Ewa wacht auf,
weil ihre Blase drückt. Sie erleichtert sich, dann setzt sie sich im Schneidersitz auf ihre Matte. Was gestern passiert ist, kommt ihr wie ein Traum vor. Es war keiner ihrer besten Träume. Dafür war er zu schmerzhaft. Aber sie erinnert sich an das gute Gefühl, das man hat, wenn etwas so funktioniert wie geplant. Allzu oft hatte sie dieses Gefühl in letzter Zeit nicht. Aber das tut ihr nicht leid. Sie hat es ja nicht anders verdient. Die NASA-Astronauten, die haben es nicht verdient. Sie haben geholfen, ohne dazu verpflichtet zu sein, und zum Dank hat sie ihnen das Raumschiff stehlen lassen. Und jetzt ist durch Ewas Eingreifen auch noch ihre Marsstation kaputtgegangen. Wie weit sie wohl schon gekommen sind? Oder harren sie noch in ihrer beschädigten Basis aus? Ewa wüsste es gern, traut sich aber nicht, per Funk nachzufragen.
Dafür ist es zu früh. Zuerst muss sie ihren Plan umsetzen. Das Bohrgestänge ist nun nicht mehr im Weg. Es liegt umgekippt auf dem Boden. Es wird nicht einfach werden, den Bohrer irgendwann wieder in Betrieb zu nehmen, aber es wird auch nicht unmöglich sein. Damit es überhaupt irgendeine Art von Zukunft gibt, braucht sie mit dem Bohrfahrzeug freie Bahn. Sie sieht aus dem Fenster. Der Berg scheint noch weiter gewachsen zu sein. Das ist ihr Ziel.
Sie wühlt im Fach mit den Vorräten und findet ein paar trockene Haferflocken. Aber es ist egal, Hauptsache, ihr Magen füllt sich. Sie trinkt Wasser hinterher, dann putzt sie sich die Zähne. Das muss für heute genügen. Sehnsüchtig denkt sie an den warmen Wasserstrahl einer Dusche, während sie sich Windel und Thermo-Unterwäsche umlegt. Es ist schon seltsam, denkt sie, die Raumanzüge vom Spaceliner ersparen ihr einen großen Teil des Trainings und verstärken ihre Kräfte, aber das Problem der menschlichen Ausscheidungen haben sie noch immer nicht gelöst. Der Körper ist einfach nicht dafür gemacht, in einem geschlossenen System zu vegetieren. Da sich das System auf absehbare Zeit auf dem Mars nicht öffnen lässt, werden sie vielleicht die Körper anpassen müssen. Ewa schüttelt sich bei dem Gedanken. Auch wenn er logisch ist – diese Zeit wird sie zum Glück nicht mehr erleben.
Bevor sie in den Raumanzug steigt, kontrolliert sie dessen Ladestand. Heute Nacht hing der Anzug an der Steckdose in der Kabine. Die künstlichen Muskeln sind nun wieder einsatzbereit. Auch alle Ressourcen vom Sauerstoff bis zum Wasser und zum Nahrungsbrei, den sie über ein flexibles Rohr zu sich nehmen kann, sind aufgefrischt. Sie wischt den Helm noch einmal von innen aus. Die innere Seite der Helmscheibe ist zwar nur ein paar Zentimeter von ihrer Nase entfernt, doch sobald Ewa erst einmal in ihrem Anzug steckt, ist die Scheibe für sie der am schwierigsten erreichbare Ort im ganzen Universum. Der gefährlichste Zwischenfall bei einem Außeneinsatz wäre nicht etwa ein Meteorit, der sie unerwartet trifft, sondern ein Anfall von Übelkeit, durch den sie sich in ihren Helm erbrechen muss. Wenn du nicht sterben willst: den Mund geschlossen halten und runterschlucken, egal, wie es sich anfühlt, hat ihr Ausbilder ihr für diesen Fall geraten. Seltsam, dass sie gerade jetzt daran denkt. An das Gesicht des Ausbilders erinnert sie sich nicht mehr, wohl aber an seine plastische Warnung.
Sie greift nach dem Helmverschluss, zögert dann aber. Eigentlich kann sie noch ein bisschen warten. Falls die Kabine undicht wird, kann sie das Visier immer noch schließen. Mit offenem Helm setzt sie sich auf den Fahrersitz. Sie schaltet den Bildschirm ein und wechselt zur Turmkonfiguration. Dieses Mal klappt alles. Die Hydraulik bewegt die beiden löffelartigen Seitenteile nach oben, und die nehmen den mächtigen Turm mit. Oh Wunder der Technik! Ewa wechselt zur Fahrsteuerung. Die Software warnt, dass das Fahrzeug noch nicht fahrbereit sei, doch die Warnung kann sie manuell überschreiben. Es ist ja Absicht, sie braucht den Turm stehend. Jetzt hat sie wieder die Kontrolle über das Fahrwerk. Sie greift nach den beiden Hebeln. Es sind nur wenige hundert Meter, aber sie muss vorsichtig sein. Mit dem Turm in der Senkrechten, gehalten von der Hydraulik, ist es fast, als balanciere sie freihändig ein rohes Ei auf dem Kopf. Sie gibt nur ganz wenig Schub. Zentimeter für Zentimeter kriecht das Bohrfahrzeug voran. Sie hat es nicht eilig.
Doch dann stoppt die Bewegung. Auf dem Bildschirm erscheint keine Warnung. Sie gibt etwas mehr Gas. Jetzt reagiert das Programm: Es zeigt an, dass die Räder durchdrehen. Was ist da los? Ewa wischt sich über die Stirn. Ein Hindernis muss ihr im Weg liegen. Sie denkt an ihre Wanderung zum Berg. Vor dem Fahrzeug hatte es kein Hindernis gegeben. Also muss der Bohrkopf schuld sein. Vielleicht ist er doch nicht umgekippt, sondern steht noch. Eine andere Erklärung gibt es nicht. Dann reicht die Bodenfreiheit des Fahrzeugs nicht. Ewa überlegt fieberhaft. Sie könnte aussteigen und versuchen, das Bohrgestänge mit der Hand umzustoßen, David gegen Goliath. Oder sie setzt den großen Bruder von Goliath in Bewegung und stößt damit den Bohrkopf einfach um. Wenn sie etwas zurücksetzt und dann mit vielleicht fünf Kilometern pro Stunde gegen das Hindernis stößt, müsste die Trägheit der hundert Tonnen des Fahrzeugs den Bohrkopf eigentlich umkippen lassen. Dann wäre er aus dem Weg. Ob das allerdings der Turm mitmacht, der lediglich an einer Querstange zwischen den beiden Löffeln hängt? Wenn er zu sehr ins Schwanken gerät, könnte er das gesamte Fahrzeug umreißen. Dann ist ihr Plan gescheitert, bevor sie so richtig mit der Umsetzung begonnen hat.
