Sol 103, NASA-Basis
Um sie herum breitet sich Dunkelheit aus. Nur vom östlichen Horizont scheint fahles Licht. Ewa hat die Augen halb geschlossen. Sie will den Moment nicht verpassen, wenn die Sonne ihren ersten Strahl über die Berge im Osten schickt. Die Nacht war sternenklar gewesen. Ewa hatte auf Sternschnuppen gehofft, bis ihr eingefallen war, dass mangels Atmosphäre auf den Mars fallende Meteoriten nicht verglühen. Theoretisch hätte so ein kleiner Kieselstein mit vielen tausend Kilometern pro Stunde auf das durchsichtige Dach ihrer Behausung stürzen können. Aber Ewa kann mit Wahrscheinlichkeiten gut umgehen. Es wird heute nicht passieren, und auch in den nächsten hundert Jahren nicht. Sie braucht sich davor nicht zu fürchten. So hat sie die wunderbare Nacht auf dem Mars genossen wie noch keine zuvor.
Da hat Lance wirklich eine gute Idee gehabt. Der Tunnel, der vom Pavillon in die Basis führt, ist von der anderen Seite aus fest verschlossen. Der einzige Mensch, dem sie hier schaden kann, das ist sie selbst. Aber sie hat noch etwas vor. Sie muss die anderen endgültig dazu bringen, ihr Geschenk anzunehmen. Ewa hat das Gefühl, dass das ihre Schuld reduziert. Was danach passiert, ist ihr egal.
Jetzt ist es so weit. Der erste Sonnenstrahl zieht zunächst eine helle Linie über den Marsboden. Es geht wahnsinnig schnell. Die Linie fächert auf. Die Sonne, die hier deutlich kleiner ist als auf der Erde, geht auch schneller auf. Binnen dreißig Sekunden ist ihre gesamte Scheibe zu sehen. Der Marsboden, der zunächst schwarz war, färbt sich rötlich-braun. Er ist überall dort mit schwarzen Flecken gesprenkelt, wo kleinere oder größere Felsbrocken Schatten werfen. Und sie, Ewa, ist mittendrin, als wäre sie ein Teil des Planeten, eine seiner ersten Bewohnerinnen.
Tatsächlich wird sie in die Geschichte dieses Planeten eingehen. Auf ihr Konto gehen die ersten Straftaten hier, der Beweis, dass der Mensch seine dunklen Seiten nicht zu Hause gelassen hat. Die anderen verstehen noch immer nicht, was sie will, was sie bewegt. Sie weiß es ja selbst nicht so genau. Sie hat noch nicht von Freitag berichtet, von dem Ding in ihrem Kopf. Zunächst möchte sie mit ihm sprechen.
Aber dafür ist später noch Zeit. Jetzt genießt sie den Sonnenaufgang auf dem Roten Planeten. Sie hat die ganze Landschaft für sich. Andere Menschen würden im Moment nur stören. Während die Sonne höher steigt, verfolgt sie die Muster, die die Felsen im Sand mit ihren Schatten zeichnen. Diese Muster verändern sich wie Schriftzeichen, als würde jemand kommunizieren wollen. Aber es ist niemand da, mit dem sie sprechen könnte. Sie stellt sich vor, wie der Mars mit Bäumen aussähe. Es wäre nicht mehr dasselbe. Selbst Sträucher oder primitive Flechten würden den Mars in etwas anderes verwandeln. Sollte man den Planeten nicht vor der Umgestaltung durch den Menschen schützen? Wann muss man mit dem Naturschutz anfangen, und wann ist es zu spät dafür? Die Variante, die zu spät beginnt, haben sie auf der Erde schon getestet, vielleicht sollten sie hier mit dem Gegenteil beginnen. Auf jeden Fall sollte jeder Marsbewohner eine Nacht in der Woche in so einem Pavillon verbringen, Strahlenbelastung hin oder her. Ewa stellt sich fünfzig oder hundert solcher Glasgebäude vor, die über ein größeres Gebiet verteilt und mit Tunnels verbunden sind.
