Sol 69, Mars-Oberfläche
Vorwärts, vorwärts, vorwärts. Ewa ist heute nur noch zu Trippelschritten fähig. Zwischen ihren Oberschenkeln scheint nur noch rohes Fleisch zu sein. Sie fürchtet sich schon vor dem Anblick, falls sie jemals wieder aus dem Raumanzug steigen sollte. Heute wird es sich entscheiden.
Vor dem Abmarsch hat ihr Zeigefinger eine Bitte in den Sand geschrieben: Sie möge doch möglichst exakt zur Mittagszeit eine Ortsbestimmung vornehmen.
»Warum?«, hat sie laut gefragt.
»Um das Ziel zu treffen«, war die Antwort gewesen.
»Wie erkenne ich es?«
»Ein Transportraumschiff. Es ist so hoch, dass du es von weitem sehen wirst.«
Die Aussage bedeutet gar nichts. Es kann sich immer noch um eine Fiktion ihres Unterbewusstseins handeln. Jeder weiß, dass die Firma, die den Mars kolonisieren will, bereits vorab Vorräte hingeschickt hat. Die Kolonisten sollen möglichst schnell an die Arbeit gehen können. Aber den genauen Landeplatz hat das Unternehmen nicht an die große Glocke gehängt. Der Mars gehört niemandem, jeder darf sich niederlassen, wo sich ein Platz findet. Und es ist wahrlich genug Raum – die Oberfläche des Mars ist größer als die Landfläche der Erde.
Ewa sieht auf die Uhr. Es ist kurz vor Mittag. Sie ist schon seit sieben Stunden unterwegs und hat doch nur 25 Kilometer geschafft, zehn weniger als im Plan vorgesehen. Mit ihren Trippelschritten kommt sie nicht so schnell voran wie sonst. Ein Blick zum Himmel zeigt: Sie hat Glück. Es ist nicht nur relativ klar, es sind auch zufällig die Sonne und beide Monde zu erkennen. Sie trägt ihre ungefähre Position am Himmel in ihr Universalgerät ein, das daraus eine Position errechnet.
Plötzlich zuckt ihr Bein. Ewa ahnt, dass sich ihr Unterbewusstsein bemerkbar macht. Sie setzt sich auf einen Stein und wartet, was passiert. Diesmal ist sie nicht überrascht, als ihr Finger in den Sand taucht. Er schreibt allerdings nicht, sondern zeichnet einen langen Pfeil. Die Richtung, in die die Spitze zeigt, weicht ein wenig von ihrer bisherigen Route ab. Offenbar eine letzte Korrektur. Sie wird sich nicht widersetzen. Ewa steht auf und folgt wortlos der Linie.
Die Sonne steht kurz über dem Horizont. Ewa marschiert schon lange nicht mehr, sie schleppt sich nur noch voran. Diese Quälerei muss bald ein Ende haben, und sie wird ein Ende haben, so oder so. Ihr Schädel dröhnt. Ein intensiver Kopfschmerz hat sie erfasst. Sie würde ihren Kopf gern in die Hände nehmen und wie eine Kartoffel zusammendrücken, das würde ihr Linderung verschaffen. Das verspricht jedenfalls ihr verwirrtes Bewusstsein. Zum Glück ist der Helm im Weg. Ewas Blick ist auf den roten Sand vor ihr gerichtet. Jetzt, kurz vor Sonnenuntergang, wirkt er schon fast schwarz. Die kleinsten Steine werfen lange Schatten. Vielleicht hilft es, wenn sie sich mehr Sauerstoff gönnt? Sie erhöht die Konzentration über ihr Universalgerät und lässt auch den Lüfter ein Drittel schneller rotieren. Kühler Wind bläst ihr uns Gesicht. Herrlich! Sogar der allgegenwärtige Gestank nach Blut und Schweiß wird schwächer. Sie betrachtet die Vorratsanzeige. Beim aktuellen Verbrauch hat sie noch fünf Stunden. Das reicht, und wenn es nicht genügt, dann soll es ihr auch recht sein.
Gleich muss die Sonne untergehen. Ewa sieht nach Westen. Sie will den vielleicht letzten Sonnenuntergang ihres Lebens nicht verpassen. Angeblich kann man sich ja etwas wünschen, wenn die Sonne hinter dem Horizont verschwindet. Aber so weit kommt sie nicht, denn wenige Grad neben der Sonne ragt ein seltsam geformter Berg in die Höhe. Sie bemerkt ihn nur, weil er ein paar Sonnenstrahlen in ihre Richtung reflektiert.
