Sol 96, Mars-Oberfläche
Eigentlich hatte Ewa gehofft, an Sol 101, dem hundertsten Marstag nach der Landung des NASA-Raumschiffs, ihr Ziel zu erreichen – mit zwei großen, wirklich nützlichen Geschenken. Aber daraus wird wohl nichts, denn seit heute Morgen hat sich der Untergrund verändert. Normalerweise ist der Marsboden zwar von einer dünnen Staubschicht bedeckt, doch nach wenigen Zentimetern trifft man auf hartes Gestein. Nun durchqueren sie aber eine Landschaft, die an eine Sandwüste auf der Erde erinnert. Um den Bohrer macht sich Ewa dabei kaum Sorgen. Er verteilt sein enormes Gewicht auf zehn Achsen, die einzeln angetrieben werden. So ein Gefährt gräbt sich nicht ein. Aber der Radlader wäre am Rand einer Düne bereits beinahe umgekippt. Die Fernsteuerung funktioniert ziemlich primitiv; sie arbeitet wie eine Hundeleine. Hier wäre es aber wichtig, dass der Radlader sich selbst den optimalen Weg sucht, und dazu ist das Programm nicht in der Lage.
Es gibt dafür nur eine Lösung: Ewa muss selbst ans Steuer. Sie muss dann eben den Bohrer fernsteuern. Der Radlader besitzt keine Kabine mehr, also muss sie sich im Raumanzug auf den Fahrersitz begeben. Ewa betätigt den Stop-Knopf auf der Steuerkonsole des Bohrers. Das Fahrzeug hält sofort an. Den Raumanzug trägt sie bereits, also braucht sie nur noch den Helm zu schließen. Doch zuerst wischt sie sich noch einmal den Schweiß von der Stirn, den wohl der Sport zuvor produziert hat. Wer weiß, wann sie dazu wieder in der Lage sein wird! Die beiden gestohlenen Fahrzeuge besitzen leider kein aktuelles Kartenmaterial des Mars, sonst hätte sie diese Wüste umfahren können. Ewa hofft, dass sie sich wenigstens nicht mehr als eine Tagesreise gen Süden ausdehnt.
Sie schließt den Helm. Nachdem die Luft aus der Kabine gepumpt ist, verlässt sie ihre Unterkunft durch die Luke. Sie klettert an der Leiter nach unten. Den letzten Meter springt sie – und landet im weichen Sand. Das wird anstrengend, denkt sie. Bei jedem Schritt versinken ihre Stiefel. Die kraftverstärkten Gelenke des Anzugs sind auf diese Bewegung nicht eingerichtet. Zum ersten Mal wünscht sie sich ihren alten Raumanzug zurück – einfach weil der größere Sohlen besitzt, die ihr Gewicht besser verteilen. Bis zum Radlader sind es zwar nur hundert Meter, aber sie muss eine steile Düne hinaufklettern. Kann sie sich nicht irgendwie behelfen? In ihrer Heimat ist sie in den Bergen im Winter mit Schneeschuhen gewandert. So etwas bräuchte sie. Ewa läuft an den Vorratsbehältern des Bohrers vorbei. Hat sie etwas eingepackt, das als Schneeschuh dienen könnte? Ihr Blick fällt auf eine Holzkiste. Sie enthält allerlei Ersatzteile, denen die Mars-Atmosphäre sicher nichts ausmacht. Also könnte sie vielleicht den Deckel umfunktionieren? Ewa überlegt nicht lange. Die Kiste besitzt an allen Seiten Spannverschlüsse. Sie braucht sie nur zu öffnen, und schon hält sie den Deckel in der Hand. Damit die Kiste ihren Inhalt nicht verliert, klebt sie ein paar Streifen Panzertape darüber. Sie hat schon befürchtet, dass das Klebeband noch zu einen der wichtigsten Ressourcen hier werden würde. Wenn sie überleben wollen, brauchen sie unbedingt eine Panzertape-Fabrik! Denn sie benötigt den Universal-Rohstoff auch, um sich den Deckel unter die Füße zu kleben. Dazu muss sie ihn lediglich in der Mitte auseinanderbrechen. Gut, dass sie durch den Anzug so viel Kraft in den Armen hat!
