Sol 81, Mars-Oberfläche
Nach dem Abenteuer gestern haben sie beschlossen, die Nacht an Ort und Stelle zu verbringen. Die Alarmsirenen des Schiffs haben etwa eine halbe Stunde nach der Explosion ihren Lärm eingestellt. Der Sicherheitsroboter hat sich nicht wieder gemeldet. Ewa hat das Bohrfahrzeug und den Radlader technisch durchgecheckt. Die Kabine des Bohrers lässt sich leider nicht reparieren. Doch die des Radladers ist unbeschädigt – und hat exakt dieselbe Größe. Diese Nacht hat Ewa bequem darin verbracht, doch nun wollen sie sie austauschen.
Ewa ist schon mit dem Sonnenaufgang wachgeworden. Aber sie ist nicht sofort aufgestanden, sondern hat über Freitag nachgedacht. Das Ding in ihrem Kopf hat ihr wohl das Leben gerettet, indem es den Roboter unschädlich gemacht hat. Aber es hat dabei auch sein Versprechen gebrochen, nie wieder unaufgefordert die Kontrolle zu übernehmen. Hätte Ewa die Aktion noch abbrechen können? Sie ist nicht sicher. Es wäre aber keine gute Idee gewesen. Ganz nebenbei hat Freitag damit auch erreicht, dass sie nur noch einen Schuss Munition für den Taser hat; die Kapsel, die sie vor vier Tagen aufgesteckt hat, ist durch das Abdrücken verbraucht. Was will Freitag wirklich? Soll sie ihm glauben, dass er einen Überlebensinstinkt hat? Oder geht es am Ende doch nur darum, die ursprüngliche Mission, das komplette Projekt scheitern zu lassen, wieder aufzunehmen?
Und wer sind seine Auftraggeber? Das Ding in ihrem Kopf hatte dazu ein paar seltsame Anmerkungen gemacht, ohne konkreter zu werden. Ewa fühlt sich ein bisschen wie eine ferngesteuerte Bombe, die jederzeit hochgehen kann. Wer hält den Zünder in der Hand? Sie greift nach dem Taser. Er steckt wieder in ihrer Werkzeugtasche. Ist jetzt vielleicht der richtige Moment, Freitag das Leben auszupusten? Sie zielt mit dem Zeigefinger auf ihre Brust und sagt laut »Peng«. Nein, es fühlt sich nicht richtig an. Sie ist sich nicht einmal sicher, ob es sich jemals richtig anfühlen wird. Hat sie nicht jegliches Recht verloren, über das Leben anderer zu entscheiden? Wenn sie doch bloß mehr über Freitag wüsste. Handelt es sich bei ihm denn überhaupt um mehr als um einen ausgereiften Killer-Algorithmus?
Ewa steht von der Liege auf und setzt sich in den Fahrersitz. Die meisten Vorräte befinden sich noch im Bohrfahrzeug. So fällt ihr Frühstück mit Reiswaffeln und Orangensaft aus der Packung eher spartanisch aus. Ein lecker duftender, frisch gebrühter Kaffee, das wäre jetzt etwas!
Sie schlingt die letzte Reiswaffel hinunter und zieht die Sachen von gestern an. Dann ist der Raumanzug an der Reihe. Er duftet nicht mehr ganz so frisch. Der Mensch ist nicht so leicht zu verwöhnen! Gestern hätte sie diesen Anzug wohl noch für unbenutzt gehalten, aber heute stört sie der leichte Geruch schon wieder.
Die Kabine, die sie vor dem Druckverlust schützt, ist innen und außen am Fahrzeug befestigt. Sie besteht aus zwei Teilen, Boden und Dach. Auf der Erde hätte Ewa die Konstruktion mit ihren 180 Kilogramm Gewicht kaum transportieren können, doch hier und mit der Hilfe des in den Anzug eingebauten Exoskeletts dürfte das kein Problem sein. Zunächst muss sie die Verankerung des Daches innen lösen. Die Befestigungen befinden sich unter den Platten der Wandverkleidung, die sie mit einem Schraubenzieher abheben muss. Die Arbeit macht ihr richtig Spaß, weil sie so viel Kraft wie nie zuvor in den Armen hat. Sie hätte mehr als drei Extra-Raumanzüge aus dem Schiff mitgehen lassen sollen!
