Ewa hält
die Mündung des Tasers gegen ihre Brust.
»Nein, ich habe nichts davon gewusst«, sagt Freitag durch ihren Mund.
»Du hast nichts geahnt? Warst genauso überrascht wie alle anderen?«
»So ist es. Ich schwöre es. Bitte steck die Waffe wieder ein.«
Ewa atmet schwer. Was ist der Schwur eines Programms auf einem Chip in ihrem Kopf schon wert? Aber Freitag scheint sich wirklich vor dem Tod zu fürchten. Die Angst, die aus seinen Worten spricht, klingt echt. Er benutzt ihr eigenes Sprachzentrum, das unwillkürlich die Muster wählt, die sie von sich selbst kennt. Sie weiß, wie es ist, Angst zu haben. Sie erinnert sich noch sehr gut daran, wie sie um das Leben ihrer Schwester gebeten, ja gebettelt hat. Sie weiß, wie ihr Angstschweiß riecht, wie sich ihr Härchen aufrichten und wie ihre Finger zittern. Sie kennt die Ewa mit Todesangst sehr gut, bis hin zum Klang ihrer Stimme.
Freitag hat ganz eindeutig Angst. Die Frage ist nur: Sagt er deshalb auch die Wahrheit? Es passt einfach zu gut. Er könnte gewusst haben, woher auch immer, was sich hier im Boden verbirgt. Dann hätte er ihren Willen gar nicht ausschalten müssen wie bei den »Unfällen« zuvor, er hätte bloß ihre Aktivitäten in eine bestimmte Richtung zu lenken brauchen – zum Beispiel, indem er ihr hilft, das Bohrfahrzeug zu stehlen.
Ist dieser Verdacht gerechtfertigt? Ewa ist unsicher. Sie will niemanden ohne ausreichende Beweise verurteilen. Aber sie will auch keine anderen Menschen mehr gefährden. Wenn sie jetzt auf den Abzug drückt, ist sie von jedem fremden Einfluss frei.
Und sie hat Freitag auf dem Gewissen.
Ewa seufzt. Sie kann diese Entscheidung einfach nicht treffen. Deshalb legt sie die Waffe nun zur Seite.
In der Nacht hat sich die Kabine deutlich schräg gelegt. Ewa ist gegen drei Uhr aufgewacht, weil sie von ihrer Schlafmatte gerollt ist. Danach hat sie den Zustand des Turms kontrolliert. Eines seiner Beine ist um einen Meter abgesunken, scheint sich aber stabilisiert zu haben. Also hat sie beschlossen, sich darum keine Sorgen zu machen.
Aber jetzt ist es an der Zeit für einen Kontrollgang. Draußen wird es gerade hell, obwohl die Sonne es anscheinend noch nicht ganz über den Horizont geschafft hat. Ewa packt den Taser wieder in die Werkzeugtasche. Dann wischt sie das Kondenswasser von der Scheibe, das sich während der Nacht dort abgesetzt hat. Gestern Abend hatte sie die Lebenserhaltung etwas heruntergedreht, weil der Luftstrom ihr direkt in den Nacken geblasen hatte.
Die Umgebung scheint sich kaum verändert zu haben. Ewa inspiziert sie in allen Himmelsrichtungen. Doch als sie die Scheibe in Richtung Osten gesäubert hat, zuckt sie zurück. Dass bisher von der Sonne nichts zu sehen war, liegt nicht an der Uhrzeit. Direkt vor ihr befindet sich ein Berg, der bestimmt zweihundert Meter aufragt. Er erinnert sie an einen riesigen Pickel, der über Nacht auf der Haut des Planeten gewachsen ist. Der Prozess, der dafür verantwortlich ist, muss auch die Brüche in der starren Oberfläche des Mars verursacht haben. Was wird wohl darunter sein, was versteckt sich im Bauch des Bergs? Falls dort tatsächlich heißes Magma wabert, wird die unvermeidliche Explosion wenig von dem Bohrfahrzeug übriglassen.