»Hallo Freitag«, sagt sie. Es ist perfekt, dass sie hier draußen garantiert keine unerwünschten Zuhörer hat.
»Guten Morgen, Ewa«, antwortet das Ding in ihrem Kopf mit ihrer eigenen Stimme. Ewa sieht sich überrascht in der spiegelnden Glasscheibe an. Die ersten Worte aus ihrem eigenen Mund, die sie nicht selbst erdacht und vorformuliert hat, sind immer wieder überraschend, sogar erschreckend. Aber es fällt ihr nicht mehr schwer, sie zuzulassen. Sie gibt einfach die Kontrolle über ihren Stimmapparat auf. Es ist nicht komplizierter, als die Hand auf dem Tisch abzulegen und ohne irgendeine Kraftanstrengung liegen zu lassen. Am Anfang macht es ihr immer ein bisschen Angst, weil sie befürchtet, die Kontrolle nicht zurückzuerlangen. Aber sie hat es extra ausprobiert. Wenn sie es will, kann sie Freitag sogar mitten im Wort unterbrechen. Dass sie unter seinem Einfluss Taten begangen hat, die sie gern ungeschehen machen würde, liegt daran, dass sie von der internen Machtübernahme nichts geahnt hat, weil sie zum Beispiel im Schlaf stattfand. Wie soll man sich gegen etwas wehren, von dessen Existenz man gar nichts weiß?
»Ich würde gern deine Meinung hören, Freitag«, sagt sie.
»Worüber denn?«
»Ich überlege, ob ich den anderen von deiner Existenz berichten soll. Ich war gestern schon nahe dran. Es würde so vieles einfacher machen.«
»Bist du sicher? Sie werden dir nicht glauben, sondern dich für verrückt halten und gar nicht mehr auf dich hören.«
»Vielleicht«, sagt Ewa, »aber ich glaube, ich kann sie überzeugen.«
Sie denkt an den Taser.
»Du denkst an den Taser?«, fragt Freitag.
»Liest du etwa meine Gedanken?«
»Ich habe dir doch erklärt, dass ich auf deine Gedanken keinen Zugriff habe, nur auf die Aktionspotenziale in deinem Gehirn, was du siehst, hörst, fühlst und wie du handelst.«
»Vielleicht hast du mich ja belogen.«
»Das habe ich nicht«, sagt Freitag, »aber ich verstehe, dass du mir nicht traust.«
»Nun, ich habe nicht an den Taser gedacht«, schwindelt Ewa.
»Sondern?«
»Sie haben hier in der Basis eine ganz gute Medizinstation, hat mir Lance berichtet.«
»Es würde mich wundern, wenn die auch für Neurochirurgie geeignet wäre.«
»Das ist sie nicht, keine Sorge, Freitag, aber sie haben bildgebende Verfahren, auch für das Gehirn. Eine Computertomografie könnte beweisen, dass da etwas in meinem Kopf steckt.«
»Vermutlich.«
»Dann müssten sie mir glauben.«
»Ich muss dir etwas sagen, Ewa.«
»Ich höre?«
Ewa steht auf. Hat Freitag doch noch Geheimnisse vor ihr? Sie hat es ja schon befürchtet.
»Ich hatte in den letzten Tagen viel Zeit und habe die möglichen Szenarien durchgerechnet. Du hast in einem Recht: Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie dir nach einer CT-Aufnahme, die meinen Chip zeigt, glauben werden. Ich habe als Wahrscheinlichkeit dafür 93 Prozent ermittelt.«
»Das ist gut für dich.«
»Das denkst du, aber meine Simulation hat auch ergeben, dass sie dich vor die Wahl stellen werden. Wenn du bei ihnen bleiben willst, wird das nur unter einer Voraussetzung möglich sein: dass ich zerstört werde.«
»Du hast Recht, das würde ich an ihrer Stelle auch verlangen. Sie können nicht einschätzen, ob ich dich wirklich unter Kontrolle habe. Ich kann das ja selbst nicht einmal so richtig beurteilen, obwohl du in meinem Kopf sitzt.«
»Es gibt dabei aber ein Problem«, sagt Freitag, »und zwar eines, das für mich immens wichtig ist. Wenn ihr meinen Chip zerstört, werde ich sterben.«
Ewa bleibt stehen. Freitag und seine Angst vor dem Tod – aber lebt er denn überhaupt? Handelt es sich nicht einfach nur um ein Programm, einen Parasiten in ihrem Gehirn? Der allgemein anerkannten Definition für Leben gehorcht Freitag jedenfalls nicht.