Fertig! Ewa dreht sich einmal um ihre Achse. Es tut ihr leid, den Radlader hier stehenlassen zu müssen. Was man damit alles anfangen könnte! Und er hat das Gewicht des Bohrers anscheinend problemlos ausgehalten. Dabei hat vermutlich geholfen, dass sich die Masse des Bohrfahrzeugs auf zehn Achsen verteilt hat. Ewa überlegt. Noch einmal wochenlang nur im Raumanzug durchzuhalten, das traut sie sich wirklich nicht zu. Also brauchen sie die Kabine des Radladers, denn die des Bohrers hat ja der Roboter zerstört.
Plötzlich fällt es ihr ein. Ewa schlägt sich mit der Hand vor die Stirn, trifft aber nur den Helm. Gestern nach der Explosion hat sie den Radlader doch auch nicht aus dessen Kabine gesteuert! Sie können das Fahrzeug ja in Fernsteuerung nehmen. Warum hat sie nicht eher daran gedacht? So schlägt sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Lohnt es dann überhaupt noch, die Kabine auszutauschen? Ja, denn anderenfalls müsste sie die im Bohrer untergebrachten Vorräte hierher schleppen. Da ist es wohl einfacher, sie tauschen einfach das Kabinendach aus.
Ewa geht noch einmal zum Fahrersitz und schaltet den Radlader auf Fernsteuerung um. Dann lässt sie den Druck aus der Kabine und öffnet die Luke. Die Dachkonstruktion ist auch von außen befestigt. Sie muss noch acht Klammern lösen, dann kann sie das Kabinendach mit nach drüben zum Bohrer nehmen. Sie klettert um das Fahrerhaus herum. Auch von hier oben sieht die riesige Schaufel beeindruckend aus. Was das MfA-Projekt damit erreichen könnte! Sie hatten ursprünglich vorgehabt, eine sich durch den inneren Luftdruck selbst tragende Kuppel zu errichten. Doch an der riesigen Menge zu bewegenden Erdreichs war die Idee schon im Planungsstadium gescheitert. Ewa löst die letzte Klammer und sieht sich um. Heute ist mehr Staub in der Luft als gestern, aber es ist immer noch hell genug. Sie greift nach der Kabinenabdeckung und ruckelt daran. Die Konstruktion bewegt sich. Ewa spürt, wie ihr die künstlichen Muskeln im Arm helfen. Es fühlt sich an, als würde ihr ein großes Bruder von hinten unter die Arme greifen. Oder Theo. Sie merkt, dass sie ihn vermisst. Gerade deshalb war sie froh gewesen, als er sich Rebecca angenähert hatte. Sie ist eine Gefahr für jeden, so lange das Ding noch in ihrem Kopf steckt. Hätte sie das doch bloß früher gewusst!
Vorsichtig setzt sie das Kabinendach auf der Schaufel ab. Sie hält es mit einer Hand im Gleichgewicht, während sie vom Fahrzeug auf den Boden steigt. Dann greift sie wieder mit beiden Händen zu und trägt die Konstruktion die etwa zehn Meter zum Bohrfahrzeug. Trotz der Motor-Unterstützung im Anzug kommt sie ins Schwitzen. Wie lange wird das Exoskelett wohl durchhalten? Sie hätte wohl doch mal das Handbuch des Raumanzugs konsultieren sollen.
»Wo stelle ich das Ding jetzt am besten ab?«
Jetzt fängt sie auch noch an, Selbstgespräche zu führen. Seit sie weiß, dass Freitag in ihrem Kopf sitzt, hat sie sich zwar nicht mehr richtig allein gefühlt. Aber sie würde trotzdem gern einmal wieder einen richtigen Menschen sehen. Nein, merkt sie, ihr fehlt vor allem eines: Sie würde gern umarmt werden, ganz unschuldig, wie ein kleines Kind von der Wärme eines anderen Menschen umfangen werden. Was ist denn mit ihr los? Wird sie jetzt auch noch sentimental?