Ewa weiß sofort, was das ist. Die Form der Erhebung ist nicht natürlich. Sie hat gerade das Transportraumschiff gesehen, das ihr Unterbewusstsein ihr versprochen hat, nein, es muss das fremde Objekt in ihrem Kopf gewesen sein. Ewa ist versucht loszurennen. Dort hinten, das ist ihre Rettung. Vorräte, Sauerstoff, Wasser, Nahrung, vermutlich sogar ein Fahrzeug wird sie dort finden.
Aber es ist zu früh. Sie hat zuvor noch eine Aufgabe zu erledigen. Eine Zukunft ohne Kontrolle über das eigene Leben, das kann sie sich nicht vorstellen. Ewa sucht sich einen Stein und setzt sich. Sie stellt den Rucksack neben sich und holt das Tagebuch samt Stift heraus.
»Du hattest Recht, da ist wirklich ein Transportraumschiff«, sagt sie.
Dann schlägt sie das Tagebuch auf. Nun mach schon, denkt sie. Nichts passiert. Endlich nimmt ihre rechte Hand den Stift und beginnt zu schreiben:
»Du hast es geschafft. Die Vorräte warten nur auf dich.«
»Nein«, sagt sie. »Ich werde hier sitzenbleiben und sterben.«
»Willst du nicht leben?«, fragt der Stift auf dem Papier.
»Ich will leben, aber nicht so«, antwortet sie laut.
»Was bedeutet das?«, schreibt ihre Hand.
»Ich will die Kontrolle über mein Bewusstsein«, sagt Ewa.
»Ich werde mich nur einmischen, wenn es nicht anders geht.«
»Das reicht nicht. Ich will die komplette Kontrolle über mich zurück.«
»Das ist technisch unmöglich. Du müsstest dich einer Gehirn-OP unterziehen. Und dazu fehlt hier die Technologie.«
Ewa liest die drei Sätze noch einmal. Darauf gibt es nur eine Antwort.
»Wenn das so ist, bringe ich mich um, dann stirbst du auch.«
Sie greift nach dem Anschluss des Sauerstoffbehälters. Ihre Hand wird langsamer, je näher sie dem Ventil kommt. Sie konzentriert sich mit ganzer Kraft darauf. Plötzlich gibt ihre Hand nach. Sie legt die Finger auf das Ventil und dreht es auf. Die Atemluft entweicht dem Anzug. In drei Minuten ist sie tot.
Ihre Finger greifen wieder nach dem Stift. Neue Worte erscheinen auf dem Papier.
»Warte, es gibt einen Weg.«
»Ist das ein Trick?«, fragt sie.
»Nein. Bitte schließ das Ventil.«
Ewa dreht das Ventil wieder zu.
»Was ist das für ein Weg?«
»Das BCI, über das ich auf dein Gehirn zugreife, arbeitet elektronisch. Du kannst es mit einem elektromagnetischen Impuls stören, vielleicht sogar zerstören.«
»Und mir dabei das Gehirn braten?«
»Nein, deine Nervenzellen halten die nötigen Feldstärken aus.«
»Warum verrätst du mir das?«, fragt sie.
»Weil ich nicht sterben will.«
»Das heißt, du lebst?«
»Ich weiß nicht«, schreibt der Stift. »Ich kann jedenfalls nicht ohne einen Wirt überleben.«
»Das nennt man Parasit«, sagt sie.