Ewa überdenkt ihre Chancen. Der Bohrer steckt zwar fest, aber sie kann die Bohrturbine samt Gestänge vom Fahrzeug komplett abkoppeln. Wenn noch keines der Verbindungsstücke verbogen ist, kann sie relativ einfach das Weite suchen. Aber was hilft ihr das? Der einzige Ort, der sie willkommen heißen würde, wäre die Einsamkeit der Marswüste.
Nein, es ist zu früh für die Flucht. Vielleicht kommt die Zeit dafür auch nie. Sie sollte sich beeilen, dass sie nach draußen kommt.
»Basis an Ewa,
bitte kommen.«
Ewa hat gerade die Leiter verlassen und den Marsboden betreten, als Mike sich meldet.
»Ich bin da«, antwortet sie. »Wie habt ihr die Nacht überstanden?«
»Wir haben sicherheitshalber in den Raumanzügen geschlafen. Zwei Risse verlaufen durch die Basis. Aber die Zentrale haben sie bisher noch verschont. Die meisten anderen Räume haben ihre Atmosphäre eingebüßt, wir mussten die Schotte zu ihnen schließen.«
»Sonst irgendwelche Verluste?«
»Der Garten ist ebenfalls offen. Keine der Pflanzen hat überlebt, und der Mutterboden ist durchgefroren. Da müssen wir komplett von vorn anfangen.«
»Das tut mir sehr leid«, sagt Ewa.
»Bisher ist es überraschend glimpflich abgegangen. Der KRUSTY ist weit von jeder Spalte entfernt und scheint mir sicher. Wir fürchten nur um die Zentrale. Wenn der Riss nebenan weiter wächst, müssen wir evakuieren.«
»Die MfA-Basis nimmt euch jederzeit auf.«
»Ja, wir haben schon mit ihnen gesprochen und bereiten die beiden Rover für die Fahrt vor. Ist ja ein weiter Weg.«
»Habt ihr auch über mich gesprochen?«
»Nein, dein Name ist noch nicht gefallen. Aber wenn wir dann unterwegs sind, werden wir alles genauer erklären müssen.«
»Dann macht das, kein Problem.«
»Willst du nicht mitkommen, Ewa?«
»Auf keinen Fall. Ohne mich seid ihr auf jeden Fall besser dran, das seht ihr ja. Es würde nur alles noch viel komplizierter machen.«
»Okay, du bist erwachsen und entscheidest selbst, wir akzeptieren das. Auch wenn ich glaube, dass die MfA uns nicht deshalb rauswirft, weil wir dich im Schlepptau haben.«
»Das mag sein, aber mir ist es lieber so. Ich bleibe hier.«
»Wie du willst. Wenn du es dir anders überlegst – noch sind wir da. Und im Notfall holen wir dich auch ab.«
»Danke, Mike, das ist gut zu wissen.«
Sie unterbricht die Verbindung. Es ist die richtige Entscheidung. An dem Computer im Schaltschrank überprüft sie noch einmal die Stabilität des Turms. Er hat sich seit dem Sonnenaufgang um weitere zwei Grad geneigt. Der Computer sagt voraus, dass die Konstruktion am späten Nachmittag einstürzen wird, wenn sie den Turm nicht vorher in seine ursprüngliche Stellung zurückfährt. Aber für einen kleinen Spaziergang reicht die Zeit auf alle Fälle noch, da gibt es keinen Zweifel.
Ihr Ziel ist der Berg im Osten. Was verbirgt sich unter dessen harter Schale? Was haben sie da ohne es zu ahnen angebohrt, das sie besser in Ruhe gelassen hätten? Ewa marschiert los. Es geht vom Bohrturm aus stetig bergan. Sie läuft durch einen sandigen Bereich, in dem sie bei jedem Schritt ein paar Zentimeter einsinkt. Vermutlich ist das Staub, der von dem Berg heruntergerieselt ist und sich nun zu seinen Füßen sammelt. Nach etwa 300 Metern ist ein Knick erkennbar; die Neigung des Bodens ändert sich plötzlich um ein paar Grad. Ewa betrachtet den Untergrund. Er zeigt jede Menge Stresslinien, winzige Risse, die darauf hinweisen, welcher Belastung der Regolith hier ausgesetzt ist. Sie tritt ab jetzt vorsichtig auf, weil sie das Gefühl hat, dass der Boden unter ihren Füßen jederzeit aufbrechen könnte. Nach zwanzig Metern dreht sie sich um. Die großen Brüche, die von hier aus in alle Richtungen verlaufen, enden am Fuß des Berges, ungefähr dort, wo sie den Knick bemerkt hat.
