»Guten Morgen, Ewa«,
meldet sich Mike über den Helmfunk.
Ewa gähnt. Sie sieht auf die Uhr. Es ist erst kurz nach sieben.
»Ihr seid aber früh dran«, antwortet sie.
»Wir wollen unbedingt dabei sein, wenn der Bohrer auf Wasser stößt«, sagt Mike.
»Wollt ihr hochkommen und frühstücken? Ich habe zwar nur Trockennahrung, aber genug davon.«
»Nein, dafür hast du nicht genug Platz in der Kabine.«
Sie sieht aus dem Fenster. Unten steht ein Rover. Eine Gestalt sitzt darauf, drei andere stehen daneben.
»Oh, Lance und Sarah sind auch dabei«, sagt sie. »Dann komme ich runter. Aber gebt mir ein paar Minuten.«
»Ja, sie wollten sich das nicht entgehen lassen. Aber musst du die Bohrung nicht aus der Kabine steuern?«, fragt Sharon.
»Nein, es gibt unten auch einen Zugang zur Steuerung.«
Ewa schlingt ein paar trockene Kekse hinunter und trinkt etwas Wasser. Bevor sie den Raumanzug anlegt, erleichtert sie sich noch in den Plastikcontainer. Gut, dass die anderen die Einladung zum Frühstück nicht angenommen haben. Die Verpflegung in der Basis ist viel besser. Sie freut sich schon darauf, heute Abend mal wieder duschen zu können.
Sie schließt den Helm, lässt die Atemluft ab und klettert aus der Kabine. Die Höhe jagt ihr schon keine Angst mehr ein. Unten angekommen, begrüßt sie die NASA-Astronauten. Lance und Sarah scheinen ihr deutlich zurückhaltender als Sharon und besonders Mike. Als Kommandant ist es für ihn vielleicht ein besonderer Erfolg, mit ihrer Hilfe die Wasserversorgung der Station auf Dauer gesichert zu haben. Oder sie täuscht sich nicht und er hat an ihr ein persönliches Interesse. Aber es spielt ja keine Rolle, denn sie ist bald wieder verschwunden.
»Sollen wir uns mal den Status ansehen?«, fragt sie.
»Gleich«, antwortet Mike und hält ihr ganz selbstverständlich den Taser hin. »Den brauchen wir nicht.«
»Danke«, sagt sie.
Ewa hat seit dem Aufstehen selbst noch nicht nach dem Bohrer geschaut. Das Gerät hätte sich schon gemeldet, wenn es kurz vor dem Durchbruch gestanden hätte. Sie zeigt auf das rechte, vordere Bein des Turms und marschiert darauf zu. Zwischen zwei Verstrebungen ist etwa in Brusthöhe ein Kasten angebracht. Sie öffnet die Tür, dahinter verbirgt sich ein Computer samt Bildschirm und Tastatur. Darüber ruft sie die Bohr-Steuerung auf. Der Bildschirm zeigt eine Übersicht der Bohrung: Förderleistung, Vortriebsgeschwindigkeit, Temperaturen im Bohrloch und in den Komponenten und so weiter. Die entscheidende Zahl erfährt sie erst, als sie den Bodenradar dazuschaltet.
»Nur noch fünfzehn Meter«, sagt sie. Ewa ist selbst überrascht. Die anderen sind genau rechtzeitig erschienen.
»Da staunst du, oder?«, fragt Mike. »Ich habe mir die Daten des Bohrers rausgesucht und die Bohrleistung geschätzt. Nach meiner Simulation müsste es in dreißig Minuten so weit sein.«
»Ich habe mir ja immer vorgestellt, dass man da eine Menge Wasser zum Kühlen braucht«, sagt Sharon, »aber es sieht nicht so aus.«
»Bevor ich das Handbuch gelesen habe, hätte ich mir das auch gedacht«, antwortet Ewa. »Aber tatsächlich ist die ganze Anlage ziemlich autark. Die Bohrturbine wird mit Wasser gekühlt, das auch zum Abtransport des Materials genutzt und dann nach oben gepumpt wird. Dort wird es gereinigt, der Abraum wird an der Seite abgelagert und das Wasser dient wieder zur Kühlung. Praktischerweise ist es an der Oberfläche so kalt, dass wir im Vergleich zu einer Bohrung auf der Erde eine Menge Energie sparen. Wasser, das in dem Prozess verlorengeht, wird aus den Vorräten an Bord ergänzt. Der Fahr-Motor verbrennt Methan, und dabei entsteht Wasser als Abfallprodukt.«
Ewa führt die anderen in weitem Bogen um die Bohrung herum. Dann zeigt sie auf einen kleinen, kegelförmigen Hügel.