Fünf Minuten später sinkt sie nicht mehr in den Sand. Dafür steht sie nun etwas breitbeinig da. Sie hätte die Deckelhälften etwas schmaler brechen sollen. Aber es geht ja nur um ein paar Meter. Ewa dreht sich um und sieht die Düne hinauf. Sie beschließt, den Sandhügel nicht direkt anzugehen, sondern in Serpentinen. Die Technik funktioniert. Es rieselt zwar von der Seite her jede Menge Sand auf ihre improvisierten Schneeschuhe, aber sie braucht deutlich weniger Kraft als mit den bloßen Anzugstiefeln.
Dann erreicht sie den Kamm der Düne. Zielsicher hat sie sich die höchste Düne im ganzen Umkreis ausgesucht. Wie schafft sie das bloß? Ewa sieht sich um. Von hier oben reicht der Blick weit in die Ferne. Die Sandwüste zieht sich bis zum Horizont, aber das sagt nicht viel; wenn sie sich nicht allzu ungeschickt anstellt, werden sie den Horizont heute noch erreichen. Der Radlader steht vielleicht fünf Meter neben ihr. Er hat es nicht ganz bis auf den Kamm der Düne geschafft. Es wird nicht einfach werden, das sieht sie von hier aus. Vor allem die südlichen Hänge der Dünen sind steil. Immer wieder wird der rötliche Sand von dunklen Streifen durchbrochen. Was mag das sein, etwa Kohlendioxideis? Wenn ja, muss sie aufpassen, denn dann könnte es dort auch Höhlen geben, in die das Fahrzeug einbrechen könnte. Am besten, sie umfährt die dunklen Stellen. Ewa beschließt, den Bohrer die Vorhut bilden zu lassen. Über seine Kameras kann sie vom Radlader aus gefährliche Hindernisse erkennen. Durch seine Länge dürfte der Bohrer kaum Gefahr laufen, in eine Höhle einzubrechen.
Ewa balanciert sich aus. Die Spitzen der beiden Bretter an ihren Füßen zeigen nach oben. Auf der Erde ist sie eine gute Skifahrerin gewesen. Die Chance lockt sie. Soll sich Sand nicht ähnlich wie Schnee für eine Abfahrt eignen? Irgendwo hat sie mal gelesen, dass Sand mit nassem Tiefschnee vergleichbar sein soll. Aber wenn sie sich jetzt hier vergnügt, müssen die NASA-Leute noch länger auf ihre Ankunft warten. Nein, das ist unwichtig, denkt sie, niemand wartet auf sie. Sie weiß nicht einmal, ob sie überhaupt willkommen ist. Sie sollte sich den einmaligen Spaß nicht nehmen lassen.
Ewa schließt die Augen, um sich zu konzentrieren. Dann gibt sie sich einen winzigen Schubs. Er genügt, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie lehnt sich leicht nach hinten, damit sich die Spitzen ihrer Ski nicht im Sand vergraben. Und dann geht es abwärts. Das Material, auf dem sie fährt, ist nicht dafür gemacht. Sie versucht es erst gar nicht mit Schwüngen, sie lässt sich einfach von der Schwerkraft abwärts treiben. Sand spritzt ihr auf den Helm. Es ist großartig. Ewa atmet schwer, als sie wenige Sekunden später am Fuß der Düne ankommt. Sie hat die rasante Fahrt sogar ohne Sturz überstanden.
Das gelungene Manöver macht ihr Lust, es noch einmal zu versuchen. Doch diesmal gewinnt ihr Pflichtgefühl. Sie hat es geschafft, sie wird als erste Skifahrerin auf dem Mars in die Geschichtsbücher eingehen. Bücher, die erst noch geschrieben werden müssen, ermahnt sie sich. Bücher, die erst geschrieben werden, wenn die Menschheit die ersten Jahre im Exil überlebt hat.
In der ehemaligen Kabine des Radladers braucht sie erst einmal Schaufel und Besen, um die Staubmengen von Bord zu schaffen. Dann setzt sie sich auf den Fahrersitz und kontrolliert über die Konsole den Status aller Geräte. Es werden keinerlei Defekte gemeldet. Über die Lebenserhaltung wird sie sogar die Atemluft-, Energie- und Nahrungsvorräte ihres Anzugs ergänzen können. Aber solange sie den Radlader selbst steuern muss, wird sie nur durch das Nahrungs-Röhrchen essen und nicht auf die Toilette gehen können. Ewa schüttelt sich. Es ist noch nicht lange her, dass sie diese Quälerei überstehen musste. Hoffentlich ist die Wüste nicht so groß!