Dann läuft sie weiter bergan. Sie kommt schnell außer Puste. Weil es so steil wird, beugt sie den Oberkörper weit nach vorn. Die Stiefel des Anzugs bieten überraschend guten Halt. Der Boden ist aber auch relativ staubfrei. Klar, alles, was lose ist, hat sich längst nach unten bewegt. Je näher sie dem Gipfel kommt, desto hohler klingen ihre Schritte. Die Geräusche beim Auftreten gelangen als Körperschall an ihr Ohr. Das erschwert es ihr, sich vorzustellen, wie ihre Schritte auf der Erde klingen würden. Vielleicht ist das hohle Geräusch ja ganz normal. Wenn da allerdings eine Magmablase unter ihr wäre, hätte die sich inzwischen wohl etwas abgekühlt und zusammengezogen. Übrig bliebe ein Hohlraum in der Nähe der Bergkuppe. Der Gedanke lässt einen kalten Schauer über ihr Rückgrat laufen. Wie dick mag die Haut über dem Hohlraum sein? Am besten, sie tritt vorsichtig auf, um nicht durchzubrechen. Sie stellt sich vor, wie sie einbricht und durch den Hohlraum direkt in den Magmaschlund fällt. Zumindest wäre das ein schnelles Ende.
Der Gipfel ist schon greifbar nahe. Ewa sieht auf ihr Universalinstrument. Sie hat es bis in 210 Meter Höhe geschafft. 208 Meter davon hat sie selbst überwunden. Um den Rest ist der Berg gewachsen, während sie ihn bestiegen hat. Jetzt steht sie ganz oben. Ewas Blick geht in die Weite. Es fühlt sich an, als könne sie viel freier atmen. Dabei liefert die Lebenserhaltung des Anzugs immer so viel Atemluft, wie sie gerade benötigt. Der Berg stellt die einzige Erhebung in der näheren Umgebung dar. Durch die Höhe ist der Horizont deutlich weiter entfernt. Sie dreht sich nach Westen. Dort befindet sich die NASA-Basis. Aber zu erkennen ist nichts, dafür ist die Luft zu staubig. Der Berg, auf dem sie steht, hat eine seltsame Form. Er erinnert sie an den Bauch einer Schwangeren im fünften oder sechsten Monat, kurz bevor er sich endgültig zur Kugel formt. Wo sie steht, wäre dann der Nabel. Wie kann eine solche Form auf natürlichem Weg entstehen? Ewa kniet sich hin. Sie drückt ihr Universalgerät gegen den Boden und misst die Temperatur. Es sind minus 35 Grad Celsius, kein bisschen wärmer als zu erwarten. Von wegen glühendes Magma! Da muss etwas anderes am Werk sein, ein Prozess, von dem niemand gewusst haben kann und der jenseits ihrer Vorstellungskraft liegt. Aber sie glaubt nicht an Wunder. Was immer diesen Berg erschaffen hat und die Haut des Roten Planeten einreißen lässt, es muss eine vom Verstand fassbare Ursache geben, eine Ursache, die prinzipiell erkennbar und schließlich auch zu beseitigen ist. Wenn sie die Kraft dafür hat.