»Das ist der Abraum aus dem Loch«, sagt sie, »Ich hätte mir einen deutlich größeren Berg vorgestellt.«
»Wenn das Loch dreißig Zentimeter durchmisst, fallen bei 200 Metern Tiefe insgesamt gut 14 Kubikmeter Material an«, erklärt Mike, »und wenn wir das auf eine vier Meter durchmessende Kreisfläche schütten, entsteht daraus ein gut drei Meter hoher Kegel. Wirklich nicht sehr beeindruckend. Wenn du lieber einen hundert Meter hohen Berg hättest, müssten wir fast 6000 Meter tief bohren.«
»Angeber«, sagt Sarah, »dabei hast du aber nicht berücksichtigt, dass ein an der Grundfläche nur vier Meter dicker, aber hundert Meter hoher Kegel aus Sand schnell in sich zusammenfallen würde.«
»Okay, 1:0 für dich. Ich bin eben ein Theoretiker«, gibt Mike zu und grinst.
»Es ist ja toll, wie gut ihr kopfrechnen könnt, aber darf ich auch mal was fragen?«, mischt sich Lance an.
»Bitte«, sagt Ewa.
Wo ist Lance eigentlich? Er scheint nicht mit ihnen um die Bohrung herumgegangen zu sein.
»Was passiert eigentlich, wenn der Bohrer die Wasserlinie erreicht?«, fragt er.
Während er die Frage stellt, erkennt Ewa seine Gestalt am Schaltkasten. Sie geht zu ihm zurück. Sein Gesicht scheint geradezu am Bildschirm des Computers zu kleben.
»Und ... jetzt!«, sagt Lance.
»Was jetzt?«, fragt Mike aufgeregt und kommt herangejoggt.
»Jetzt kreuzen sich die Linien«, erklärt Lance.
»Waaas? Das ging jetzt aber schnell«, sagt Mike.
»Die ganze Bohrung hat deutlich weniger Zeit gebraucht als prognostiziert«, erklärt Ewa.
»Das liegt vermutlich daran, dass ein großer Teil der Oberfläche hier aus Regolith besteht«, meint Mike.
»Und das heißt?«, fragt Sarah.
»Regolith ist im Grunde festgetretener Mars-Staub, kein ursprüngliches Gestein. Es sind die Ablagerungen der letzten Milliarden Jahre.«
»Von wem denn festgetreten?«, fragt Lance.
»Das habe ich doch nur so gesagt. Es ist wie beim Schnee auf einem Gletscher. Das, was oben neu hinzukommt, drückt durch sein Gewicht das Material darunter zusammen und verfestigt es«, erklärt Mike.
Lance springt plötzlich hoch und hackt dann mit der Ferse auf dem Boden herum.
»Fühlt sich ziemlich hart an«, sagt er dann.
»Für einen guten Bohrer wie den hier ist das weich wie Butter«, meint Mike.
»Ähm, dabei fällt mir auf, dass mir noch niemand meine Frage beantwortet hat«, sagt Lance. »Also, was müsste passieren, wenn der Bohrer auf die Wasserader stößt?«
»Das Wasser steht vermutlich unter Druck. Also wird es versuchen, diesen Druck auszugleichen und sich in unserem Bohrloch nach oben bewegen, bis es hier eine fröhliche Fontäne bildet«, erklärt Mike.
»Genau«, sagt Lance. »Kannst du mir dann auch verraten, warum wir hier noch trockenen Fußes herumstehen, wo der Bohrer doch die Linie schon erreicht hat?«
Alle sehen ihn an, als hätte er etwas Unmögliches von sich gegeben. Aber Ewa weiß, dass das unfair ist. Lance hat eine berechtigte Frage gestellt. Sie fürchtet, dass es darauf nur eine Antwort gibt, die hier keiner hören will. Und wirklich sagt niemand etwas. Sharon beginnt, auf und ab zu gehen. Mike versucht, sich am Kopf zu kratzen, wird aber vom Helm daran gehindert.
»Wir müssen eben noch etwas tiefer bohren«, bricht er schließlich das Schweigen.