Ewa greift nach den Steuerhebeln. Sie muss das Risiko eingehen. Sie zieht sie gleichzeitig nach hinten, sodass das Fahrzeug sich langsam rückwärts bewegt. Dann beschleunigt sie nach vorn. Sie betrachtet die Geschwindigkeitsanzeige. Die angezeigte Zahl mit zwei Nachkommastellen nähert sich der fünf. Ewa merkt kaum, dass sie sich bewegt. Von außen gesehen, rollt das Bohrfahrzeug sehr gemächlich. Doch durch seine schiere Masse baut es einen mächtigen Impuls auf. Gleich muss das Hindernis kommen. Ob ihre Rechnung aufgeht? Wenn sie Pech hat, schiebt das Fahrzeug zwar den Bohrkopf zur Seite, doch durch den Aufprall gerät der Turm ins Wackeln und stürzt um. Drei – zwei – eins ... da ist ein dumpfes Poltern zu ihren Füßen. Das Bohrfahrzeug scheint sich nicht darum zu kümmern, es rollt einfach weiter. Auf dem Bildschirm kontrolliert Ewa den Turm. Er schwankt leicht, aber höchstens um zehn Grad in beide Richtungen. Das können sie Träger aushalten.
Sie hat es geschafft! Zumindest bis hierher. Die spannendste Stelle folgt ja erst noch. Sie sieht aus dem Fenster. Der Berg scheint dicht vor ihr zu sein. 150 Meter noch, schätzt sie. Der Plan besteht darin, möglichst schnell auf ihn zuzufahren. Beim unvermeidlichen Aufprall kippt der schwere Turm nach vorn, hofft Ewa, und reißt ein Loch in die Haut dieser Beule, die so schnell aus dem Marsboden gewachsen ist.
Der Plan hat nur eine Schwachstelle: Sie kann nicht beurteilen, wie stabil die Konstruktion des Turmes ist und welche Kräfte die Hydraulik ausgleichen kann. In einem idealen Szenario würde sie möglichst schnell fahren, doch dann kippt der Turm vielleicht zu früh. Fünf Kilometer pro Stunde, das hat sie gerade beim Überfahren des Bohrgestänges getestet, sind noch kein Problem. Wie wird es bei 15 km/h aussehen? So schnell ist sie unterwegs gewesen, als der Turm noch waagerecht auf dem Fahrzeug lag. Ob er dieses Tempo auch im Stehen so lange durchhält, bis sie gegen den Berg prallt?
Ewa entscheidet nach Gefühl. 15 km/h sind vielleicht zu viel, zehn könnten zu wenig sein. Die Zahl zwölf klingt gut. Sie schiebt beide Steuerhebel nach vorn. Statt auf den Berg vor dem Fahrzeug konzentriert sie sich auf den Bildschirm, der die Schwingungen des Turmaufbaus zeigt. Der massive Turm bleibt angesichts der Beschleunigung überraschend ruhig. Das Unterteil schwingt etwas nach hinten und bewegt sich dann wieder nach vorn. Die große Masse ist hier wohl ein echter Vorteil, so ein Brocken setzt sich nicht so schnell in Bewegung. Hoffentlich macht das ihre Kalkulation nicht zunichte. Denn am Ende, nachdem das Fahrzeug auf den Berg gestoßen ist, soll der Turm ja umkippen. Sie gibt doch noch etwas mehr Gas und beschleunigt auf 15 Kilometer pro Stunde.
Dann hält sie den Atem an. Gleich muss es so weit sein. Sie sieht bereits den Knick. Der Berg ragt dicht vor ihr auf. Hoffentlich reißt die Kabine nicht aus ihrer Verankerung. Daran hat sie bisher gar nicht gedacht. Schnell schließt sie den Helm, für den Fall, dass die Kabine zerstört wird.
Es folgt ein Ruck. Die Trägheit zerrt an ihrem Gurt. Das Bohrfahrzeug steht. Der Berg ist noch ein Stück entfernt. Der Turm, das sieht sie auf dem Display, schwankt durch den plötzlichen Stop, fällt aber nicht. Sie hat Glück im Unglück. Aber warum hält das Fahrzeug? Was ist nun schon wieder schiefgelaufen?
Der Sand, jetzt fällt es ihr ein. So groß die Räder auch sind, sie müssen sich in den Staub gegraben haben, der sich direkt vor dem Berg abgelagert hat. Ewa schlägt wütend mit der Faust auf das Pult, gleichzeitig rinnen Tränen ihre Wangen hinab. Der Berg liegt so greifbar nah! Aber der Sand hat das Bohrfahrzeug nicht mit einem großen Ruck wie bei einem Aufprall, sondern allmählich gestoppt. Der Turm war trotzdem kurz vor dem Kippen gewesen. Ewa überschlägt die Entfernung. Es hätte gereicht! Der oberste Teil des Turms hätte den Berg getroffen. Aber er ist ja nicht umgestürzt.
Sie betrachtet den Bildschirm. Die Hydraulik der Löffelstützen hat den Turm vor dem Umkippen bewahrt. Die Automatik ist sofort eingeschritten, um Ewa vor dem zu bewahren, was die Automatik als Unfall klassifiziert hat. Sie tippt auf ein paar Menüs. Das Automatik-Programm lässt sich überschreiben. Sie kann die Hydraulik auch selbst steuern. Ewa denkt an ihre Kindheit. Einmal hat sie von ihrem Kinderstuhl aus den Tisch immer wieder angestoßen, bis irgendwann die große Flasche umgekippt ist, aus der ihr Vater so oft getrunken hat.