Ewa hat eine Idee. Wenn unter der dünnen Schale dieses Eis, das sie als Berg bestiegen hat, kein glutflüssiges Magma lauert, das besser abgeschlossen bleibt, dann lohnt es sich vielleicht, die Schale aufzuklopfen. Sie wird nachsehen, was sich darunter verbirgt, und das Bohrfahrzeug wird ihr dabei helfen. Ewa dreht sich noch einmal um ihre Achse. Weit unter sich sieht sie den Bohrturm. Dorthin muss sie zurück. Langsam macht sie sich an den Abstieg. Der Weg nach unten ist anstrengender, weil sie dauernd befürchtet, auf dem glatten Hang auszurutschen. Der Regolith ist tückisch, es ist zwar kaum noch Staub da, aber die obersten Schichten lösen sich schnell. Sie muss sich Zeit nehmen. Doch plötzlich rutscht ihr rechter Fuß ab. Sie fällt auf die rechte Seite. Ein scharfer Schmerz durchzuckt ihre Hüfte. Sie versucht sich festzuklammern, bekommt aber nichts zu fassen. Hier wächst kein Gras und kein Strauch. Einmal in Bewegung, schaffen es ihre Stiefel nicht mehr, Halt zu finden. Während sie stürzt, sieht Ewa nach unten. Es sind nur noch fünfzig Meter. Die niedrige Schwerkraft beschleunigt sie nicht so stark wie bei einem Sturz auf der Erde. Ihre Hüfte wird immer wieder gestaucht. Sie versucht, die Stöße mit den Händen abzufangen, aber es gelingt ihr nicht immer. Sie zählt in Gedanken die Sekunden. Gleich kommt der Knick. Der Berg wirft sie ab wie eine schlechte Reiterin, und sie landet im weichen Sand, der sich hinter dem Knick angesammelt hat.
Ewa wartet einen Moment mit dem Aufstehen. Sie bewegt alle Muskeln, ohne dass es schmerzt. Gut. Sie zieht die Beine an die Brust. Dann dreht sie sich nach links. Es funktioniert. Sie berührt ihre rechte Seite mit der Hand. Da ist der Schmerz. Aber es scheint nur eine Prellung zu sein. Sie kann aufstehen. Ächzend erhebt sie sich aus dem Dreck. Sie steht noch. Der Berg hat es ihr gezeigt, aber er hat noch nicht gewonnen. Jetzt ist sie an der Reihe, ihm eine ordentliche Beule zu verpassen.
In der Kabine herrscht Unordnung.
Die Reste ihrer Bettstatt sind durch das neu entstandene Gefälle ans untere Ende gerutscht. Die Tüte mit den Reiswaffeln ist umgekippt und hat überall Krümel hinterlassen. Ewa verzichtet darauf aufzuräumen. Wahrscheinlich braucht sie das Bohrfahrzeug sowieso nicht mehr lange. Ihre Idee ist so verrückt, dass sie eigentlich nur schiefgehen kann. Soll sie Freitag um Rat fragen? Sie entscheidet sich dagegen und klettert nach vorn, wo sie in den Fahrersitz steigt. Dann ruft sie das Transformer-Programm auf. So nennt sie die Abläufe zum Umwandeln des Fahrzeugs in einen Turm für sich. Hoffentlich sind die Gelenke nicht so verzogen, dass die Komponenten steckenbleiben. Auch die Hydraulik der beiden Löffel, an denen der Turm hängt, braucht sie unbedingt.
Sie startet das Programm. Es schlägt vor, den Automatik-Modus zu aktivieren. Das lehnt sie ab. So hat sie Zugriff auf die einzelnen Gelenke. Es lohnt sich nicht, den Turm wieder in die Waagerechte zu bringen. Bis zum Berg ist es nicht weit. Ewa aktiviert die Hydraulik, die die Stiele der Löffel ausfährt. Dadurch sollte der gesamte Turm etwas vom Boden abgehoben werden. Dann braucht sie bloß noch Gas zu geben und die kurze Strecke zum Berg zurückzulegen. Aber das Programm tut ihr den Gefallen nicht – es meldet eine Überlastung und warnt vor dem Ausfall des gesamten Systems, falls sie die Meldung missachten sollte.