Ewa tritt an den Bildschirm im Schaltschrank. Sie ruft die aktuellen Aufnahmen des Bodenradars auf. Sie entsprechen denen, die sie gestern gesehen haben. Es gibt eine Linie, die der Bohrer erreicht zu haben scheint, aber es gibt keine zweite Linie. Natürlich können sie weiterbohren, aber es wäre ein großer Zufall, dann noch auf Wasser zu treffen.
»Mal gewinnt man, mal verliert man«, sagt sie. »Ich denke, wir ...«
Dann scheppert es. Ewa hört ein Geräusch, das von außen kommt. Das ist fast unmöglich. Es muss ein unglaublicher Lärm gewesen sein, sonst hätte das Geräusch sie durch die dünne Marsluft nie erreicht. Aber sie hat es nicht nur gehört, sondern auch gespürt. Das fällt ihr erst jetzt ein, als sie darüber nachdenkt. Der Boden, er hat sich plötzlich um wenige Millimeter bewegt. Schnell ruft sie die Daten des Seismometers auf. Sie hat es sich nicht eingebildet, es gab einen sehr kurzen Erdstoß.
Plötzlich dringt weißer Qualm aus dem Block über dem Bohrloch.
»Ist das das Wasser, auf das wir warten?«, fragt Sharon.
»Geht bitte nicht zu nahe heran«, warnt Ewa. »Ich weiß nicht, was es ist. Es sieht mir eher wie Qualm aus, nicht wie Dampf. Da stimmt etwas nicht.«
Hektisch blättert sie durch die Menüs auf dem Bildschirm. Der Bohrkopf, vielleicht hat es damit zu tun! Mist, denkt sie, als sie die Daten der Bohrturbine betrachtet. Alles steht auf Null.
»Ich fürchte, es hat den Bohrkopf erwischt«, ruft sie ins Helm-Mikrofon. »Er scheint steckengeblieben zu sein und dreht sich nicht mehr.«
»Hast du eine Ahnung, warum?«, fragt Mike.
Ewa schaltet zum Handbuch um und blättert es bis ans Ende durch, wo die häufigsten Fehler gelistet sind. Hier wird der für Laien gedachte Text aber leider unspezifisch. Dass der Bohrkopf nicht mehr läuft, soll entweder daran liegen, dass er sich festgefahren hat, oder dass die Turbine einen Defekt aufweist.
»Ich werde nicht schlau daraus«, sagt sie. »Entweder es klemmt, oder es ist kaputt, aber das wissen wir ja schon.«
»Soll ich mal nachsehen?«, bietet Mike an.
»Nur weil du da draufsiehst, steht nicht plötzlich mehr da«, fährt sie ihn an. »Aber bitte, schau selbst.«
Ewa tritt vom Schaltschrank zurück, um Mike Platz zu machen.
»Er ist so«, sagt Sharon zu ihr. »Außer ihm selbst sind alle blöd. Aber das hat er zum Glück nur, wenn er in Panik gerät.«
»Sehr beruhigend bei einem Kommandanten«, meint Ewa.
»Wir sind ja bloß zu viert, im Grunde erledigen wir alles im Konsens«, sagt Sharon.
Mike tritt von dem Kasten zurück und kommt mit hängenden Armen zu ihnen.
»Da ist wohl nichts zu machen«, sagt er. »Holen Sie einen Service-Mitarbeiter«, empfiehlt das Handbuch zum Schluss.
»Der ist noch etwa 30 Sol entfernt und wird außerdem einen Teufel tun, uns zu helfen«, sagt Ewa.
»Tja, unrecht Gut gedeihet nicht, hat meine Großmutter immer gesagt«, meint Mike.
»He, du warst doch am meisten hinterher, diese Bohrung durchzuführen«, sagt Sharon.
»Ihr habt ja Recht. Entschuldigt mein Verhalten gerade. Ich stand irgendwie neben mir. Es wäre doch wirklich großartig gewesen, hätten wir Wasser für die Basis gefunden.«
»Da müssen wir wohl noch ein bisschen Geduld haben«, sagt Sharon.
»Das ist nicht meine Stärke. Hoffentlich bekommen wir den Bohrer wenigstens wieder flott«, antwortet Mike.