Sie stellt das Dach des Radladers auf dem Boden ab. Bevor sie es montieren kann, muss sie erst die beschädigte Kabine entfernen. Sie klettert über die Leiter auf das Bohrfahrzeug. Es war wirklich sehr schlau von den Ingenieuren, mit einem Baukastensystem zu arbeiten. Von oben fällt ihr Blick auf die Radpaare. Sie sehen aus, als könnte man auch sie mit denen des Radladers tauschen.
Zehn Minuten später schiebt sie das beschädigte Dach auf der anderen Seite des Fahrzeugs nach unten. Sie erwartet unwillkürlich ein splitterndes Geräusch, doch dann fällt ihr ein, dass die Atmosphäre ja viel zu dünn ist. Sie klettert nach unten und holt das neue Dach. Es passt perfekt. Sie braucht es nur noch außen und innen zu befestigen.
Dann kann es endlich losgehen. Ewa schließt die Luke hinter sich und lässt die Lebenserhaltung Atemluft in die Kabine blasen. Als der Anzug ihr genügend Druck signalisiert, öffnet sie den Helm. Die frische Luft riecht, als wäre gerade ein Gewitterguss niedergegangen. Regen – das wird sie nie wieder erleben. Aber den belebenden Duft eines Gewitters hat sie noch nicht vergessen.
Sie gibt die ungefähren Koordinaten der NASA-Siedlung in den Bordcomputer ein. Die exakte Position kennt sie nicht, aber wenn sie nah genug ist, wird sie die Station per Funk anpeilen. Ewa fürchtet sich vor der Begegnung. Sie hat zwar keinen der NASA-Astronauten auf dem Gewissen, aber auf ihren Befehl hin haben sie ihnen immerhin ihr Raumschiff entführt, die Endeavour. Ob MfA und NASA-Basis inzwischen wieder zusammenarbeiten? Ewa hofft, dass ihr Opfer dabei geholfen hat.
Der Bordcomputer gibt eine erste Prognose aus. 21 Sol, also Marstage, wird sie für die Strecke brauchen. Ihre letzte Unsicherheit schwindet, als der Rechner die Reichweite aller Ressourcen aufführt. Freitag hatte zwar behauptet, dass das Bohrfahrzeug die Strecke leicht durchhalten würde, aber der Bordcomputer verrät es nun ganz exakt. Sie hat genug Energie für die doppelte Strecke und genug Atemluft für sechzig Tage. Wasser erzeugt der mit Methan betriebene Motor dauernd selbst. Ewa hat schon gehört, dass die hinter dem Spaceliner-Projekt stehende Firma komplett auf Methan setzt, weil es sich aus der Mars-Atmosphäre gewinnen lässt.
Ewa dreht sich noch einmal um. Der Spaceliner hinter ihr wirkt zwar mit seiner Finne, der kleinen Rückenflosse, noch immer elegant, aber im unteren Bereich klafft jetzt ein rechteckiges, dunkles Loch. Es wirkt, als habe ein riesiger Chirurg dort ein wichtiges Organ entnommen. Was werden wohl die Besitzer des Schiffes dazu sagen? Ewa schüttelt den Kopf. Noch sind sie nicht da. Es ist ja nichts so richtig kaputtgegangen. Der Hangar lässt sich wieder zuschweißen, der Roboter hat bloß einen Kurzschluss, und die beiden Fahrzeuge leiht sie sich nur für ein paar Wochen aus, um sie einem guten Zweck zuzuführen. Warum sollen sie im Schiff herumstehen, wenn jemand sie gerade gut gebrauchen kann?
Sie aktiviert die Fernsteuerung des Radladers. Er wird ihnen ab sofort mit fünfzig Metern Abstand folgen. Dann gibt sie der Steuerung des Bohrers das Signal zur Abfahrt. Der riesige Truck setzt sich vorsichtig in Bewegung. Er umrundet den Spaceliner halb, dann richtet er die Nase gen Süden, wo gerade die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat. Ihr fahles Licht fällt sanft auf den mit kleinen Felsbrocken gesprenkelten Marsboden. Ewa lehnt sich zurück und legt den Kopf auf ihre dahinter gefalteten Arme.