Ewa studiert das Schema auf dem Display. Das Gestänge samt Bohrkopf und Turbine muss schuld sein. Es hängt wohl im Bohrloch fest. Jetzt rächt es sich, dass sie das Loch mit Eis aufgefüllt haben, um es abzudichten. Soll sie versuchen, das Eis zu beseitigen? Mit Wärme wäre das kein Problem, aber woher soll sie so viel Hitze bekommen? Sie muss das Bohrgestänge loswerden. Es ist mit dem Turm verbunden, also muss sie alle Verbindungen kappen. Sie sucht in allen Untermenüs, aber das ist im Programm nicht vorgesehen. Sie muss also selbst ran. Das Inventarverzeichnis verrät ihr, dass es eine Automatiksäge gibt, die für jedes Material geeignet ist. Sie merkt sich die Nummer der Klappe, hinter der sich dieses Werkzeug befinden soll. Dann klettert sie die Leiter nach unten, sucht das Lagerfach und öffnet es.
Es ist leer. Ewa tastet mit dem Handschuh den Boden ab und findet einen Zettel.
»Für Projekt Z7 ausgeliehen«, steht darauf in sehr sauberer Handschrift. »Rückgabe bis 20.12.2041.«
Großartig. Wenn sie den in die Finger bekäme, der das Werkzeug geliehen und nicht zurückgebracht hat! Aber wahrscheinlich ist die- oder derjenige auf der Erde geblieben und längst tot. Dann eben die gute alte Art, mit physischer Gewalt, denkt sie. Einen Bolzenschneider hat sie bereits im allgemeinen Werkzeugkasten entdeckt. Dann können die Kraftverstärker in den Arm- und Handgelenken endlich einmal zeigen, was sie können!
Ewa klettert zurück in die Kabine, um den Bolzenschneider zu holen. Der Boden kommt ihr schon wieder ein Stück schräger vor. Sie schnappt sich das Werkzeug und benutzt die Leiter nach unten. Auf halbem Weg, in etwa fünf Metern Höhe, bleibt sie stehen. Das Bohrgestänge befindet sich seitlich unter ihr und ist über die Leiter nicht erreichbar. Wenn sie jetzt springen würde, könnte sie sich an dem Seil festhalten, das das Gestänge trägt, und sich daran langsam nach unten gleiten lassen. Ewa schätzt die Entfernung. Es sind zwei Meter, die sie aus dem Stand springen muss. Und sie hat nur eine Hand frei, denn die andere hält den Bolzenschneider. Auf der Erde und mit dem MfA-Anzug wäre das unmöglich, hier und mit dem kraftverstärkten Raumanzug vielleicht machbar. Vermutlich, korrigiert sie sich, das klingt besser. Sie fixiert ihr Ziel, stößt sich ab und springt. Ihre Handfläche schmerzt, als sie damit gegen das Seil schlägt. Sie zwingt ihre Hand, trotz der Schmerzen fest zuzugreifen. Ihr Arm wird lang, aber dann packen die künstlichen Muskeln des Anzugs mit zu. Sie rutscht langsam nach unten, bis ihre Füße direkt auf dem Bohrgestänge landen. Geschafft! Tarzan wäre stolz auf sie.
Sie sieht nach oben. Der Turm thront über ihr wie die Krone eines Baumes. Mehrere Kabel, Schläuche und Ketten hängen wie Lianen nach unten. Sie enden am Bohrkopf. Die Lianen sind ihre Feinde, die sie loswerden muss. Sie beginnt mit den Kabeln. Es handelt sich um Elektrokabel, wie sie gleich beim ersten feststellt, als der Bolzenschneider Funken sprühen lässt. Direkt gefährlich ist das für sie nicht, denn der Griff des Werkzeugs ist isoliert. Allerdings könnte es zu Kurzschlüssen kommen, die auch den Rest des Fahrzeugs lahmlegen – so wie eine einzige defekte Steckdose über den Sicherungskasten den Strom im ganzen Haus abschaltet.
Das sollte sie besser vermeiden. Aber es ist unmöglich. Mit ihrem Bolzenschneider verhält sie sich wie ein Kaninchen, das an einem Kabel nagt. Wenn sie beim Durchtrennen des Kabels zufällig mit der metallenen Schneide zwei unterschiedliche Adern berührt, ist der Kurzschluss unvermeidlich. Sie muss einfach Glück haben, dass nur die Sicherung des Bohrgestänges herausspringt. Da sie eines der dicken Kabel schon durchtrennt hat, bleiben noch drei – drei Lotterien mit unbekanntem Ausgang.