In diesem Moment
reißt der Marsboden auf. Eine dünne Linie fährt zwischen Mike und den anderen hindurch. Ewa verfolgt sie schockiert. Sie wirkt zunächst wie einer dieser Risse, die in trocknendem Lehmboden entstehen. Beängstigend ist das Tempo, mit dem der Riss zwischen ihnen durchgewandert ist. Bei Lehm bilden sich solche Muster über Stunden, hier in wenigen Sekunden. Ewa folgt dem Riss, so weit sie kann. Zum Horizont hin scheint er sich nicht etwa aufzulösen, wie es wegen der zunehmenden Entfernung zu erwarten wäre, nein, er wächst und wächst. Ewa sieht wieder direkt vor sich auf den Boden. Aus der haarfeinen Linie ist ein kleiner Bruch geworden. Marsstaub rieselt hinein. Der Bruch wird breiter. Wie tief wird er jetzt sein, zwei Zentimeter?
Sie stößt Mike an und zeigt auf den Boden. Die anderen bemerken ihre Geste. Sharon tritt einen Schritt zurück, weil der Bruch sie fast erreicht. Ihr entfährt ein Schrei.
»Scheiße, was ist das?«, fragt Lance.
Er bekommt keine Antwort. Alle betrachten schockiert den Riss.
»Ich habe so etwas noch nie gesehen«, sagt Mike.
»Ich schon«, meint Sarah, »an der Westküste, bei einem Erdbeben.«
»Du meinst ...«
»Ich meine gar nichts, Mike. Oder hast du ein Beben gespürt? Die Risse entstanden, während sich die Erde bewegt hat.«
»Ich habe vorhin ein Mini-Beben gemessen«, sagt Ewa. »Genauer gesagt einen einzigen Stoß. Habt ihr das nicht gespürt?«
»Mir ist nichts aufgefallen«, meint Lance. »Und du meinst, das könnte etwas hiermit zu tun haben?«
»Zeig mir bitte die Aufzeichnung«, sagt Mike. »Bitte, ich will nicht klugscheißen, ich bin bloß zufällig auch Geophysiker.«
Ewa tritt vorsichtig über den Riss und geht zum Schaltschrank. Sie ruft das Protokoll auf.
»Siehst du, hier.«
Sie bemerkt durch die Helmscheibe, dass Mike die Augen zusammenkneift.
»Sorry, das kann es nicht sein. Das war ja nicht mal ein Stoß, nur ein Stößchen. So etwas kann diesen Riss hier nicht verursachen.«
Mike zeigt auf den Bruch. Ewa schätzt, dass er jetzt schon über drei Zentimeter tief ist. Das ist eine dramatische Entwicklung.
»Hast du eine bessere Erklärung?«, fragt ihn Ewa.
»Solche Bruchlinien entstehen auch, wenn sich etwas hebt, wenn zwei Kontinentalplatten aufeinanderstoßen und ein Gebirge falten zum Beispiel.«
»Der Mars hat doch gar keine Plattentektonik«, sagt Sharon.
»Das war ja auch nur ein Beispiel.«
»Was könnte sich denn sonst noch heben, also hier auf dem Mars, ganz konkret, nicht beispielhaft?«, fragt Sharon schnippisch.
»Das ist ja das Problem. Der Mars gilt als inaktiv. Man hat noch keinen aktiven Vulkan gefunden«, erklärt Mike.
»Was hat das nun wieder mit Vulkanen zu tun?«
»Nun, Sharon, mal angenommen, wir hätten statt eines Wasser-Reservoirs eine Magma-Kammer angebohrt, die nun gern ihren Überdruck ausgleichen möchte, dann wäre ein solches Verhalten nicht untypisch. Aber wie gesagt, hier sollte es gar keine Magma-Kammern geben, erst recht nicht in so geringer Tiefe. Wir hätten einen viel stärkeren Temperaturanstieg messen müssen.«
»Im Moment scheint das aber die plausibelste Erklärung zu sein«, fasst Lance zusammen.
»So eine Magma-Kammer«, fragt Sarah, »wie sähe die im Bodenradar aus?«
»Sie wäre von einem Wasser-Reservoir kaum zu unterscheiden gewesen. Jedenfalls in unserer Lage, wir hatten ja keinen Vergleich und nicht die geringste Befürchtung, auf so etwas stoßen zu können. Bisher gingen alle Marsforscher auf der Erde davon aus, dass der Mars geologisch schon lange tot ist.«
»Dann haben wir uns vielleicht zielsicher eines der letzten Lebenszeichen ausgesucht?«, schlägt Lance vor.
