Sol 77, Mars-Oberfläche
Ewa richtet sich halb auf, stützt sich mit den Unterarmen auf der Liege ab und betrachtet ihren Körper. Der medizinische Notfall-Assistent hat ihr gerade dabei geholfen, die Verbände abzunehmen, ein Prozess, der dank starker Schmerzmittel weniger anstrengend war als befürchtet. Ihr Körper sieht noch immer sehr geschunden aus, als hätte sie jemand mit ganzer Kraft verprügelt. Dabei hat sie sich all die Wunden im Grunde selbst zugefügt, weil sie nicht aufgeben wollte. Es ist erstaunlich, wozu der Mensch fähig ist.
Das Medizin-Programm ist mit den Heilungs-Fortschritten zufrieden. Die Infektion an Schultern und Oberschenkeln konnte eingedämmt werden. Wo sie nicht verletzt ist, sieht ihre Haut ungesund bleich aus. Um keinen Vitamin-D-Mangel zu riskieren, bräuchte sie eigentlich Bestrahlungen mit UV-Licht, aber davon rät das Medizin-Programm derzeit noch ab. Ewa würde gern mal wieder einen Spaziergang über die Mars-Oberfläche machen, aber auch damit ist die Software nicht einverstanden. Vor allem die Haut an ihren Gelenken braucht noch Schonung, meint sie, und dafür wäre ein Raumanzug denkbar ungeeignet. Mindestens zehn Tage gibt ihr das Programm noch, danach darf – und muss – sie das Schiff verlassen.
Wenigstens gibt es hier einen Fitnessraum. Sie musste ihn zwar erst leer räumen, aber nun kann sie täglich trainieren. Es hat ein bisschen gedauert, bis sie die zu ihren Verletzungen passenden Übungen gefunden hat. Im Vergleich zu den letzten Monaten kommt es ihr hier im Schiff wirklich paradiesisch vor. Doch Ewa muss auch zugeben, dass ihr allmählich langweilig wird. Zum Herumsitzen ist sie einfach nicht gemacht. Sie will ihrem Ziel näherkommen: Sie muss es schaffen, Zugang zur Steuerung zu erhalten. Nur so wird sie in der Lage sein, Bohrer und Radlader aus dem Spaceliner zu entführen.
Aber eins nach dem anderen. Zuerst muss sie sich um Freitag kümmern. Das Ding in ihrem Kopf darf ihr nicht mehr gefährlich werden. Sie braucht die Waffe, die Freitag erwähnt hat.
Ewa setzt sich auf die Liege und lässt die Beine herunterhängen.
»Die Waffe, mit der ich dich in Schach halten kann, welcher Art ist sie und wo finde ich sie?«, fragt sie laut.
»Ich habe von einem Taser gesprochen«, antwortet sie sich selbst. »Damit schießt du Metallpfeile auf dein Opfer und versetzt ihm damit einen Schlag. Als Bordwaffe ist das sehr praktisch, hier mit einer Pistole um sich zu schießen, wäre für die Hülle viel zu gefährlich.«
»Und der Taserschuss ist nicht tödlich?«
»Für dich nicht. Es ist sehr schmerzhaft, du wirst dich in Krämpfen winden, aber du überlebst.«
»Und du, Freitag?«
»Die miniaturisierten Schaltungen, auf denen ich laufe, werden davon geröstet.«
»Dann könnte ich doch auch einfach in eine Steckdose greifen?«
»Dabei läufst du Gefahr zu sterben, und das wollen wir doch nicht«, sagt Freitag durch ihren Mund.
»Ha ha, du hast mich doch oft genug in Gefahr gebracht.«
»Ich wollte immer nur die anderen töten. Das war nun einmal mein Auftrag.«
»Wenn das MfA-Projekt scheitert, sterbe ich auch irgendwann.«
»Ja, das war eine Schwachstelle. Vor diesem Moment habe ich mich immer gefürchtet. Ich besitze einen Überlebensinstinkt.«
»Da habe ich ja Glück. Und wie komme ich nun an den Taser?«
»Die Waffen befinden sich bestimmt in einer der Vorratskisten.«
»Es sind hunderte Kisten an Bord. Soll ich die alle öffnen?«
»Dir wird wohl nichts anderes übrigbleiben.«
»Du weißt also nicht, in welcher? Du hast mir versprochen, dass ich hier eine Waffe finde, mit der ich dich ausschalten kann.«
»Diese Behauptung basierte auf logischer Überlegung. Eine Kolonie benötigt eine Exekutive, die über Mittel verfügt, sich durchzusetzen. Solange die Menschheit hier in Kuppeln leben muss, sind Projektilwaffen für alle Seiten gefährlich, also braucht man etwas wie einen Taser.«
»Und wenn sie einfach Knüppel eingepackt haben?«
»Die wären nicht so effizient. Glaub mir, in einer der Kisten wirst du Taser finden.«
Ewa steht auf und seufzt. Sie versucht, die Zahl der Kisten zu schätzen, die ihr an Bord bereits begegnet sind. Es waren hunderte. Aber sie hat ja sonst nichts zu tun. Wenn sie pro Minute eine Kiste öffnet, wird sie höchstens zwei Tage brauchen. Sie verlässt die Medizinstation. Hier stehen zwar auch Kisten herum, aber wenn irgendeine Logik hinter der Verteilung der Vorräte steckt, und davon geht sie aus, wird sie hier bloß Medikamente und Verbandmittel finden.