Sie hat Glück. Das ist doch auch mal eine schöne Abwechslung. Sie hatte sich schon beim Reparieren der durchgebrannten Schaltungen gesehen.
Nun die Schläuche. Sie bestehen aus einem gummiähnlichen Material, das auch bei tiefen Temperaturen elastisch bleibt. Das ist normalerweise praktisch, weil die Schläuche sonst brechen könnten. Aber gerade jetzt wäre es einfacher gewesen, denn dann hätte sie die Schläuche brechen können. Mit einem Bolzenschneider ein Stück elastisches Gummi zu durchtrennen, ist gar nicht so einfach, weil das Material versucht, dem Schnitt auszuweichen. Aber es ist machbar. Sie braucht bloß Geduld. Zumindest gehen ihr die Kräfte nicht aus. Immer wieder setzt sie das Werkzeug an, drückt zu und schneidet so Stück für Stück des Gummis heraus.
Nach zehn Minuten hat sie den ersten Schlauch geschafft: Das Material reißt unter seinem eigenen Gewicht, nachdem sie den Mantel lange genug bearbeitet hat. Beim zweiten Schlauch hat sie ihre Technik schon perfektioniert. Sie stellt sich vor, sie wäre ein Biber, der einen Baum durchnagt. Diesmal braucht sie nur sieben Minuten, dann reißt der Rest auseinander. Der dritte Schlauch ist noch etwas stärker, dadurch fließt wohl eine andere Flüssigkeit. Außerdem ist er in der Mitte des Mantels mit einem Drahtnetz ausgestattet, mit dem man ihn wohl heizen kann. Die Flüssigkeit, die er transportiert, scheint kälteempfindlich zu sein. Ewa müht sich diesmal besonders ab, doch auch nach einer Viertelstunde ist kein Ende abzusehen. Schweiß fließt über ihr Gesicht und in ihre Augen.
Sie stellt die Luftzufuhr stärker. Da meldet sich auch noch die Anzug-Elektronik und beschwert sich, dass den Muskeln in den Händen bald die Energie ausgeht. Das fehlt noch! Soll sie den Bolzenschneider etwa mit den Füßen bedienen? Sie regelt die Verstärkung herunter. So hält der Anzug länger durch, aber sie muss sich noch mehr anstrengen. Den größten Respekt hat sie vor der Kette, an der das Bohrgestänge hängt. Sie besteht aus bestem Stahl. Das schafft sie auf keinen Fall mit bloßer Muskelkraft. Aber noch kämpft sie mit dem letzten Schlauch. Sie hackt wie verrückt auf ihn ein, als wäre es eine Schlange, die sie angegriffen hat. Endlich reißt der Schlauch. Sie hat es geschafft! Ewa sieht dem unteren Ende zu, wie es zu Boden fällt, lässt dabei aber das obere Ende aus den Augen, das bis vor dem Reißen noch stark gedehnt war. Nun schnalzt es zurück wie eine Peitsche und trifft sie an der linken Seite. Ewa heult laut auf vor Schmerz! Mit der rechten Hand muss sie sich festhalten, der linke Arm hält den Bolzenschneider. Sie darf ihn nicht fallenlassen, so weh der Schlag auch tut.
Ewa hält durch. Nach drei Minuten wird der Schmerz erträglich. Sie schließt die Augen und atmet tief durch. Es ist keine Frage, dass sie es schaffen wird. Fast alle Hindernisse hat sie beseitigt, nur die Kette fehlt noch.
Die Kette. Sie betrachtet ihre Form und ihre Maße. Es ist eine gute Kette. Sie tut Ewa richtig leid, denn sie muss sie zerstören. Dann bemerkt sie ihre eigenen Gedanken. Sie ist wohl nicht mehr ganz bei sich. Aber das ist wohl auch kein Wunder. Noch diese Kette, dann hat sie ein bisschen Zeit zum Ausruhen. Sie braucht unbedingt eine Pause.
