Sol 100, NASA-Basis
Lance drückt auf den Umschaltknopf. Der Bildschirm flackert, dann taucht das Gesicht einer jungen Frau auf. Er erkennt Ellen Blake, die seit der Absetzung der Verräterin die wichtigste Rolle in der MfA-Basis zu spielen scheint. So ganz sicher ist er da nicht, die Organisationsstrukturen bei »Mars für Alle« hat er noch nicht ganz verstanden. Es ist wohl so eine Art Basisdemokratie, aber faktisch gibt es dann wohl doch immer jemanden, der die Rolle des Kommandeurs ausfüllt. Seit der Landung war es Ewa, nun ist offenbar Ellen an der Reihe.
»Hallo Ellen«, sagt Lance und zieht ein dünnes Kabel vom Bildschirm zu den Lautsprechern.
»Guten Morgen«, antwortet sie. »Bist du das, Lance?«
»Entschuldige.«
Er macht einen Sprung nach rechts, um im Blickfeld der Kamera zu erscheinen, und winkt.
»Hab hier noch ein bisschen mit den Vorbereitungen zu tun«, sagt er.
»Aber um drei geht's los?«
»Ja, daran hat sich nichts geändert. Mike steht schon seit heute Morgen in der Küche. Er hat uns ein Festmahl versprochen.«
»Wir haben gleich drei Köchinnen«, sagt Ellen, »aber es sind ja auch ein paar hungrige Mäuler mehr zu stopfen.«
Lance nickt. In der Basis der MfA-Initiative wohnen vierzehn Menschen, während sie hier nur zu viert sind. Und in ein paar Monaten zu fünft. Er beißt sich auf die Unterlippe. Hoffentlich geht alles gut mit Sarahs Baby! Die Mutter scheint nicht die Absicht zu haben, sich irgendwie zu schonen. Eine Schwangerschaft sei doch keine Krankheit, sagt Sarah. Und so ist sie gerade gemeinsam mit Sharon auf der Mars-Oberfläche unterwegs, um die Station von außen zu überprüfen.
»Irgendwelche Sorgen?«, fragt Ellen. »Du siehst so nachdenklich aus.«
Sieht man ihm das wirklich so sehr an? Lance zieht eine Grimasse. Heute wollen sie den hundertsten Tag ihrer Ankunft auf dem Mars feiern, da sollte er wirklich weniger grübeln. Hundert Sol, gut drei Erdmonate. Er kann kaum fassen, dass so wenig Zeit vergangen sein soll. Ihm kommt es vor, als würden sie bereits den Jahrestag feiern. Jahr 1 der neuen Zeitrechnung. Irgendwann werden die Menschen auf dem Mars vielleicht beim Jahr 1000 ankommen und des legendären Quartetts gedenken, das die neue Zivilisation begründet hat. Lance lächelt und schüttelt den Kopf.
»Nein, keine Sorgen«, sagt er, »nur ein bisschen Grübelei. Glaubst du, dass wir irgendwann wieder Kontakt zur Erde herstellen können?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet Ellen. »Wir haben ja nicht einmal eine Idee, was dort passiert sein könnte. Aber wir sollten in der Lage sein, es noch zu unseren Lebzeiten herauszufinden.«
»Indem wir nachsehen, meinst du?«, fragt Lance.
»Ja, dieses Spaceliner-Raumschiff. Wenn ich die Technologie richtig verstanden habe, können sie es mit auf dem Mars produzierten Methan auftanken und zurückfliegen.«
»Die Frage ist, ob sie das wollen.«
»Das werden wir sehen«, sagt Ellen, »in etwa 70 Sol landen sie ja.«
»Nach allem, was ich über diesen Rick Summers gehört habe, weiß ich nicht, ob ich mich darüber freuen soll.«
»Nun reicht es aber mit der Schwarzseherei«, sagt Ellen. »Heute ist schließlich ein Feiertag. Ich wollte eigentlich nur nachfragen, ob es bei 15 Uhr bleibt.«
»Ja, wir sehen uns um drei. Bis dahin habe ich auch bessere Laune, versprochen.«
Die MfA-Astronautin bricht die Verbindung ab. Lance verbindet endlich das Kabel mit dem Lautsprecher. Dann sieht er sich um. Den Besprechungsraum in den Partymodus zu versetzen, wird ihn noch etwas Schweiß kosten.
»Für mich bitte nur Wasser«, sagt Sarah.