Der erste Vorratsraum ist gleich nebenan. Ewa stellt ein paar Kisten zur Seite. Der Raum scheint als eine Art Büro eingerichtet zu sein, jedenfalls kommen hinter den Kisten Schreibtische zum Vorschein, die an Wänden und Fußboden fest montiert sind. Die Bürokratie wird sich auch auf dem Mars breitmachen, das ist sicher. In den Kisten hier findet sie allerdings keine Formulare, sondern Elektronik aller Art. Papier dürfte in der Mars-Kolonie wirklich ausgedient haben, schließlich wachsen in den nächsten zehntausend Jahren im Marsboden garantiert keine Bäume.
Auch der nächste Raum ist wohl eine Art Büro. Der Inhalt der Kisten wechselt aber. Ewa findet vor allem Ersatzteile. Sie kann nicht sagen, wofür, und sie hat auch nicht die Zeit, die an der Innenseite der Kistendeckel vorhandenen Packlisten zu studieren. Wer immer für das Auspacken zuständig ist, wird schon etwas damit anfangen können.
Zwei Räume weiter findet sie erstmals Nahrungsmittel in den Kisten. Es handelt sich um Trockennahrung, die wohl in der ersten Zeit den Grundstock an Kalorien, Eiweiß und Fett bereitstellen soll. Das graubraune Pulver ist in transparenten Säcken verpackt. Ewa vermeidet lieber, sich den Geschmack vorzustellen. Aber wenn man es ordentlich anrührt und mit frischen Gewürzen aufbereitet, muss es gar nicht so furchtbar schmecken.
Allmählich gelingt es Ewa, den voraussichtlichen Inhalt einer Kiste an ihrem Äußeren zu erkennen. Es steckt offenbar System dahinter. Das beschleunigt ihre Arbeit deutlich, denn sie braucht nur noch Vorratskisten ihr bisher unbekannter Gestalt und Farbe zu öffnen. Allerdings muss sie trotzdem Kiste um Kiste beiseite räumen, um Bemalung und Form eines Behälters zu erkennen. Ewa läuft schwitzend in den nächsten Raum. Sie hebt den Arm und riecht an ihrer Achsel. Es ist wirklich Zeit, unter die Dusche zu gehen. Zum Glück ist sie ganz allein im Schiff.
Drei Stunden setzt sie sich ermüdet auf eine Vorratskiste mit Nahrung, die sie gerade geöffnet hat. Sie hat Reiswaffeln darin gefunden – die perfekte Gelegenheit für eine schnelle Mahlzeit. Ewa reißt die Plastik-Verpackung auf und hat plötzlich einen Deckel in der Hand, der aus einem härteren Material besteht. Sie wirft ihn achtlos auf den Boden, doch dann hebt sie ihn wieder auf und betrachtet ihn. Sie erkennt das Logo eines bekannten Nahrungsmittelkonzerns. Ob es das Unternehmen immer noch gibt? Was mag auf der Erde geschehen sein? Vielleicht wissen ja die Menschen mehr, die bald mit dem zweiten Spaceliner-Raumschiff hier landen werden. Ewa seufzt und dreht den Deckel um. Dort ist ein Mindest-Haltbarkeitsdatum aufgedruckt. Welchen Tag haben sie heute? Ewa hat keine Ahnung. Seit der Landung rechnen sie in Mars-Tagen, Sol, aber wie lange ist sie schon auf diesem Planeten?
Ewa beißt in eine Reiswaffel. Sie schmeckt leicht salzig, genau wie sie es mag. Sie muss sich den Geschmack merken. Irgendwann werden alle Reiswaffeln verbraucht sein, falls nicht zufällig Saatgut für den Reisanbau an Bord ist. Ihr Blick fällt erneut auf den Plastikdeckel. Was ihr jetzt wie Abfall erscheint, wird sich in eine gesuchte Ressource verwandeln. Der Mars hält zwar bereit, was sie zur Erzeugung von Plastik brauchen, doch bis entsprechende Reaktoren stehen, werden Jahre vergehen. Es gibt so viel zu tun. Vielleicht kann sie dabei helfen, ein bisschen zumindest. Sie wird den NASA-Leuten helfen, indem sie ihnen den Bohrer aus dem Laderaum dieses Schiffes bringt.