Vorsichtig setzt Ewa den Bolzenschneider an und drückt zu. Den Stahl, aus dem die Kette gefertigt ist, interessiert das kein bisschen. Sie kann nicht einmal einen Span herausschlagen. Aber sie weiß, dass sie auch mit der Kette fertigwerden wird. Sie muss, es gibt keine Alternative.
Eine Säge. Im Werkzeugkasten gibt es doch bestimmt eine Eisensäge. Den Stahl mit dem Bolzenschneider zu quetschen, das bringt nichts. Aber die harten, feinen Sägezähne werden ihm den Garaus machen. Das heißt aber, dass sie ihre Position auf dem Bohrkopf verlassen muss. Nach unten sind es noch etwa drei Meter. Es gibt keine Möglichkeit hinabzusteigen, also muss sie springen. Hoffentlich hält der Anzug etwas vom Aufprall ab. Sie darf nicht zu lange warten, sonst fallen ihr noch mehr Gründe ein, die dagegen sprechen. Ewa springt und rollt sich elegant über die unverletzte rechte Seite ab. Kein Problem! Sie klettert in die Kabine und sucht in der Werkzeugkiste nach der Säge. Es gibt zwei, eine Holz- und eine Eisensäge. Welcher Dummkopf hat ihnen denn eine Holzsäge eingepackt? Die Eisensäge ist leider nicht sehr groß. Das Sägeblatt ist vielleicht zwanzig Zentimeter lang. Das wird harte und vor allem langanhaltende Arbeit.
Ewa klettert die Leiter wieder halb hinab und wiederholt ihren Tarzansprung. Dabei vergisst sie ihre schmerzende linke Seite. Für ein paar Minuten kann sie sich nur festhalten und japsen, dann geht es wieder. Sie beginnt mit der Arbeit. Die Säge schafft es tatsächlich, Span für Span aus dem Stahl zu reißen. Aber es geht verdammt langsam voran. Nach zehn Minuten ist sie gerade einmal einen Millimeter tief gekommen. Nach zwanzig Minuten sind es etwa zwei Millimeter. Den dritten Millimeter schafft sie, als der Anzug nach einer halben Stunde meldet, dass die Kraftreserven der Gelenke nun erschöpft sind.
Die Kettenglieder durchmessen circa 2,5 Zentimeter. Es fehlt also noch mindestens sieben Mal so viel, wie sie schon geschafft hat. Und der Anzug wird ihr ab sofort nicht mehr helfen. Sie braucht einen anderen Weg.
Ewa schließt die Augen. Langsam trocknet die kühle Luft aus der Lebenserhaltung die Mischung aus Schweiß und Tränen auf ihrer Haut. Sie könnte sich auch einfach rückwärts fallenlassen. Niemand würde sie vermissen. Niemand erwartet von ihr, dass sie das vollbringt, was sie sich vorgenommen hat. Man hat sie noch nicht einmal darum gebeten. Sie hat sich die Aufgabe selbst gestellt, also kann sie sie auch abbrechen, wenn sie glaubt, es nicht zu schaffen.
Aber das kommt nicht in Frage. Feige war sie noch nie. Und aufzugeben wäre ein Akt der Feigheit, der Angst nämlich vor den Schmerzen, die unweigerlich noch folgen werden. Sie wird die Kette mit den Zähnen durchnagen, wenn es nötig ist. Ewa stellt sich vor, das Kettenglied, an dem sie sägt, wäre ein Gesicht. Es lacht sie aus, weil sie keine Lösung für ihr Problem findet. Das macht Ewa wütend. Sie würde gar zu gern mit aller Kraft darauf einschlagen.