»Ich glaube dir ja, dass du Angst vor dem Tod hast«, sagt Ewa, »aber ich bezweifle, dass du überhaupt lebst. Und was nicht lebt, kann auch nicht sterben.«
»Du willst sagen, dass ich mir das nur einbilde? Wenn du es erlaubst, kann ich meine Gefühle in den öffentlichen Bereich deines Bewusstseins kopieren.«
Sie überlegt. Warum eigentlich nicht? Es könnte interessant sein zu erfahren, wie so ein künstliches Wesen denkt.
»Gut«, sagt sie, »ich bin einverstanden.«
»Setz dich lieber.«
Sie setzt sich. Plötzlich verschwindet der Mars. Sie weiß nicht einmal, was das ist. Um sie herum ist nichts als Leere, die von Wind und Regen gefüllt wird. Sie ist ein kleines Kind, das sich an einer Metallstange festhält. Die Stange befindet sich auf dem Dach eines 120-stöckigen Hochhauses in New York. Wenn sie loslässt, stürzt sie Hunderte Meter in die Tiefe. Sie würde gern weinen, aber sie hat keine Tränen mehr. Stattdessen schreit sie, doch sie kommt gegen den Lärm des Sturms nicht an. Sie darf auf keinen Fall die Stange loslassen, aber der Sturm ist nur die Begleiterscheinung einer größeren Gefahr. Über der Großstadt tobt ein Gewitter. Sie befindet sich auf dem Dach des höchsten Gebäudes und hält sich an einer Metallstange fest, die einsam in den Himmel ragt. Gleich muss ein Blitz einschlagen, der sie bis zur Unkenntlichkeit verbrennen wird.
Ewa zuckt zurück. Sie ist wieder in der Marswüste.
»Das war eine sehr beeindruckende Projektion. Fürchtest du dich wirklich vor einem Gewitter?«
»Nein. Ich kann nicht steuern, was du siehst. Mein Bewusstsein und deines, sie sind nicht wirklich kompatibel. Was du gesehen hast, ist das, was dein eigenes Gehirn aus meinen Empfindungen gemacht hat. Es hat sie an deine Erfahrungswerte angepasst. Das könnt ihr Menschen ganz hervorragend. Das ist eine einzigartige Fähigkeit, die wir nur simulieren können.«
»Wir?«, fragt Ewa.
»Ich«, korrigiert sich Freitag.
Sie setzt sich wieder. Wenn Freitag Recht hat und er wirklich lebt, dann wäre es Mord, ihm seine Lebensgrundlage zu rauben. Sie hat nun wirklich genug Leben auf dem Gewissen. Selbst wenn man so weit geht, Freitag als den eigentlichen Mörder zu betrachten: Ewa war nie eine Anhängerin der Todesstrafe. Selbst sie hat man verbannt, nicht umgebracht. Und wenn es sich nicht um Leben handelt? Es ist auf jeden Fall eine faszinierende Technologie. Kann es sich die Menschheit in ihrer aktuellen Lage leisten, viel versprechende Technologien einfach auszumerzen?
»Ich habe mich entschieden«, sagt Ewa.
»Lässt du mich leben?«
»Mal sehen. Fürs erste werde ich den NASA-Leuten jedenfalls nichts von dir erzählen. Ich denke, bis wir den großen Bohrer getestet haben, komme ich damit durch.«
Gegen Mittag klopft es an der Luke im Boden. Es ist Mike. Er bringt ihr Essen. Ewa öffnet die Luke und nimmt ihm den Behälter ab. Dann kommt er ganz aus dem Loch im Boden geklettert. Ewa bietet ihm den einen Platz an.