Ob sie diesen Effekt mit der Hydraulik erreichen kann? Sie beugt sich nach vorn. Die beiden löffelförmigen Träger kann sie über den Bildschirm steuern. Sie lässt sie mit höchstmöglichem Tempo 30 Grad zur Seite schwenken. Dann geht es zurück. Und noch einmal. Der Turm reagiert schon; sein Unterteil setzt sich in Bewegung und macht die Schwenks langsamer und gegenläufig mit. Sie muss die Träger im richtigen Moment bewegen, so, als würde sie eine Kette in den Fingern halten und mit kleinem Anstoß versuchen, den Anhänger am Ende der Kette kräftig schwingen zu lassen. Der Turm reagiert zwar sehr langsam, weil er so schwer ist, aber allmählich bekommt sie ein Gefühl dafür. Die Hydraulik muss gar nicht besonders schnell arbeiten, sie muss sie nur im richtigen Moment ansteuern. Dann schaukelt sich die Bewegung des Turms mit der Zeit auf. Ewa schöpft wieder Hoffnung, obwohl sie weiß, dass am Ende noch ein Problem wartet. Es sieht gut aus, die Ausschläge des Turms vergrößern sich. Aber ob er schließlich nach von oder nach hinten kippt, ist reiner Zufall. Oder genauer: es hängt davon ab, in welche Richtung der Turm sich gerade neigt, wenn er zu viel Schwung hat.
Aber welche Auslenkung hält die Konstruktion aus? Das kann sie nur vermuten. Der Turm zeigt sich sowieso schon sehr robust. Auf dem Mars wäre das normalerweise unnötig, hier gibt es keine schweren Stürme, die er überstehen muss. Man könnte fast denken, die Konstrukteure hätten vorausgesehen, was sie mit ihrem Design anstellen würde. Ewa muss aufpassen. Den richtigen Moment zu erwischen, wird immer schwieriger, weil die Bewegungen sich beschleunigen. Es muss bald so weit sein. Der Turm neigt sich schon bedenklich zur Seite. Bald wird sein Schwerpunkt über die Grundfläche hinauswandern – und der Turm sein Gleichgewicht verlieren. Ewa steuert die Hydraulik hin und her und treibt den Turm damit zu akrobatischen Höchstleistungen. Sie wirft einen kurzen Blick aus dem Fenster. In der Realität sieht das Hin- und Herschwingen der dreißig Meter hohen Konstruktion beängstigend aus, auf dem Bildschirm wirkt es wie eine technische Zeichnung. Wenn sie nur wüsste, wo genau sich der Schwerpunkt des Turms befindet! Ewa bewegt abwechselnd den linken und den rechten Seitenarm, sie schaukelt einen riesigen Stahlaufbau, indem sie mit den Fingern auf einen Bildschirm tippt. Eigentlich könnte die Menschheit ziemlich stolz darauf sein, was sie schon erreicht hat. Denn ganz nebenbei führt sie ihr gewagtes Experiment ja auch weit entfernt von der Heimat aus, auf dem Planeten des Kriegsgottes.
Wie lange noch? Inzwischen wackelt auch die Kabine im Takt mit. Der massive Turm rüttelt an seiner Basis. Er kommt ihr vor wie ein Tier, das freigelassen werden will. In einem uralten Film hat sie mal gesehen, wie sich ein gentechnisch erzeugter Raubsaurier aus seinem Gefängnis befreit hat. Wüsste man nicht, dass eigentlich sie hier die Regie führt, könnte man den Turm für so eine gefährliche Kreatur halten. Hin und her, hin und her geht es. Ewa wird ungeduldig. Die Ausschläge steigern sich kaum noch. Sollte ihr Plan doch noch scheitern? Sie muss Geduld haben. Immer wieder setzt sie die Hydraulik in Gang.
Der Bildschirm meldet, dass sich einige Gelenke schon heißgelaufen haben. Wenn Stahl auf Stahl reibt, wird es warm, das ist ganz normal. Erwärmt sich ein Material, dann dehnt es sich aus. Wenn es zu heiß wird, werden die Gelenke blockieren. Dann ist Schluss mit den Schwingungen. Besonders gefährdet ist das Gelenk, in dem sich die Stange dreht, die den Turm in der Schwebe hält. Daran hängt fast das gesamte Gewicht der Konstruktion. Die Temperatur steigt in einen Bereich, den die Software als stabilitätsgefährdend einstuft. Hoffentlich kippt der Turm nun bald! Ewa will jetzt eine Entscheidung. Sie beschleunigt das Schaukeln noch. Die Hitze im Gelenk steigt von Sekunde zu Sekunde. Hier bahnt sich gerade eine Entscheidung an, das spürt sie.
Und dann ist es so weit. Das Schultergelenk, das den Turm hält, blockiert plötzlich. Doch die Trägheit der riesigen Metallmasse ist damit nicht einverstanden. Ewa hört ein lautes Geräusch, einen unerträglichen Ton, das Reißen von Stahl. Der Turm bewegt sich weiter, obwohl das Gelenk feststeckt. Das Unterteil schwingt vom Berg weg, also bewegt sich die Turmspitze auf den Berg zu. Der Turm sprengt seine Ketten. Die Aufhängung bricht, als sei sie spröde wie Glas. Die schwere Turmspitze fällt wie in Zeitlupe. Ewa sieht ihr fasziniert durch das Fenster zu. Dann kracht sie auf den Untergrund. Staub spritzt auf und bildet einen undurchsichtigen Vorhang. Ewa hört zwar nichts, aber sie spürt den Widerhall im ganzen Körper.
Doch damit ist die von ihr herbeigeführte, gewollte Katastrophe noch nicht zu Ende, die vielleicht gleichzeitig die letzte Möglichkeit ist, die NASA-Basis doch noch zu retten. Das hintere Ende des Turms nimmt das Fahrzeug mit. Es hebt die schwere Plattform an wie ein Stück Papier, lässt sie wieder auf den Boden krachen und stürzt sich dann auf sie. Einen halben Meter neben ihr kracht eine Metallstrebe in die Kabine. Sie hat eine solche Wucht, dass sie die Kabine komplett durchtrennt. Der vordere Teil, in dem sie sich befindet, reißt aus seiner Verankerung und wird durch die Luft gewirbelt. Ewa ist an ihrem Sitz angeschnallt. Sie nimmt die Arme vor den Helm. Wenn sie abstürzt, ist die Helmscheibe besonders gefährdet. Die halbe Kabine taumelt. Glasscherben rieseln herab, können ihr jedoch nichts anhaben. Ewa ist froh, dass sie den Anzug trägt. Dann wird ihr Sitz zur Seite geschleudert. Mit einem Mal sitzt sie nicht mehr in der Kabine. Sie fliegt durch die Luft. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie, wie ein riesiger Stahlträger – das muss einer der beiden Löffel sein – die Reste der Kabine plattmacht, in der sie eben noch saß. Sie spürt eine seltsame Mischung aus Panik, Angst und dem Gefühl, Glück gehabt zu haben. Dann stürzt sie samt Sitz seitlich auf den Boden. Wieder muss ihre linke Seite den Schmerz ertragen. Ihr Gehirn entscheidet, dass es nun zu viel für sie ist, und Ewa wird ohnmächtig.