Hm. Stahl bricht unter Umständen, wenn man auf ihn einschlägt. Er muss bloß kalt genug sein, dann wird er spröde. Alles, was im Rahmen des Spaceliner-Projekts auf den Mars geschickt wurde, kommt mit der hier herrschenden Kälte ganz sicher zurecht. Minus achtzig Grad Celsius oder selbst minus hundert – man hat die Kette sicher aus dem teuersten Spezialstahl hergestellt. Aber es bestand keine Notwendigkeit dass das Material auch mit minus 196 Grad zurechtkommen muss, dem Siedepunkt von flüssigem Stickstoff. Das könnte ihre Rettung sein! Wenn sie irgendwo im Fahrzeug eine Stickstoffflasche findet, kann sie das Kettenglied damit kühlen – und schließlich zerschlagen. Noch einmal springt sie nach unten, klettert die Leiter nach oben und sucht im Inventarverzeichnis nach Stickstoff. Es gibt keinen, die Liste der Fundstellen ist leer. Aber hat sie nicht selbst eine Flasche eingepackt? Ewa versucht, sich an die Abreise vom Spaceliner-Raumschiff zu erinnern. Ja, ihr war in letzter Minute eine einsam herumstehende Stickstoffflasche aufgefallen. Sie muss hier in der Kabine sein. Ewa geht alle Schränke und Ablagen durch. Dann fällt ihr ein, dass sie sie in einem Fach im Boden verstaut hat. Ha! Jetzt wird sie es der stählernen Kette zeigen. Außer der Flasche nimmt sie auch den Bolzenschneider mit, den sie an ihren Werkzeuggürtel bindet. Sie braucht ja etwas, um auf die Kette einzuschlagen, und das Werkzeug scheint ihr gut dafür geeignet.
Der dritte Tarzansprung auf den Bohrzylinder gelingt ihr nicht so gut. Sie springt ein bisschen zu kurz und schafft es gerade so, sich festzuklammern und dabei weder die Gasflasche noch den Bolzenschneider zu verlieren. Sie klemmt die Flasche zwischen die Beine und richtet die Öffnung des Ventils auf das Kettenglied. Dann dreht sie das Ventil auf. Ein dichter Strom des eiskalten Gases tritt heraus, trifft das Metall der Kette und kühlt es. Die Marsluft enthält fast keinen Wasserdampf, doch durch die große Kälte setzt sich trotzdem eine dünne Eisschicht auf der Kette ab. Vielleicht handelt es sich auch um Trockeneis, das aus Kohlendioxid besteht. Ewa zwingt sich zu Geduld. Sie würde gern zwischendurch schon einmal ausprobieren, ob ihre Taktik funktioniert. Aber das wäre unklug. Der Stahl hätte Zeit, sich wieder etwas zu erwärmen. Sie hat nur eine Flasche, und die muss reichen. Also leert sie sie bis zur Neige. Erst dann folgt ihr großer Moment.
Die Flasche enthält überraschend viel Stickstoff. Ihre Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Doch dann ist es so weit. Sie lässt die leere Flasche einfach zu Boden fallen. Jetzt gilt es: alles oder nichts. Ewa nimmt den Bolzenschneider in die rechte Hand, weil sie dort mehr Kraft hat, und hält sich mit links fest. Dann holt sie aus und schlägt zu, so kräftig sie kann. Noch einmal saust der Bolzenschneider auf den Stahl. Sie spürt den Aufschlag, er sendet Schmerzwellen durch ihren Körper, aber sie hört nichts und sie sieht nichts, sie merkt auch nicht, ob sie Erfolg hatte. Wie von Sinnen schlägt sie weiter auf das Kettenglied ein. Es gibt nur diese eine Chance, eine weitere hat sie nicht, es muss jetzt funktionieren oder nie.
Dann merkt sie, das sie fällt. Sie weiß genau, dass sie nicht losgelassen hat, aber ihre Hand ist trotzdem abgerutscht. Es dauert bis zum Aufschlag des Bohrkopfes auf dem Boden, bis sie merkt, warum sie fällt: Sie hat es geschafft! Die Kette ist gerissen und hat das Bohrgestänge freigegeben. Das Fahrzeug hat nun wieder freie Fahrt und sie kann ihren Plan umsetzen. Was war gleich noch einmal ihre Idee? Es ist egal. Zuerst muss sie sich ausruhen. Wie in Trance klettert sie die Leiter nach oben, schließt die Luke der Kabine hinter sich, startet die Lebenserhaltung, reißt sich den Anzug vom Leib und fällt wie tot auf ihre Schlafmatte.