Am besten sie wartet nicht lange. Ewa startet über die Konsole den Motor. Dann zieht sie die Steuerhebel zu sich heran. Der Radlader fährt sich so ähnlich wie ein Raumschiff. Wahrscheinlich sind die Konstrukteure davon ausgegangen, dass die Astronauten bessere Piloten als Rennfahrer sind. Mit dem rechten Hebel beschleunigt und bremst sie die rechten Räder, mit links bedient sie die linke Seite. Die Automatik sorgt normalerweise dafür, dass die Räder, wenn nötig, einschlagen, aber sie kann die Befehle der Automatik auch außer Kraft setzen. Ewa hofft, dass das nicht nötig sein wird.
Zunächst lässt sie das Fahrzeug rückwärts rollen. Die Automatik hatte versucht, es die Düne zu steil hinauffahren zu lassen. Die Software kennt zwar die Leistungsdaten der Motoren, aber für den weichen Untergrund ist sie offenbar nicht programmiert. Ewa geht den Anstieg lieber etwas sanfter an. Diese Flanke der Düne ist nicht so steil, dass der Radlader kippen könnte. Aber als er sich schräg stellt, wird ihr trotzdem heiß und kalt. Die Software beruhigt sie, indem sie den Status ihres Fahrzeugs in freundlichem Grün zeigt.
Auf dem Kamm der Düne muss Ewa ihre Strategie ändern. Die südliche Seite ist weitaus steiler. Sie in Serpentinen hinunterzufahren, wäre Selbstmord. Sie muss den Berg also so nach unten fahren, wie sie es auch mit ihren Ski getan hat: die Nase nach vorn, und dann in rasender Fahrt dem Abgrund entgegen. Ewa muss sich hinstellen, um aus ihrer Position das Ziel zu erkennen. Kein Hindernis ist zu sehen. Sie rechnet es kurz durch; von der Marsgravitation, der Höhe und dem Gewicht des Radladers ausgehend, der sich in den Sand eingräbt und dadurch gebremst wird, kommt sie auf eine Endgeschwindigkeit, die die Technik durchaus verkraften müsste. Also kein Grund zur Sorge! Sie gibt vorsichtig Gas, und dann kann sie erst einmal nicht mehr eingreifen. Sie kann erst wieder bremsen, wenn der Radlader zu Füßen der Düne angekommen ist. Der Sand spritzt noch stärker als vorhin bei ihrer Skiabfahrt. Sie wird durchgeschüttelt und muss aufpassen, nicht aus der offenen Kabine geschleudert zu werden, doch dann kommt sie wirklich und wahrhaftig unten an. Ewa ist froh, auch wenn sie weiß, dass sie dieses Manöver vielleicht noch einige Male wiederholen muss. Würde es sich nicht vielleicht lohnen, der Automatik diese Strategie einzuprogrammieren? Nein, denkt Ewa, dafür macht mir dieser Teil der Reise doch viel zu viel Spaß. Sie sieht nach draußen. Der Bohrer hat den Abstieg ohne Probleme geschafft.
Wieder steht Ewa mit dem Radlader auf dem Kamm einer Düne. Ihre Arm- und Beinmuskeln schmerzen. Immer, wenn es steil bergab geht, muss sie sich mit aller Kraft festhalten und gegen die Wand stemmen, um nicht aus dem Fahrzeug geschleudert zu werden. Warum hat denn keiner der Konstrukteure an Sicherheitsgurte gedacht? Weil der Radlader normalerweise sehr langsam unterwegs ist, beantwortet sie die Frage selbst. Zwischendurch hat Ewa sogar versucht, sich selbst mit Panzerband am Sitz festzumachen, aber das hatte ihre Sicht inakzeptabel eingeschränkt.
Aber es besteht Hoffnung. Schon vor einer halben Stunde hat sie entdeckt, dass die Wüste ein Einsehen mit ihr hat. Heute hat sie nur ein Drittel der üblichen Strecke zurückgelegt, aber morgen wird sie wieder Gas geben können. Vor allem wird sie in vielleicht drei, vier Stunden in die klimatisierte Kabine des Bohrers umsteigen können. Die rasanten Abfahrten machen überhaupt keinen Spaß mehr, wenn man sich mit voller Windel gegen den Fahrersitz drückt und dabei bemerkt, wie sich die Exkremente allmählich über den ganzen unteren Rücken verteilen. Raumfahrt ist wirklich ein Scheiß-Job, warum hat ihr das denn niemand gesagt? Aber hätte sie es denn hören wollen?