»Hallo Ewa,
es ist Zeit zum Aufstehen!«
Sie öffnet die Augen. Ihre linke Körperseite schmerzt stark, aber es ist auszuhalten. Sie liegt auf der rechten Seite. Über ihre Schultern verlaufen Gurte. Offenbar ist sie immer noch angeschnallt. Sie löst das Gurtschloss und rutscht tiefer in den Sand. Sie lebt, das ist doch etwas. Wer hat sie da gerade geweckt? Sie dreht den Kopf zur Seite, sieht aber niemanden. Dann fällt ihr Freitag wieder ein.
»Warst du das, Freitag?«
»Meinst du diesen Schrotthaufen hier? Daran bin ich unschuldig.«
Ewa bemerkt ein paar verbogene Stahlträger in ihrem Blickfeld. Es stimmt, sie hat versucht, den Bohrturm in den Berg zu rammen. Ob es ihr gelungen ist? Sie muss schnell nachsehen. Wer weiß, wie lange die von ihr geschlagene Öffnung im Berg bestehen bleibt. Ewa zieht die Beine an und versucht, auf die Knie zu kommen, doch der Schmerz in der linken Körperhälfte hindert sie daran.
»Lass dir Zeit«, sagt Freitag. »Die Sonne geht erst in zwei Stunden unter.«
Das Ding in ihrem Kopf hat Recht. Sie muss es langsam angehen lassen. Aber wenn die Sonne in zwei Stunden hinter dem Horizont verschwindet, muss sie den halben Tag lang bewusstlos gewesen sein. Hoffentlich hat Freitag nicht seine Chance genutzt.
»Hast du irgendwas mit meinem Körper gemacht, während ich ohnmächtig war?«
»Keine Chance. Ich habe es probiert, aber der Schmerzreiz war noch zu stark. Dein Stammhirn hat dich sofort wieder in die Bewusstlosigkeit geschickt.«
»Du hast was probiert?«
»Dich zu wecken, mehr nicht. Wir haben heute noch ein bisschen zu tun.«
»Wir? Was haben wir zu tun?«
»Die kläglichen Reste der Menschheit retten und so. Deinen Plan umsetzen.«
»Und was hast du damit zu schaffen, Freitag?«
»Wenn du das Problem nicht löst, wirst du sterben, weil du dann sterben willst. Und du wirst mich mitnehmen. Ein toter Körper nutzt mir gar nichts. Ich will nicht sterben.«
»So etwas hast du schon einmal gesagt. Ich weiß immer noch nicht, ob ich dir glauben soll.«
»Damit habe ich das gleiche Problem wie du mit den anderen Menschen. Du willst ihnen deine Ehrlichkeit beweisen, indem du versuchst, ihnen zu helfen. Gib mir bitte auch diese Chance.«
Ewa seufzt. Diese Selbstgespräche sind anstrengend. Sie hat das Gefühl, gegen ihr Unterbewusstsein zu argumentieren. Dabei ist Freitag gar kein Teil von ihr. Er ist ein Produkt, ein Spion, den man ihr eingepflanzt hat.
»Wir werden sehen«, sagt sie. »Und wie geht es jetzt weiter?«
»Du solltest aufstehen und nachsehen, was der Einschlag des Turms bewirkt hat.«
»Das klingt, als hättest du eine Ahnung. Weißt du mehr als ich?«
Sie lacht, aber es ist nicht ihr eigenes Lachen, das sie schon so lange kennt.
»Das wäre schön, aber ich weiß nicht mehr als du, eher weniger, weil ich nicht so umfassend trainiert wurde.«
»Und was kannst du, was ich nicht kann?«
»Ich bin ziemlich gut im Rechnen, das schließt auch Simulationen ein. Mathematik und Informatik sind meine Spezialgebiete.«
»Gut. Dann stehe ich jetzt auf.«
Ewa ächzt, als sie sich mit dem rechten Arm auf dem Boden abstützt und so langsam ihren Körper hochdrückt. Der Anzug hilft ihr dabei, wofür sie gerade sehr dankbar ist. So schafft sie es erst auf die Knie, und dann steht sie. Der Staubvorhang an der Aufprallstelle hat sich gelegt. Die Spitze des Turms hat sich in den Berg gebohrt. Hinter dem Verhau aus verbogenen Stahlträgern zeichnet sich Dunkelheit ab. Vielleicht so etwas wie eine Höhle? Dass der Berg nicht mit Magma gefüllt ist, war eigentlich schon vorher klar gewesen, aber nun hat sie den endgültigen Beweis. Sonst würden längst Lavaströme aus den Löchern quellen und sie wäre im glühenden Gestein verbrannt, als sie noch ohnmächtig war.
Also doch ein anderes Phänomen. Das macht die Angelegenheit nur noch rätselhafter. Ewa klopft sich den Staub vom Anzug. Dann tastet sie vorsichtig ihre linke Seite ab. Sie hat offenbar Glück gehabt. Es scheint bei der Prellung geblieben zu sein. Wahrscheinlich haben sie die Seitenlehnen des Fahrersitzes vor Schlimmerem bewahrt. Sie wirft einen Blick auf das Fahrzeug. Die Kabine ist kaum wiederzuerkennen. Sie bemerkt ihre Reste nur deshalb, weil das Bohrfahrzeug nirgendwo sonst Fenster hatte. Der Turmaufbau scheint ihr kaum reparabel zu sein. Die zehnachsige Plattform hingegen wirkt, als sei sie fahrbereit. Vielleicht können sie aus dem Material des Turms einen neuen Bohrturm errichten. Er braucht ja nicht unbedingt einklappbar zu sein. Der Bohrkopf liegt einsam weiter hinten, auch er müsste mit den Mitteln des Mars wieder herzurichten sein.