Eigentlich hätte er das ja wissen können. Lance greift zur Wasserkaraffe und schenkt der Mutter seines Kindes kühles Wasser ein. Dann geht er weiter um den Tisch herum und gießt Sekt in die anderen drei Gläser. Sarah und Sharon sitzen schon. Auf dem großen Bildschirm sieht er die MfA-Crew, die sich gerade weit von ihnen entfernt an einem Buffet bedient. Er kennt nicht alle Gesichter. Ellen ist da, außerdem bemerkt er Theo, den Deutschen, und Andy, den Programmierer, den die in die Marswüste verbannte ehemalige Kommandantin Ewa Kowalska beinahe umgebracht hätte.
Lance setzt sich und winkt in die Kamera. Wann kommt denn Mike endlich mit dem Essen? Sein Magen knurrt schon. Nachmittags um drei Uhr, das ist nicht seine übliche Essenszeit. Mike, der offiziell auch Anführer ihrer kleinen Gruppe ist, hat ihnen strikt verboten, ihm beim Kochen zuzusehen oder gar zu helfen. Lance schiebt sein Besteck zur Seite. Auf dem Tisch befindet sich eine weiße Decke. Teller und Gläser sind Standard-Kantinen-Modelle, niemand hat daran gedacht, ihnen edles Geschirr mit auf die Reise zu geben. Unter normalen Umständen würden sie jetzt vielleicht Bergfest feiern und sich auf die Rückkehr zu ihren Liebsten auf der Erde freuen.
Aber das ist vorbei. Für Lance nicht nur, weil ihr Heimatplanet sich nicht mehr meldet. Er könnte auf keinen Fall mehr in sein altes Leben zurück, in dem er seine langjährige Freundin hatte heiraten wollen, denn nun hat er sich in Sarah verliebt und wird Vater. Er kann es immer noch nicht richtig fassen. Er freut sich, ja, aber die Verantwortung macht ihm auch Angst.
Lance spürt einen Luftzug. Die Tür zum Nebenraum hat sich geöffnet. Mike kommt herein. Er trägt einen großen Topf und sieht überaus stolz aus. Mit großer Geste stellt er den Topf auf dem Untersetzer ab, den Lance in die Mitte des Tisches platziert hat. Dann hebt Mike den Deckel des Topfes hoch. Wasserdampf kommt heraus und erfüllt die Luft mit einem appetitlichen Duft, der Lance’ Magen noch stärker knurren lässt.
»Eine vegetarische Lasagne nach Art der Familie«, kündigt Mike feierlich an. Er ist zwar geborener Amerikaner, aber sein Familienname Benedetti verrät, dass irgendwelche Vorfahren aus Italien in die USA gekommen sein müssen.
Mike zieht einen großen Löffel aus seiner hinteren Hosentasche, nimmt sich Sarahs Teller und tut ihr auf.
»Mit frischen Tomaten aus eigener Ernte«, sagt er laut.
Die Lasagne riecht wirklich gut. Sie dampft auch noch auf Sarahs Teller.
»Moment«, sagt Mike plötzlich, dreht sich um und rennt davon. Eine Minute später ist er mit einer kleinen Dose zurück. Er öffnet den Deckel und greift hinein. Dann verstreut er etwas vom Inhalt über Sarahs Teller.
»Selbst gezogene Basilikumblätter«, sagt er, »die Pflanze könnt ihr im Garten bewundern.«
Lance muss sich zügeln, nicht sofort mit dem Essen zu beginnen, nachdem auch Mike seinen Teller gefüllt hat. Dem Commander gebührt schließlich der erste Toast.
Mike setzt sich und hebt sein Glas.
»Auf unser Jubiläum«, sagt er.
Zum Glück macht er es kurz und schmerzlos, denkt Lance. Da meldet sich Ellen über den Bildschirm. Lance legt Messer und Gabel wieder hin. Gibt es jetzt etwa doch noch eine Rede? Das Essen wird kalt!
»Ich freue mich, dass wir so gut zusammenarbeiten«, sagt sie. »Trotz dieser unerfreulichen Episode am Anfang.«
»Es war nicht euer Fehler, und ihr habt selbst am meisten darunter gelitten«, antwortet Mike.
Lance merkt, dass sein Kommandant mehr als nur professionelles Interesse an Ellen hat. Wenn sogar er es merkt, muss es allen klar sein. Deshalb widerspricht er nicht. Immerhin hätten die beiden MfA-Typen, die sie bei der NASA-Sonde überrascht haben, sie dort beinahe umgebracht. Es war nun wirklich nicht allein die Schuld von Ewa Kowalska, dass zunächst nicht alles reibungslos lief.
»Aber bevor hier noch jemand verhungert«, Mike sieht zu Lance, »lasst es euch schmecken.«
Endlich. Lance braucht keine weitere Aufforderung, um sich ganz dieser leckeren Lasagne zu widmen, die Mike wirklich hervorragend hinbekommen hat.