»Ich weiß.«
»Der Trick, von dem du sprichst, was brauche ich dazu?«
»Eine der Waffen, die du im Transportschiff findest.«
»Aber du würdest mich doch davon abhalten, dich zu töten?«
»Wenn ich es merke, natürlich. Ich will leben.«
»Wenn du es merkst? Kannst du nicht meine Gedanken lesen?«
»Nein. Deine Gedanken sind mir verschlossen. Ich kann nur die Aktionspotenziale abgreifen und beeinflussen. Ich merke, wenn du etwas tun willst, auch wenn du sprichst, und zwar ein paar Millisekunden, bevor du es tatsächlich tust. Manchmal gelingt es mir dann, die Handlung zu verhindern.«
»Manchmal?«
»Ich habe nur begrenzte Energievorräte. Es hängt davon ab, welcher Teil deines Körpers für die Handlung benötigt wird. Deine Finger zu führen, um etwas zu schreiben, ist einfacher, als deinen ganzen Körper zu etwas zu veranlassen.«
»Wie hast du es geschafft, mich dazu zu bringen, meine Leute zu töten?«
»Wenn dein Bewusstsein schläft, habe ich es leichter. Dann brauche ich nur selbst die richtigen Aktionspotenziale zu erzeugen. Du wehrst dich nicht.«
»Dann darf ich nie wieder schlafen?«
»Du könntest die Impulswaffe so einstellen, dass sie feuert, wenn du im Schlaf plötzlich aufstehst.«
»Das kann ich nicht.«
»Ich werde dir dabei helfen.«
»Warum solltest du das tun?«
»Weil ich nicht sterben will. Ich weiß, dass du sterben willst, wenn du die Kontrolle nicht mehr zurückbekommst. Ich habe die Aktionspotentiale gesehen, als du nach dem Ventil gegriffen hast. Sie waren stark.«
»Und wenn ich aus Versehen schlafwandele? Dann stirbst du durch die Waffe.«
»Ich kann dich vorher wecken. Ich selbst schlafe nie.«
»Ich könnte dich einfach so mit der Waffe beseitigen«, sagt Ewa. »Dann bin ich auf jeden Fall sicher vor dir.«
»Das wäre nicht klug von dir, denn du willst überleben, so wie ich. Und ich kann dir dabei helfen.«
»Ich komme auch allein zurecht. Mit den Vorräten des Schiffs halte ich viele Jahre durch.«
»Ich habe Informationen, die dir helfen könnten.«
»Zum Beispiel?«
»Die Codes, mit denen du in das Transportschiff kommst.«
»Dann töte ich dich, sobald der Weg frei ist«, sagt Ewa hämisch.
»Dafür bist du zu klug. Irgendwann kommt der Besitzer der Vorräte, und er hat für Diebe nicht viel übrig. Du brauchst eine Geheimwaffe wie mich. Stell dir vor, du könntest irgendwann der MfA all diese Vorräte zur Verfügung stellen. Sie würden dich wieder aufnehmen.«
»Das werden sie nicht. Ich habe fünf ihrer Freunde getötet.«
»Die Vorräte wiegen das auf.«
»Du kennst die Menschen nicht gut. Fünf Morde, das wiegt kein Reichtum dieser Welt auf.«
»Dann bitte ich dich«, schreibt der Stift, »dass du mich nicht ebenfalls tötest.«
Das hat gesessen. Sie darf es sich nicht anmerken lassen, sonst hat das Ding sie schon wieder in seiner Hand. Ewa wird nie wieder jemanden töten – und sei es ein fremdes Bewusstsein in ihrem Kopf, das sie zu mehrfachem Mord veranlasst hat.
»Wer bist du überhaupt?«, fragt sie.
»Ich weiß es nicht«, erscheint auf dem Papier.
»Was weißt du denn über dich?«
»Ich kenne nur meinen Auftrag.«
»Und worin besteht der?«
»Ich soll euch überwachen und die Mission scheitern lassen.«
»Du warst nahe dran. Wer hat ihn dir erteilt, und warum?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Kannst du nicht oder willst du nicht?«
»Das weiß ich nicht.«
»Nun gut«, sagt Ewa. »Ich werde dich Freitag nennen. Kennst du die Geschichte von Robinson Crusoe?«
»Nein.«
»Das macht nichts. Du heißt trotzdem Freitag. Und jetzt lass uns losgehen.«
Aus der Nähe wirkt das Schiff überaus beeindruckend, beinahe außerirdisch. Die Santa Maria, mit der sie den Mars erreicht haben, ist im Vergleich dazu ein Kanu, die Endeavour der NASA-Mission ein Ruderboot – und vor ihr steht ein Ozeandampfer, bereit, die unendlichen Weiten des Alls zu durchpflügen. Was das gekostet haben muss! Vor ihrer Abreise war von den Abermilliarden nur gerüchteweise zu hören gewesen. Kritiker hatten darauf bestanden, dass man mit dieser Summe auch so manches Menschheitsproblem hätte lösen können. Aber mit dem jährlichen Verteidigungshaushalt der großen Erdnationen verglichen, war es doch wieder ein bescheidener Betrag gewesen.