Langsam macht Ewa einen Schritt nach dem anderen. Der weiche Sand unter ihren Füßen erinnert sie an das Meer und den Strand. Sie wischt die Bilder zur Seite. Der Berg wartet auf sie.
Kurze Zeit
später erreicht sie den Knick und beginnt mit dem Aufstieg. Sie muss nur ein paar Meter nach oben und kann sich dabei an herumliegenden Stahlteilen festhalten. Es sieht aus, als sei ein riesiger Baum aus Eisen von einem Sturm gefällt worden. Seine Äste haben sich nun ineinander verkeilt.
Sie erreicht die Spitze, die ein großes Stück aus der Schale des Berges herausgeschlagen hat. Das, was von unten wie eine Höhle aussah, ist aus der Nähe nur eine wenige Meter tiefe Öffnung. Ewa fühlt sich erneut an ein Ei erinnert. Wenn man von einem gekochten Ei ein Stück Schale entfernt, kommt darunter keine dunkle Höhlung zum Vorschein, sondern der Inhalt, das geronnene Eiweiß. Das Eiweiß dieses Berges, das sich hinter einer meterdicken Schale verbirgt, ist von einem tiefen Schwarz. Sie leuchtet es mit der Helmlampe an, aber das Material scheint das Licht geradezu in sich aufzunehmen, statt es zu reflektieren. Darum sah alles von unten wie eine Höhle aus. Ewa misst die Temperatur. Das schwarze Material ist genauso kalt wie die Umgebung. Sie versucht, etwas abzukratzen, hat aber keinen Erfolg.
Plötzlich wackelt der Berg. Ewa hält sich an einer Metallstrebe fest. Was ist das nun schon wieder? Kurz vor ihr platzt die Eierschale weiter auf. Ein großes Stück Marsboden löst sich. Sie muss zur Seite springen, um nicht davon erfasst zu werden. Das harte Erdreich rollt den Berg hinunter.
Darunter erscheint mehr von dem schwarzen Material. Ewa klettert in die Öffnung und hofft dabei, dass nicht noch mehr Marsboden abgesprengt wird. Sie erreicht die schwarze Wand und streicht mit dem Handschuh darüber. Das Material ist sehr glatt, obwohl es lange Zeit vom Marsboden bedeckt gewesen sein muss. Sie wühlt in ihrer Werkzeugtasche. Da ist das Messgerät, das sie gesucht hat. Sie misst die Leitfähigkeit des schwarzen Stoffes. Der Wert ist hoch, obwohl es nicht wie Metall aussieht. Vielleicht eine Konstruktion aus Kohlenstoff-Nanoröhrchen?
Konstruktion. Das Wort lässt ihr Schauer über den Rücken laufen. Es wird immer seltsamer. Aber sie hat noch nie von einem physikalischen Prozess gehört, der solch ein Material erzeugt. Muss man dann nicht von einer Konstruktion sprechen? Bedeutet das nicht im Umkehrschluss, dass das, was sich in dem Berg versteckt, nicht natürlichen Ursprungs sein kann? Vor ihr liegen vielleicht zehn Quadratmeter des Objekts frei. Wie groß mag es wirklich sein? Gestern hat sie auf dem Berg gestanden, sie erinnert sich gut. Der Berg hat mittlerweile die Abmessungen einer Kleinstadt. Wenn sein Bauch nun nicht hohl ist, sondern von der Konstruktion ausgefüllt wird?
Sie tastet die Fläche vor ihr ab. Vielleicht ist das ein allzu menschlicher Gedanke, aber sollte es nicht irgendwo einen Eingang geben? Wozu auch immer das Objekt dient, ohne Interaktion mit der Umgebung ist es sinnlos. Also muss es Öffnungen haben, Luken, Türen, was auch immer. Wer sollte etwas bauen, das sich von dem Planeten komplett isoliert? Natürlich ist es möglich, dass es ausgerechnet hier, auf diesen zehn Quadratmetern, keine solche Öffnung gibt. Es wäre sogar ein ausgesprochen glücklicher Zufall, würde sie jetzt etwas finden.
Aber sie hat Glück. Das wurde auch Zeit. Sie spürt in der sonst so gleichmäßigen Oberfläche eine Rille unter dem Handschuh. Es ist eine dünne Spur, die sich wie ein umgedrehtes U über das Schwarz zieht. Die Rille bleibt allerdings im Schein der Helmlampe unsichtbar, so gut absorbiert das Material das Licht. Doch sie ist da, das sagt ihr Tastsinn. Die Gestalt erinnert sie an ein Portal. Es ist etwas niedriger als sie selbst und so breit, dass sie hindurchgehen könnte – wenn es mehr als eine simple Rille wäre. Dafür hat sie allerdings keinen Anhaltspunkt. Vielleicht handelt es sich ja auch bloß um Dekoration. Dass sie unsichtbar ist, spricht zwar dagegen, aber der visuelle Sinn ist nur einer von vielen.
»Hast du irgendeine Idee, Freitag?«
Vielleicht hat das Ding in ihrem Kopf ja einen brauchbaren Vorschlag. Ewa gehen allmählich die Ideen aus.
»Willst du es mal mit Anklopfen probieren?«
Ewa pocht gegen die Tür, aber nichts passiert.
»Das habe ich doch nicht ernst gemeint«, sagt Freitag.
»Ich bin auch für verrückte Ideen zu haben, wie du siehst.«
Ein dumpfer Schlag erschüttert den Berg. Staub und kleine Steine lösen sich von den Resten des Marsbodens über ihr.
»Ich fürchte, du kommst hier nicht weiter«, sagt Freitag.
Ewa fühlt einen zweiten Schlag, Und es scheint, als würde sich der Berg bewegen.