»Nein, ich verstehe ja, die Erklärung ist verführerisch einfach«, sagt Mike, »aber was ist mit den Temperaturen? Magma ist heiß, sehr heiß, das hätten wir bemerken müssen!«
»Haben wir denn darauf geachtet?«, fragt Lance.
»Nicht direkt«, sagt Ewa, »aber wir sprechen ja von einigen hundert bis ein paar tausend Grad, davor hätte uns die Software auf jeden Fall gewarnt.«
»Ich muss eure Diskussion leider unterbrechen«, sagt Sarah. »Seht euch mal den Bruch an, er ist schon wieder gewachsen. Wenn das nicht bald aufhört, ist er heute Abend einen Meter tief.«
Alle versammeln sich um Sarah und begutachten den Riss in der Erde. Sie sehen zum ersten Mal fast zehn Zentimeter tief in den Mars hinein. Auf der Erde könnten sie nun fruchtbares Erdreich sehen, hier ist es einförmiger, über die Jahre gehärteter Staub. Es gibt keine sichtbare Struktur.
Sarah macht ein paar große Schritte in Richtung Westen, immer am Riss entlang.
»Fällt euch etwas auf?«, fragt sie. »Der Riss verläuft ziemlich gerade in Richtung Westen, also auf unsere Basis zu. Ich habe so eine furchtbare Ahnung, was das bedeutet.«
Die anderen bleiben stehen und sehen in Richtung Westen, wo sich außer Sichtweite die Basis befindet. Niemand fragt Sarah, welche Ahnung sie hat.
»Ich glaube, wir sollten schnellstens nachsehen«, sagt Mike schließlich. »Mit dem Rover sind wir in dreißig Minuten dort.«
»Ich bin dagegen«, sagt Lance. »Das Problem ist hier entstanden. Nur hier werden wir es lösen können, falls das überhaupt möglich ist. Was würdest du denn gegen den Bruch unternehmen wollen? Wenn er zufällig die Basis trifft, können wir den Bau vergessen, das bekommen wir nie wieder dicht.«
»Ich fürchte, Lance hat Recht«, sagt Ewa. »Das Problem steckt hier unter uns. Wir haben es mit dem Bohrer verursacht. Vielleicht hört es auf, wenn wir das Loch wieder füllen?«
»Oh oh, schaut mal«, ruft Sharon. Sie ist ein paar Meter Richtung Süden gelaufen.
»Was gibt es da?«, fragt Mike.
»Einen anderen Riss. Wie tief ist eurer?«
»Inzwischen zwölf Zentimeter«, sagt Mike.
»Bei dem hier sind es mindestens zwanzig«, antwortet Sharon.
»Mist«, sagt Mike, »wo zwei sind, gibt es sicher noch mehr. Wir müssen schnell etwas tun!«
»Hast du einen Vorschlag?«, fragt Ewa.
»Wir könnten versuchen, das Loch zu schließen. Dann können wir den endgültigen Druckausgleich noch vermeiden.«
»Ich dachte, du glaubst nicht an eine Magmakammer?«, fragt Ewa.
»Was immer da ist, es hat mit dem Loch zu tun, also geht es vielleicht weg, wenn wir es schließen«, sagt Mike.
»Du hast doch vorhin erklärt, dass der Bohrkopf Wasser zur Kühlung nutzt«, sagt Sarah. »Könnten wir das Wasser so umleiten, dass es in das Bohrloch fließt? An der Oberfläche haben wir minus 25 Grad, bei der Kälte müsste sich doch ein schöner Eispfropfen bilden.«
»Das könnte funktionieren«, sagt Ewa. »Aber das muss ich aus der Kabine heraus erledigen.«
Im selben Moment läuft sie los. Sarahs Vorschlag ist definitiv umsetzbar. Man kann die Maschine so einstellen, dass sie Wasser in das Bohrloch presst. Ewa erreicht die Leiter und klettert hoch. Die Luke ist noch offen. Sie schließt sie gar nicht erst, sondern setzt sich sofort an die Steuerung. Die Sonderfunktionen sind gut versteckt. Ewa flucht zweimal, weil sie sich in einem Untermenü verirrt. Doch dann findet sie die richtigen Befehle. Das System meldet, dass die neue Konfiguration angenommen wurde. Ab sofort wird Wasser in das Bohrloch gepresst.
»Tut sich etwas?«, fragt Ewa über den Helmfunk nach.