Rund um das Schiff ist der Boden ungewöhnlich hart und nur mit einer dünnen Staubschicht bedeckt. Daran muss die Hitze der Triebwerke schuld sein, die das Schiff vor der Landung gebremst haben. Ewa läuft einmal um die Rakete herum, die mit ihrer Finne auf dem Rücken trotz ihrer Größe elegant wirkt. Das komplette, viele Tonnen schwere Schiff ruht auf einem metallischen Landegerüst. Es wirkt überraschend fragil und trägt trotzdem die komplette Last. In der Außenhaut sind Umrisse von Öffnungen zu erkennen, jedoch kein Weg, diese zu öffnen. Vermutlich muss man dazu über Funk mit der Steuerung des Schiffes in Kontakt treten.
Ewa lehnt sich an ein Bein des Landegestells und setzt den Rucksack ab. Dann holt sie erneut das Tagebuch und den Stift heraus. Erst jetzt merkt sie, wie erschöpft sie ist.
»Und nun?«, fragt sie.
»Wir können einfacher kommunizieren«, notiert der Stift.
»Wie?«
»Du sprichst mit mir und wehrst dich nicht, wenn ich durch deinen Mund antworte.«
»Warum hast du das nicht eher gesagt?«
»Du warst noch nicht bereit dafür.«
Ewa klappt das Tagebuch zu.
»Jetzt bin ich bereit«, sagt sie laut.
Trotzdem bekommt sie einen Schreck, als sich ihr Mund plötzlich von allein öffnet. Unwillkürlich hält sie die Hand davor, aber natürlich ist der Helm im Weg.
»Siehst du«, sagt sie.
Ewa atmet tief durch. Es fühlt sich wie das genaue Gegenteil von dem an, was sie eigentlich wollte: die Kontrolle zurückgewinnen. Sie führt Selbstgespräche!
»Ich verstehe«, sagt sie, »es ist wirklich ungewohnt.«
»Am besten«, antwortet ihre eigene Stimme, »du stellst dir vor, dass jemand anders spricht, deine Schwester vielleicht.«
»Du bist Freitag«, sagt Ewa. »Ich werde mir sagen, dass Freitag zu mir spricht. Aber falls uns einmal jemand zuhören sollte, darfst du das nicht.«
»Kein Problem«, antwortet Freitag, »ich merke sofort, wenn du dich wehrst.«
»Gut. Und wie kommen wir nun in das Schiff?«
Ewa hätte sich jetzt gern am Kopf gekratzt. Dann fällt ihr auf, dass sie schon in der Mehrzahl gesprochen hat. Sie muss aufpassen, keine Beziehung zu dem Ding in ihrem Kopf zu entwickeln. Irgendwann wird sie es auslöschen müssen.
»Du hast doch ein Funkgerät«, sagt Freitag.
»Ja.«
Ewa erinnert sich, wie Theo es ihr zum Abschied gegeben hat. Sie hatte ihm absichtlich patzig geantwortet, um es ihm so leicht wie möglich zu machen.
»Es wäre am einfachsten, wenn du mir die Kontrolle überlassen würdest. Du musst dich nur zurückziehen und mich machen lassen.«
»Das kommt gar nicht in Frage«, antwortet Ewa. »Dieser Körper gehört mir. Du erklärst mir, was ich tun muss, und dann setze ich das um.«
Freitag seufzt. »Aber dann beschwer dich nicht, wenn etwas schiefgeht«, sagt er. »Ich dachte, du hättest es besonders eilig?«
»So eilig, dass ich dich freiwillig ans Steuer lasse, habe ich es nie«, sagt Ewa. »Immer, wenn du mich kontrolliert hast, habe ich versucht, jemanden umzubringen.«
»Auf deine Verantwortung. Um die Schleuse von außen zu öffnen, brauchen wir die Authentifizierung des Kommandanten. Aber die haben wir nicht«, erklärt Freitag.
»Na toll. Hast du nicht behauptet, du wärst im Besitz der Zugangscodes?«
»Das war gelogen. Ich wollte überleben, was sollte ich tun?«
»Sterben. Das wäre nur fair gewesen«, sagt Ewa.
»Langsam. Es gibt einen Notfallmodus, mit dessen Hilfe wir ins Schiff gelangen können.«
»Und dafür hast du die Daten?«
»Ja. Hat fast jeder Firmenangestellte.«
»Das klingt nicht sehr sicher«, sagt Ewa.
»Der Notfallmodus lässt uns nicht in die Kommandoebene«, antwortet ihre Stimme.