Sie schluckt den letzten Bissen hinunter und steht auf. Dann dreht sie sich um. An der linken Wand sind acht Kisten übereinander gestapelt, die sie noch nicht untersucht hat. Drei davon, das erkennt sie an der Farbe, enthalten Ersatzteile. Die vier unteren müssen mit Nahrung gefüllt sein. Aber die dunkelgrüne, fleckig wirkende Farbe an der letzten Kiste kennt sie noch nicht. Ewa räumt die darüber gelagerten Behältnisse zur Seite. Dann greift sie nach der grünen Kiste. Sie ist schwer. Ewa schafft es geradeso, sie nicht fallen zu lassen. Beinahe hätte sie ihren Fuß erwischt!
Ewa geht in die Knie. Sie öffnet die beiden Verschlüsse vorn, dann das Gegenstück hinten. So kann sie den Deckel abnehmen. Er besteht aus Holz, das innen nicht bearbeitet ist. Es riecht sogar noch ein bisschen nach Wald. Warme Erinnerungen kommen ihn Ewa hoch. Der Holzduft wird allerdings durch den Geruch von Maschinenöl überlagert.
Der Inhalt der Kiste ist in bräunliches Material verpackt, das wie ölgetränktes Papier aussieht. Sie greift hinein und spürt hartes Metall. Werkzeug oder Waffe? Sie reißt das Papier auf. Ha! Sie hält etwas in der Hand, das eindeutig wie eine Waffe aussieht, aber definitiv keine Pistole ist. Das Objekt ist schwarz, die Mündung ist zweigeteilt, rechteckig und gelb. Der Lauf ist unglaublich dick. Es wirkt, als hätte sich die Waffe verschluckt, als wäre etwas in der Mitte steckengeblieben, wo der Lauf die größte Ausdehnung hat.
Ewa wiegt die Waffe in der Hand. Sie ist sehr leicht. Ewa schätzt sie auf 300 Gramm. Was ist mit der Munition? Sie wühlt in der Kiste. Hoffentlich hat man die Munition nicht in irgendeiner anderen Kiste verpackt. Sie stößt auf kleinere Teile und nimmt eines davon heraus. Es ist etwa quaderförmig mit zwei seltsamen Abspreizungen und besitzt einen gelben Plastikdeckel. Ewa vergleicht es mit der Waffe. Der Quader müsste genau in die Mündung passen. Sie dreht ihn so, dass der gelbe Deckel von der Öffnung der Mündung wegzeigt und schiebt das Objekt in den Lauf. Sie hört ein knackendes Geräusch, dann sitzt alles fest. Ewa betrachtet die Waffe. Ob sie jetzt abdrücken kann? Sie entdeckt nichts, was dagegen spricht, der Taser scheint komplett zu sein. Auf dem gelben Deckel ist ein Blitz-Symbol zu erkennen.
Ewa dreht sich um, setzt sich auf den Boden und lehnt sich an die Kisten. Jetzt kann sie Schlussmachen mit dem Ding in ihrem Kopf. Ob Freitag versuchen wird, sie daran zu hindern? Sie hält die Waffe so vor sich, dass sie auf ihre Brust zielt. Es wird schmerzhaft sein, aber sie wird es überleben, das hat Freitag gesagt. Aber er wird sterben. Er wird sie nie wieder dazu bringen können, jemandem wehzutun. Ewa legt den Daumen auf den Abzug und schließt die Augen. Wer hat ihr das angetan?
Und was wird aus ihren Plänen, wenn sie jetzt abdrückt? Wird sie es schaffen, den riesigen Bohrer ohne Hilfe aus dem Schiff zu entführen? Ewa merkt, dass es gar nicht diese Frage ist, die sie zögern lässt. Ohne Freitag wird sie völlig allein sein. Ihre Gruppe hat sie verstoßen. Sie hat die Gesellschaft anderer Menschen nie wirklich gebraucht, aber die komplette Einsamkeit macht ihr trotzdem Angst. Dabei muss sie doch bloß warten, bis der zweite Spaceliner neben dem ersten hier landet.
Aber das darf sie auf keinen Fall. Wie viele Menschen werden an Bord sein? Wird sie nicht wieder versuchen, so viele wie möglich zu töten? Ewa merkt, dass ihre Gedanken sich im Kreis drehen. So kommt sie nicht weiter. Es wäre schön, das Problem Freitag jetzt ein für alle Mal zu lösen. Aber das wäre auch dumm. Das Ding in ihrem Kopf kann ihr vielleicht dabei helfen, ihre Pläne umzusetzen. Und wenn nicht – sie wird den Taser nicht mehr aus den Augen lassen. Wenn das fremde Wesen noch einmal versucht, Macht über sie zu gewinnen, wird sie seine Existenz mit einem schmerzhaften Schock beenden.
Ewa steht auf. Eine zweite Munitionskapsel steckt sie in die Hosentasche. Mehr Munition wird sie nicht brauchen. Die Waffe klemmt sie hinter den Gürtel. Sie muss jetzt anfangen, nach einem Notausgang für den Bohr-Roboter zu suchen.