»Ja, eine Sackgasse«, antwortet sie. »Wir sollten hier schnellstens raus, bevor uns der Marsdreck von oben verschüttet.«
Die Gefahr ist real. Über ihr befinden sich noch einige hundert Meter Marsboden, die sich lösen werden, wenn der Inhalt des Berges weiter so rumort. Sie muss hier weg. Ewa dreht sich um und geht nach vorn zum Berghang. Die Sicht ist schlecht. Rund um den Berg hat sich ein Staubvorhang gelegt. Sie klettert vorsichtig nach unten. Ewa will auf jeden Fall vermeiden, noch einmal abzustürzen. Beim nächsten Mal wird es vielleicht nicht wieder so glimpflich enden. Sie erreicht problemlos den sandigen Bereich vor dem Berg. Hier haben sich inzwischen auch ein paar größere, harte Brocken verteilt, die der Berg von sich geschleudert haben muss. Der Bereich ist also unsicher. Würde so ein Ding sie treffen ... sie denkt besser nicht daran. Ewa bringt sich hinter dem Bohrfahrzeug in Sicherheit. Der Zehnachser schützt sie hoffentlich durch sein meterhohes Chassis vor Einschlägen. Hier ist sie zwar einigermaßen sicher, aber sie kann nicht bleiben, denn sie ist keinen Schritt vorangekommen. Ewa sieht sich den Berg durch das Fernglas an. Da passiert etwas, das ist sicher. Aber was?
»Hallo Ewa«, wird sie plötzlich über den Helmfunk gerufen. Es ist Mikes Stimme. Sie dreht sich um, aber in ihrer Nähe ist niemand. Die Reichweite des Helmfunks ist begrenzt.
»Wer ist da?«, fragt sie.
»Sieh mal nach oben.«
Ewa hebt den Kopf und erkennt eine Drohne. Sie winkt, und die Drohne kippt kurz nach links und nach rechts.
»Wir sind anderthalb Tagesreisen entfernt, aber wir leiten den Funkverkehr über die Drohne. Anders konnten wir dich nicht erreichen. Wie geht es dir?«
»Gut«, sagt Ewa und berichtet, was sie erreicht hat. »Ich versuche immer noch herauszufinden, was es mit dem Berg auf sich hat. Ihr kommt gerade richtig, ich glaube, da tut sich etwas.«
»Wächst der Berg noch?«, fragt Mike.
»Jedenfalls nicht wie vorher. Es gibt aber immer wieder Erschütterungen.«
»Die haben wir auch gemessen. Und was hast du jetzt vor, Ewa?«
Sie nimmt das Fernglas erneut vor die Augen. Sie kann nicht glauben, was sie da sieht: Wo vorher der Knick war, öffnet sich gerade ein Spalt, der jedoch nicht in die Tiefe zu führen scheint, sondern waagerecht in den Berg hinein.
»Ich schaue mir an, was da passiert, und versuche, in den Berg vorzudringen. Vielleicht kann ich ihn irgendwie anhalten«, sagt Ewa.
»Das ist keine gute Idee«, mischt sich Freitag mit ihrer eigenen Stimme ein. »Siehst du die riesigen Erdbrocken, die dort auf den Boden krachen?«
»Ähm, führst du Selbstgespräche?«, fragt Mike per Funk.
»Ich, ja, manchmal, wenn ich allein bin«, sagt sie. »Ist eine seltsame Angewohnheit, ich weiß.«
Hoffentlich schluckt Mike das.
»Verstehe«, antwortet er. »Die Drohne zeigt mir gerade ziemlich dramatische Bilder vom Fuß des Berges.«
Mike hat es geschluckt. Sie haben aber auch gerade genügend andere Probleme.
»Ja, und deshalb muss ich dort jetzt auch hin«, sagt Ewa zu Mike und Freitag gleichzeitig.
Dann läuft sie los. Mit den Superkräften des Anzugs fühlt sie sich fast wie Wonderwoman. Sie rennt schneller als jeder Erdbrocken fallen kann, glaubt sie. Aus ihrem Sprint heraus sieht Ewa, dass die Spalte nun einen Meter hoch ist. Es wirkt fast, als würde sich der gesamte Berg in die Luft erheben wollen. Allerdings scheint der Regolith des Marsbodens nicht so viel von dieser Idee zu halten, denn immer wieder brechen große Stücke ab. Sie sucht sich einen Bereich aus, in dem ein großer Teil des Materials bereits zu Boden gestürzt ist. Der Spalt scheint sich hier nur noch für zehn oder fünfzehn Meter fortzusetzen. Ewa hat nicht genug Zeit, sich davon zu überzeugen, doch ihr scheint, als würde der Spalt zum inneren Ende hin heller. Das ist zwar fast unmöglich, aber ein Grund mehr, den Plan umzusetzen: Sie wird in den Spalt hineinlaufen, wenn nötig hineinkriechen, so weit es geht. Irgendwo muss es Ein- und Ausgänge geben.
Sie springt in vollem Lauf über zwei Hindernisse und erreicht den Spalt. Schnell klettert sie hinein. Auf den ersten zwei Metern muss sie noch kriechen, doch dann ist die Decke hoch genug, damit sie mit gesenktem Kopf gehen kann. Sie beeilt sich, um möglichst schnell keinen Marsboden mehr über sich zu haben, denn sie wird das Gefühl nicht los, dass der noch komplett abbrechen wird. Tatsächlich wird es schnell heller. Nach etwa dreißig Metern verändert sich das Material über ihr. Es handelt sich nicht mehr um Regolith, sondern um das glatte, schwarze Material, das sie vorhin schon untersucht hat. Je tiefer sie kommt, desto stärker scheint ihr ein Wind entgegen zu blasen. Sie merkt es daran, dass Staub nicht nach unten fällt, sondern fast waagerecht weggetragen wird. Unter dem Berg muss es einen Überdruck geben. Und da ist Licht, das sieht sie nun ganz deutlich. Es ist ein warmes, oranges Licht, auf das sie zuläuft.
Dann übertritt sie die Grenze und bleibt unwillkürlich stehen. Es ist unmöglich, weiterzugehen. Jetzt weiß sie, was der Berg versteckt, auch wenn sie es nicht fassen kann. Ewa steht am Rand einer mächtigen Kuppel, die wie der Dom einer unbekannten Religion wirkt. Sie sieht auf ihr Universalgerät. Hier gibt es eine Atmosphäre mit etwa einem Zehntel des Erddrucks. Sie startet eine Schnellanalyse. Die Luft besteht vor allem aus Kohlendioxid. Schade, denkt sie. Aber es ist wenigstens warm, etwa zehn Grad Celsius. Dafür sorgen vermutlich die an der Decke der Kuppel hängenden künstlichen Sonnen, die warmes Licht abstrahlen.