»Nein, noch ist nichts zu sehen«, antwortet Mike.
Ewa überlegt. Unmittelbare Auswirkungen sollten tatsächlich nicht zu bemerken sein, aber das Wachstum der Brüche müsste aufhören. Hier oben kann sie nichts weiter bewirken, also verlässt sie die Kabine wieder. Als sie die Leiter nach unten klettert, kippt sie plötzlich ein Stück zur Seite. Ganz ruhig, Ewa, du lebst noch, sagt sie sich. Da wird bloß einer der Risse einen Fuß des Bohrturms erwischt haben.
Die anderen haben sich in der Nähe des Steuerungskastens versammelt. Ewa betrachtet den Bohrturm. Er scheint völlig senkrecht zu stehen. Noch.
»Ich halte es für klüger, wenn wir uns ein paar Meter entfernen«, sagt sie. »Eben auf der Leiter hat die ganze Konstruktion schon einmal kurz gewackelt.«
Mike kniet sich auf den Boden und greift in den Riss. Sein Arm verschwindet bis zum Ellenbogen darin. Ewa möchte ihn am liebten herauszerren. Sie hat bildlich vor Augen, wie die Spalte im Marsboden plötzlich zuschnappt und Mikes Arm verschluckt. Natürlich ist das unwahrscheinlich. Die Spalte wird sich noch weiter öffnen.
»Sieht nicht so aus, als hätte das Schließen des Bohrlochs etwas gebracht«, sagt Mike.
Er steht wieder auf und klopft Staub von Handschuh und Ärmel.
»Scheiße, scheiße, scheiße«, sagt Lance.
Ewa würde ihnen gern eine Lösung anbieten, aber sie hat überhaupt keine Idee. Kann es sein, dass sie gerade sehr erfolgreich dabei ist, die nächste Mission scheitern zu lassen? Sie mag sich gar nicht vorstellen, was passiert, wenn die Brüche die NASA-Basis erreichen. Natürlich glaubt sie auch diesmal wieder, dass das keine Absicht war. Sie hat doch nur helfen wollen! Und Mike, der NASA-Kommandant, hat auf der Testbohrung bestanden. Aber könnte es nicht doch sein, dass das Ding in ihrem Kopf sie beeinflusst hat? Womöglich hat es gewusst, was passieren würde? Den Fünffach-Mord auf der Santa Maria hat es ja auch so weit vorausgeplant, dass alles wie ein Unfall wirkte?
»Ihr solltet jetzt mal besser nach der Basis sehen«, sagt sie schließlich. »Vielleicht könnt ihr dort das Schlimmste verhindern. Hier gibt es wohl nichts mehr zu tun.«
»Da hast du Recht«, sagt Mike. »Aber du kommst natürlich mit, Ewa. Du kannst hier ebensowenig ausrichten wie wir.«
»Nein, ich bleibe. Vielleicht ergibt sich ja doch noch eine unerwartete Chance. Ich bin schließlich Schuld daran, dass ihr in diese Lage geraten seid.«
»Das ist doch Quatsch«, meint Mike. »Wenn jemand schuldig ist, dann ich. Aber wer konnte denn mit so etwas rechnen! Du hast dein Möglichstes getan.«
Wenn du wüsstest, denkt Ewa. Nein, sie wird bleiben. Sie hat das unbestimmte Gefühl, dass sie hier noch eine Aufgabe zu erledigen hat.
»Es tut mir leid, dir widersprechen zu müssen, aber mein Platz ist in der Kabine«, sagt sie. »Einer muss hierbleiben. Ich werde euch via Funk auf dem Laufenden halten. Wenn das wirklich eine Magmablase ist, dann kommt es vielleicht zu einem Ausbruch. In diesem Fall muss euch jemand so schnell wie möglich warnen. Und das werde ich sein.«
»Wenn direkt unter dir ein Vulkan ausbricht, wirst du das kaum überleben«, sagt Sharon.
»Dieses Risikos bin ich mir bewusst. Aber ich muss es eingehen.«
»Gut«, sagt Mike, »dann wünschen wir dir alles Gute. Vielen Dank, dass wir zumindest für kurze Zeit so voller Hoffnung sein durften.«
Man kann auch aus allem noch eine positive Botschaft ziehen, denkt Ewa. Diese Fähigkeit hätte sie auch gern. Vermutlich ist das das Haupt-Kriterium, nach dem die NASA ihre Astronauten ausgewählt hat.