»Aber wir kommen an die Vorräte?«
»An alles andere.«
»Das ist doch eine gute Nachricht. Was muss ich tun?«
»Du rufst das Schiff auf einer bestimmten Frequenz und forderst Notfall-Autorisierung an.«
»Das ist alles?«
»Ich hoffe.«
»Was soll das heißen?«
»Das ist das Wissen, das zum Start der Santa Maria öffentlich verfügbar war. Ich konnte mich seitdem nicht mehr updaten. Meine Verbindung zur Erde ist komplett abgebrochen.«
Das Ding in ihrem Kopf ist offenbar nicht allmächtig. Das beruhigt Ewa. Es ist genauso auf sich gestellt wie sie alle.
»Dann bleibt wohl nichts anderes, als es zu probieren.«
»Die Frequenz beträgt 155,23 Megahertz.«
»Gut.«
Ewa nimmt das Funkgerät aus dem Rucksack und stellt die Frequenz ein. Sie will die Sprechtaste drücken, da fällt ihr ein, dass sie sich noch gar keinen Text zurechtgelegt hat.
»Was soll ich sagen?«, fragt sie.
»Überlass mir das Gespräch, ich mache das schon«, antwortet Freitag.
»Kommt gar nicht in Frage«, sagt sie.
Sie hält das Funkgerät vor sich. Hoffentlich hat der Akku noch Energie! Theo wird es doch aufgeladen haben? Sie zwingt sich, die Taste zu drücken.
»Notfallmodus«, sagt sie ins Mikrofon, »ich benötige dringend Hilfe, Notfallmodus.«
Es rauscht. Dann meldet sich eine Computerstimme.
»Hier ist die Steuerung des Spaceliner 0. Sie haben den Notfallmodus aktiviert. Identifizieren Sie sich.«
Ewa überlegt kurz. Das Transportschiff, das sie vor sich hat, muss mindestens ein halbes Jahr vor dem Passagierschiff gestartet sein. Damals standen sicher noch keine Passagierlisten bereit.
»Mein Name ist Ewa Kowalska. Ich komme vom Spaceliner 1 und brauche dringend Zugriff auf Sauerstoff.«
»Moment, Ewa Kowalska, ich werde Ihre Zugangsberechtigung prüfen«, antwortet das Schiff.
»Wie?«, fragt sie.
»Ich kontaktiere Spaceliner 1.«
Wenn die Steuerung ihre Drohung wahr macht, wird sie auffliegen. Das muss sie verhindern! Das Schiff ist noch mindestens 15 Lichtminuten entfernt, also dauert die komplette Abfrage eine halbe Stunde.
»Meine Sauerstoffreserven reichen noch 17 Minuten. Ich brauche dringend frische Luft.«
Wenn die Software korrekt programmiert wurde, muss sie bei einer unmittelbaren Bedrohung von Leib und Leben eines Menschen sofort Hilfe leisten. Ob die Programmierer des Konzerns sich an die Richtlinie der UN gehalten haben? Ewa kann es nur hoffen.
»Aktiviere Notfallmodus«, sagt die Steuerung.
Es hat funktioniert! Ewa sieht an dem Turm vor ihr nach oben. Die Fläche, hinter der sich eine Tür zu verbergen schien, ist leicht nach außen geschoben worden. Nun fährt von dort aus eine Leiter nach unten.
»Benötigen Sie Hilfe beim Einstieg?«, fragt die Steuerung. »Ich könnte Ihnen den Nothilfe-Roboter schicken.«
»Danke, die Leiter schaffe ich noch«, antwortet Ewa. Sie setzt den Rucksack wieder auf und beginnt, mit ihren allerletzten Kräften die Leiter zu erklimmen. Es werden die längsten sieben Meter ihres Lebens. Oben angekommen, erkennt sie eine Schleuse. Sie schleppt sich hinein. An der Außenwand befindet sich ein großer, rot pulsierender Knopf. Ewa lacht. Das Innere einer Schleuse sieht doch überall auf der Welt gleich aus. Sie zieht sich an der Wand hoch, bis sie den Knopf erreicht, und drückt ihn. Die Schleusentür fährt zu. Frische Atemluft füllt die Kammer. Ewa verfolgt den Anstieg der Skala auf ihrem Universalgerät. Jetzt reicht es zum Atmen. Sie reißt sich den Helm vom Kopf und atmet begeistert und in vollen Zügen die frische, nach Ozon riechende Luft ein. Sie hat es geschafft! Dann verlässt sie ihre Kraft. Sie lehnt sich an die Wand der Schleusenkammer und schließt die Augen.