Die Kuppel ist freitragend, jedenfalls erkennt Ewa nichts, das sie stabilisiert, und sie beherbergt eine seltsame Maschinerie. Dicke Rohre winden sich in die Höhe, treffen sich und entfernen sich wieder. Wo sie auf die Kuppel treffen, erkennt Ewa dreidimensionale Formen, die an Eier erinnern. Aus ihren Spitzen tritt Dampf aus. Sie hängen so an der Kuppel, dass ihre Symmetrieachsen alle auf denselben Punkt zeigen. Ewa sucht den Punkt und erschrickt. Die Achsen zeigen alle auf sie. Wird sie etwa beobachtet? Lebt da etwas? Sie merkt, dass sie kurz vor einer Panik steht. Deshalb atmet sie bewusst ein und aus. Sie muss sich beruhigen. Es ist ein Zufall, dass die Spitzen der Eier in ihre Richtung weisen, mehr nicht. Zur Kontrolle bewegt sich Ewa am Kuppelrand entlang. Mist. Die Symmetrieachsen verfolgen sie. Ewa stellt sich vor, dass statt der Dampffontänen gleich Laser aus den Köpfen der Eier schießen, doch als sie weitergeht, passiert gar nichts. Sie beruhigt sich wieder. Wahrscheinlich handelt es sich um eine optische Täuschung.
Am beeindruckendsten sind die großen Räder, die in der Mitte der Halle von der Decke hängen. Ewa zählt sechs davon, die in einem Sechseck angeordnet sind, ein weiteres hängt in der Mitte. Zuerst hält Ewa sie für scheibenförmige Lampen, weil sie weißes Licht abstrahlen. Doch dann erkennt sie, dass sich innerhalb der Scheiben etwas sehr schnell dreht. Wahrscheinlich geht der Luftstrom, der nach außen drängt, von diesen gewaltigen Ventilatoren aus.
In welch seltsame Konstruktion ist sie da geraten? Es dürfte unmöglich sein, die Funktionsweise dieser Maschinerie herauszufinden. Ewa fühlt sich wie eine Ameise, die zufällig unter einem Auto hindurchläuft und einen Blick nach oben in den Motorraum wirft. Sie wird mit ihrem Ameisen-Wissen und aus ihrer Ameisen-Perspektive nie in der Lage sein, das Prinzip des Elektromotors zu verstehen. Aber wenn sie verfolgt, was das Ding tut, unter dem sie sich aufhält, wird sie seinen generischen Zweck herausfinden – beim Auto wäre das die Fortbewegung. Und wenn sie dann auch noch die Gelegenheit ergreifen und über den Reifen und den Motorraum zum Fahrer aufs Cockpit klettern würde? Dann wird sie zwar nie fähig sein, dem Menschen ins Lenkrad zu greifen. Aber vielleicht kann sie eine Leitung kurzschließen und das Fahrzeug so zum Anhalten zwingen. Genau das ist ihre Aufgabe, nur so kann sie den Berg unschädlich machen, der kurz davor ist, ihre Ameisenfreunde zu überfahren. Dass die kleine Ameise den Kurzschluss kaum überleben kann, verdrängt Ewa für den Moment. Wichtig ist zunächst, dass sie den Weg ins Cockpit findet, dann wird sie sehen, was zu tun ist.
Ewa berührt noch einmal den schwarzen Rand. Der Spalt hinter ihr scheint wieder etwas niedriger geworden zu sein. Dafür verstärkt sich der Wind, der ihr aus dem Zentrum entgegenweht. Ewa muss an ein Luftkissenboot denken. Eine Zeitlang hatte man diese Technik auf der Erde bei Amphibienfahrzeugen eingesetzt. Ob diese Konstruktion sich auf ähnliche Weise mit Hilfe eines Überdrucks vom Boden lösen kann? Das würde bedeuten, dass sie wohl auch in der Lage wäre, sich über den Marsboden zu bewegen. Ein wandernder Berg! Diese Vorstellung ist aber auch gar zu fantastisch. Die Frage ist dann ja auch: Wohin will der Berg, und wer steuert ihn dorthin?
Antworten wird sie nur finden, wenn sie nicht länger hier herumsteht. Ewa geht in den Saal hinein. Der Vergleich mit der Ameise kommt ihr wieder in den Sinn. Vielleicht ist es ja auch ein Vorteil, eine Ameise zu sein, denn wer beachtet so ein Insekt schon. Je näher sie der Mitte der Kuppel kommt, desto stärker wird der Wind. Bald muss schon der Anzug dabei helfen, sich gegen den Luftstrom zu stellen. Sie hat vielleicht ein Drittel des Weges zurückgelegt, als sie feststellen muss: So kommt sie nicht weiter. Mit dem Universalgerät misst sie die Dichte der Atmosphäre. Sie liegt schon beim halben Erdwert! Die Mitte der Kuppel wird die Ameise nicht erreichen. Sie braucht einen besseren Weg. Ewa sieht sich um. Die gebogenen Rohre enden zum Teil knapp über der Oberfläche. Sie sind zum größten Teil so dick, dass ein Mensch bequem hindurch passt.
Zum nächstgelegenen Rohr sind es bloß zwanzig Meter. Sie muss nur aufpassen, dass der Wind sie nicht wegbläst. Ewa hat schon wieder Glück. Das Rohr ist an seinem unteren Ende nicht verschlossen. Es endet etwa zwei Meter über dem Boden. Innen ist es dunkel. Sie leuchtet mit der Helmlampe hinein. Das Rohr ist leer. An einer Seite blitzt etwas auf, das wie eine Strebe aussieht. Vielleicht handelt es sich um eine Leiter. Wenn das Rohr einen Zweck hat, muss man es warten können, also ist es durchaus sinnvoll, dass es begehbar ist. Ewa springt nach oben. Die Anzugmuskeln bringen sie höher, als sie es vermutet hat. Sie schafft es, sich über die rechte Seite abzurollen. Die Wand des Rohres ist nicht so rutschig, wie sie dachte. Aber sie hat auch gesehen, wie steil es sich zum Teil in die Höhe schraubt. Deshalb ist sie froh, dass sie beim Herumtasten tatsächlich eine hervorstehende Strebe findet, darüber eine zweite, eine dritte – jemand hat in die Innenwand des Rohres eine Art Leiter eingebaut. Die einzelnen Stufen sind etwa einen halben Meter voneinander entfernt. Die Wesen, für die sie konstruiert sind, dürften also etwas größer sein als ein Mensch. Aber vielleicht dienen sie auch bloß Wartungs-Robotern zur Fortbewegung.