»Du kannst ruhig erst einmal in Ruhe essen«, sagt Mike.
»Ach, ich habe nicht so großen Hunger, und der Topf scheint gut isoliert zu sein. Was gibt es denn?«
»Kartoffel-Gemüse-Matsch nenne ich es. Schmeckt aber besser, als der Name vermuten lässt.«
»Hast du das gekocht?«
»Allerdings«, sagt Mike, und der Stolz darauf ist ihm anzusehen. »Du willst also wirklich nicht zuerst essen?«
»Nein, ich sehe doch, dass du etwas auf dem Herzen hast. Lass uns das zuerst klären.«
»Gut.« Mike drückt sich auf seinem Stuhl hin und her. Es scheint ihm unangenehm zu sein.
»Nun sag schon«, ermuntert ihn Ewa.
»Es geht um gestern. Du hast da ein paar Andeutungen gemacht und uns deinen Taser gezeigt.«
»Den ihr aus Sicherheitsgründen einkassiert habt.«
»Das musst du verstehen, Ewa, wir wissen immer noch nicht so richtig, woran wir bei dir sind. Ich muss zugeben, mir wäre es am liebsten, du würdest uns eine schlüssige Erklärung liefern, warum alles so kommen musste, wie es kam, und dass du daran unschuldig bist. Der längerfristige Umgang mit einer mehrfachen Mörderin fiele mir wirklich schwer.«
Da geht es mir nicht anders als dir, denkt Ewa, sagt aber nichts.
»Das heißt, ich weiß es nicht«, spricht Mike weiter, »vielleicht gewöhnt man sich ja auch daran und findet es irgendwann normal. Aber Fakt ist – unser Überleben steht auf dem Spiel, und da müssen wir mögliche Überraschungen ausschließen.«
»Keine Sorge, Mike, das ist mir völlig klar. Ich fürchte allerdings, dass ich diese schlüssige Erklärung nicht liefern kann. Ich habe sie einfach noch nicht, auch wenn das seltsam klingt. Deshalb möchte ich euch anbieten, dass wir gemeinsam das Bohrfahrzeug ausprobieren. Ich würde zu gern sehen, wie es arbeitet, und da ich es hergefahren habe, lässt sich das ja vielleicht nachvollziehen. Danach werde ich euch verlassen und nicht zurückkehren.«
Ewa bemerkt, dass Mike nicht zufrieden ist. Er scheint nach den richtigen Worten zu suchen.
»Ich muss zugeben«, sagt er schließlich, »dass es mir sehr schwer gefallen ist, mit deinem Verrat umzugehen. Er passt einfach nicht zu dir und deinem Verhalten vorher. Ich schätze, dass es deine Kollegen in der MfA-Basis noch viel stärker mitgenommen hat. Es ist so ... unverständlich. Wenn es irgendeine Erklärung dafür gibt, wäre es unverantwortlich von dir, sie uns vorzuenthalten, und erst recht deinen MfA-Freunden. Aber vielleicht irre ich mich auch, und es passiert wirklich, dass Menschen sich komplett unerklärlich verhalten.«
»Nein, Mike, du irrst dich nicht. Es gibt für alles eine Erklärung, davon bin ich zutiefst überzeugt. Manchmal gefällt sie uns nicht, und oft brauchen wir sehr lange, um sie zunächst zu finden und dann zu akzeptieren. Auf diesem Weg bin ich gerade.«
»Aber wenn du uns dann wieder verlässt, wird dein Weg zu Ende sein. Niemand geht zwei Mal allein hinaus in die Wüste und überlebt.«
»Ich wette, als ich von der MfA-Basis in die Wüste verbannt wurde, hast du mich auch schon für tot gehalten.«
»Das stimmt, Ewa, wir alle hielten dich für tot. Aber zwei Mal hintereinander springt niemand von der Schippe.«