wir sollten trotzdem nachsehen.«
»Du willst 24 Triebwerke aufschrauben?«
Terran antwortet nicht sofort. Ihm muss ebenso klar sein wie Rick, dass das ein unangenehmer und langwieriger Job wäre. Er würde lieber zehn verstopfte Toiletten ausräumen als stundenlang in engen, heißen und stickigen Schächten in der Außenhülle des Raumschiffs herumzukriechen. Erst recht, weil das vollkommen sinnlos ist.
»Mal ehrlich, Terran, die Komponenten ohne Fehlermelder haben genau deshalb keinen, weil sie nur alle hundert Jahre mal ausfallen. Und dieses seltene Ereignis soll nun in allen 24 Düsen gleichzeitig aufgetreten sein? Auf so ein Ereignis musst du länger warten, als das Universum existiert!«
»Du hast ja Recht. Aber es ist Vorschrift. Wir müssen nachsehen, wenn wir keine andere Ursache finden.«
»Dann finden wir eben eine andere Ursache!« Rick überlegt schon, ob er notfalls eine scheinbare Ursache simulieren soll. Er könnte ja einen Defekt herstellen, einen, der sich leicht reparieren lässt. Aber die Gefahr, dass das auffliegt, ist zu groß. Und so ganz wohl ist ihm dabei auch nicht: Immerhin hätte der seltsame Schluckauf ihnen einen ewigen Rundflug beschert, hätte der Pilot nicht so gut aufgepasst.
»Hast du einen Vorschlag?«
»Wir gehen die Befehlsspeicher der einzelnen Triebwerke durch. Die haben alle synchron reagiert, da muss es irgendeine Steuerung gegeben haben.«
»Okay, du nimmst dir Nummer 1 bis 12 vor, ich den Rest«, sagt Terran.
Ein paar Minuten arbeiten beide konzentriert. Der Befehlsspeicher funktioniert wie die Blackbox eines Flugzeugs. Sein Inhalt ist so verschlüsselt, dass Manipulationen auffallen. Rick muss die Speicher mit seiner Kennung auslesen und dann die Funktion aller verarbeiteten Befehle prüfen. Er hat den Ehrgeiz, vor seinem Kollegen fertig zu sein, und es gelingt ihm.
»Ich hab was«, sagt er.
»Gib mir eine Minute«, antwortet Terran.
Ha! Er war schneller.
»Okay, ich habe da etwas Interessantes«, sagt nun auch Terran.
»Schieß los.«
»Ziemlich exakt um 3:48 Uhr kam bei allen Triebwerken ein Ausweich-Befehl an.«
»Das kann ich bestätigen«, sagt Rick.
»Der Befehl wurde von der Automatik erzeugt. Deshalb liegt er auch weit außerhalb der Grenzwerte.«
»Die Automatik ist berechtigt, im Notfall bis an die äußerste Grenze der Leistungsfähigkeit zu gehen«, ergänzt Rick.
»Richtig. Also müssen wir nur noch herausfinden, warum die Automatik einen Notfall vermutet hat«, sagt Terran.
»Dazu brauchen wir die Autorisierung des Piloten.«
»Wer hat gerade Schicht?«
»Meine Freundin Maggie«, sagt Terran. »Sie hat mir bereits den Zugriff erteilt. Ich schicke dir die Daten auf die Konsole.«
Rick beißt die Zähne zusammen. Terran ist anscheinend gut vernetzt. Er muss wirklich mehr Bekanntschaften schließen.
»Danke«, sagt er. Parallel gehen sie die Aufzeichnungen durch. Das Vier-Augen-Prinzip ist ein Relikt aus der NASA-Praxis. Rick hätte es längst abgeschafft, die Technik-Risiken sind schließlich heute viel geringer als vor 80 Jahren in der Apollo-Ära.
Dann fällt ihm etwas auf. Kurz vor 3:48 Uhr taucht in den Sensordaten plötzlich der Mond auf. Er müsste sich für kurze Zeit direkt vor dem Schiff befunden haben. Die Automatik hat den Daten vertraut und sofortiges Ausweichen befohlen. Dann hat sie ihren Fehler bemerkt und korrigiert. Der Korrekturimpuls der Pilotin kam erst ein paar Zehntelsekunden später. Aber aus menschlicher Sicht muss es natürlich so aussehen, als hätte die Pilotin sie gerettet.
»Siehst du das auch?«, fragt Terran. Sie wechseln ein paar Blicke. Es ist offensichtlich, dass Terran seiner Freundin die Ehre, das Schiff gerettet zu haben, gern lassen würde. Rick hat damit auch kein Problem. Er speichert die Daten in seinem privaten Bereich ab. Es ist immer gut, etwas in der Hinterhand zu haben.
»Ich sehe, dass die Automatik fälschlicherweise ein Hindernis erkannt hat«, sagt er. »Die Pilotin hat ihren Befehl rückgängig gemacht.«
Terran lächelt dankbar. Technisch ist das nicht einmal falsch, auch wenn Maggies Reaktion gar nicht mehr nötig war.
Aber das kann nicht alles sein. Rick wühlt sich durch alle damit verbundenen Daten. Was ist in den Zehntelsekunden vor 3:48 Uhr sonst noch passiert? Dann stößt er auf die Antenne. Sie hat exakt um diese Zeit ein Signal empfangen. Rick prüft ihre Ausrichtung. Der Impuls muss von der Erde eingetroffen sein. Der Inhalt ist allerdings nicht mehr auffindbar. Vermutlich handelte es sich um eine Anweisung, die in ihrer Selbstlöschung endete.
»Maggie«, ruft er quer durch den Raum, »kannst du bei Mission Control fragen, ob sie uns um 3:48 Uhr eine Nachricht geschickt haben?«
»Moment«, antwortet die Pilotin. Da sie sich noch nicht sehr weit von der Erde entfernt haben, sollte die Reaktion in ein paar Sekunden erfolgen.
»Nein«, ruft Maggie. »Mission Control hat uns zu dieser Zeit definitiv nicht kontaktiert.«