»Der Käse«, fragt Sharon, »ist das noch Erdware?«
»Ja«, antwortet Mike, »es ist echter Parmesan von der Erde. Ich dachte, zum Hundertsten erspare ich uns mal diesen Käseersatz aus Eiweiß und Fett.«
»Dann sollten wir uns den Geschmack gut merken«, sagt Sharon.
»Ich fürchte ja. Wenn der MfA ihre Haustiere nicht wegsterben, wird es zwar irgendwann wieder echten Schafs- und Ziegenkäse geben, aber alles, was aus Kuhmilch hergestellt wird, wird aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschheit verschwinden.«
Wenn es bloß der Käse wäre, denkt Lance. Er wird auch nie wieder ein saftiges Steak essen können! Dabei fielen auf dem Mars all die Klimaschutzgründe gegen die Rinderzucht weg – das Methan, das die Tiere abgeben, würde sogar dabei helfen, den Mars bewohnbar zu machen. Aber am besten konzentriert er sich auf die Lasagne vor ihm. Seine Fantasie geht sonst wieder mal mit ihm durch.
Nachdem sie die Mahlzeit beendet und das Geschirr abgeräumt haben, beginnt offiziell die Party. Auch wenn die MfA-Crew über den Bildschirm zugeschaltet ist, fühlt es sich doch etwas seltsam an. Schließlich sind sie nur zu viert. Mike legt Musik auf. Lance kennt höchstens die Hälfte der Stücke. Das meiste scheint ihm aus den 2020ern zu kommen. Da muss Mike gerade in der Schule gewesen sein. Lance tanzt erst mit Sarah, dann mit Sharon, und schließlich wieder mit Sarah, wobei er sich mit Mike abwechselt. Irgendwann sitzt er mit seinem Kollegen auf den Stühlen am Rand, während die beiden Frauen sich unermüdlich im Takt der Musik bewegen.
»Du hast nicht zufällig ein bisschen Gras mitgenommen?«, fragt er Mike.
Seit weiche Drogen in vielen Bundesstaaten legal sind, hat Lance ab und zu mal etwas geraucht. Das entspannt ihn so schön. Dass er Vater wird, liegt ihm doch mehr im Magen, als er vermutet hätte.
Mike schüttelt den Kopf. »Wo denkst du hin! Viel zu gefährlich. Wenn sie mich geschnappt hätten, säße mein Ersatzmann hier.«
»Wie hieß er gleich? Andrew? Ich habe dich von Anfang an lieber gemocht.«
Lance erinnert sich nur noch vage an das Training. Andrew war ein schlaksiger, rothaariger Ire. Aus irgendeinem Grund war er ihm unsympathisch gewesen, doch er kann sich nicht mehr erinnern, warum.
»Was wohl aus ihm geworden ist?«, fragt Mike.
»Vielleicht sitzt er gerade mit seiner Frau auf der Terrasse und trinkt leckeren Rotwein«, meint Lance.
»Glaubst du? Und der Kommunikationsabbruch?«
»War nur so ein Gedanke. Wäre doch schön für ihn! Ich habe gerade keine Lust, mich mit Katastrophen-Szenarien zu befassen.«
»Verstehe«, sagt Mike und streckt die Beine aus.
Für eine Weile sitzen sie einfach nur da und sehen den beiden Frauen zu. Vor allem Sharon ist ein echtes Bewegungstalent; das muss ihr brasilianisches Blut sein. Über den Bildschirm winkt manchmal jemand von der MfA-Basis herüber.
»Was hältst du denn von den Chinesen?«, fragt Mike plötzlich.
Lance ist leicht genervt. Könnten sie solche Themen nicht auf morgen verschieben?
»Keine Ahnung«, antwortet er.
»Ich erinnere mich, dass China eine Marsmission geplant hatte, die aus Prestigegründen noch vor uns hier hätte ankommen sollen«, sagt Mike. »Aber dann gab es Verzögerungen, und als wir gelandet waren, hat man die Mission offiziell abgesagt.«
»Ich weiß, aber trotzdem sind sie nun unterwegs«, sagt Lance.
»Und zwar mit einer Besatzung aus sechs statt vier Menschen. Als hätten sich noch zwei in letzter Minute auf das Schiff gerettet«, ergänzt Mike.
»Du meinst, vor der Katastrophe auf der Erde gerettet? Zu dumm, dass sie sich nicht mehr melden, sie hätten uns berichten können, was passiert ist.«
»Vielleicht ist es ja besser so«, sagt Mike.
Lance nickt. Manchmal ist es wirklich besser, nicht zu viel zu wissen, denkt er.