Nun sitzt sie schon wieder drei Minuten herum. Sie macht sich besser auf den Weg. Das Klettern macht ihr Spaß. Es ist auf jeden Fall sehr abwechslungsreich. Ein bisschen erinnert es sie an ihre Kindheit. Auf manchen Spielplätzen hatte es große Plastikrohre gegeben, durch die man hinabrutschen konnte. Ihr hatte es von Anfang an mehr Spaß gemacht, die Rohre von unten her zu erklettern. Ihre Schwester hatte währenddessen den Einstieg bewacht, damit kein anderes Kind ihr entgegenrutschen konnte. Ihre Schwester. Wo wäre sie jetzt, wenn sie nicht so früh gestorben wäre? Vielleicht hätte sie die Reise zum Mars mitgemacht und verhindert, dass sie zur Mörderin ihrer Freunde wurde.
Ewa kommt gut voran. Ab und zu kontrolliert sie Temperatur und Luftdruck. Es wird wärmer, und die Luft wird dichter. Aber ihre leise Hoffnung, eine Sauerstoff-Atmosphäre vorzufinden, erfüllt sich nicht. Wer immer diesen Berg gebaut hat, hat keinen Sauerstoff gebraucht. Wozu mögen diese Rohre dienen? Wenn sie etwas transportieren, dann vermutlich von oben nach unten. Denn unten, am Ausgang, gibt es ja nichts außer einer dünnen Kohlendioxid-Atmosphäre. Vielleicht handelt es sich um Entsorgungsleitungen, ähnlich wie der Auspuff beim Auto, aber dafür waren es nach ihrem Eindruck zu viele. Was immer es ist, sie hofft, dass das Rohr erst dann zum Einsatz kommt, wenn sie es schon verlassen hat.
Sie ist jetzt eine Viertelstunde unterwegs. Der Gang ist unverändert, allerdings hört sie aus der Ferne ein dumpfes Grummeln, das genauso klingt wie ihr Magen, wenn sie Hunger hat. Allmählich sollte sie irgendwo ankommen. Als hätte die Konstruktion auf diesen Gedanken gewartet, endet der Gang nach einem Rechtsknick. Sie steht vor einem Ventilator mit dem Durchmesser des Ganges. Sein Rad steht zum Glück still, und es ist genug Platz zum Durchschlüpfen. Dahinter erreicht sie eine kleine Terrasse, eine Plattform, die in eine riesige Schüssel hineinragt. Hier ist es laut, sehr laut. Ewas Anzug senkt automatisch die Empfindlichkeit des Außenmikrofons. Der Blick ist phantastisch. Schon wieder wird sie zur Ameise. Diesmal sitzt sie am Rand eines brodelnden Kochtopfes. Die Plattform ist etwa einen Meter breit und besitzt kein Geländer. Unter ihr geht es vielleicht fünfzehn Meter in die Tiefe. Der Boden der Topfes ist mit Objekten gefüllt, die Ewa für Gestein hält. Sie bewegen sich wie Fleisch- und Gemüsestücke in einer Suppe. Hitze steigt auf, aber der Koch hat die Flüssigkeit vergessen. Stattdessen rühren blitzende Metallschneiden mit großen Zähnen das Gericht um. Immer wieder verklemmen sich Felsbrocken zwischen ihnen, werden von den Zähnen angeritzt und von der Kraft der Schneiden zermahlen.
Ewa hat keine Höhenangst, aber was da unten passiert, erzeugt einen Klumpen in ihrem Magen. Auf der gleichen Höhe wie das Rohr, aus dem sie gekommen ist, enden noch weitere Rohre im oberen Teil des Topfes. Vermutlich führen sie ebenfalls nach unten, wo sie herkommt. Bei zweien drehen sich die Ventilatoren. Aber es gibt noch einen zusätzlichen Gang, der deutlich schmaler und nicht von einem Lüftungsgitter abgeschlossen ist. Nur durch diesen Gang kommt sie weiter.
Vor jedem der Gänge, auch vor dem, den sie gewählt hat, gibt es eine kleine Plattform. Die Plattformen sind untereinander aber nur durch einen schmalen, höchstens zehn Zentimeter breiten Steg verbunden, der sich an die Seitenwand des Topfes klammert. Vermutlich hat ihn der Designer dieser Konstruktion lediglich als dekoratives Element eingesetzt. Aber Ewa wird sich darauf zu ihrem Ziel bewegen müssen. Sie hat ja keine andere Wahl.
Kurz überlegt sie, was da wohl die beste Strategie wäre. Doch es gibt wohl nur eine Möglichkeit: mit dem Rücken zur Wand, seitlich, Schritt für Schritt, bis sie das Ziel erreicht. Ewa überschlägt ihre Chancen. Sie hat Schuhgröße 40, die Stiefel des Anzugs sind noch etwas größer. Sie wird also nur mit der Ferse auf dem schmalen Steg balancieren. Dabei darf sie sich auf keinen Fall nach vorn lehnen, egal was passiert. Ihr Körperschwerpunkt muss über der Ferse bleiben. Kann sie sich denn nirgendwo festhalten? Sie betastet die Wand. Sie ist glatt. Jetzt wäre sie wirklich gern eine Ameise. Oder eine Eidechse! Irgendwo in einer Kiste im Bohrfahrzeug liegen bestimmt Saugnäpfe. Kann sie deren Wirkung irgendwie nachahmen?
Es sieht schlecht aus. Mit Improvisationstalent kommt sie nicht weiter. Sie braucht ja auch nur konsequent zu sein, sich schön gerade zu halten und nicht nach unten zu sehen, ganz einfach.
»Soll ich das vielleicht übernehmen?«, fragt Freitag durch ihren Mund. »Ich bin nicht so ... emotional.«
»Nein«, antwortet Ewa sofort.
Doch dann überlegt sie. Es wäre ja nur für ein paar Minuten. Dass Freitag sie nicht in den Topf stürzen sehen will, glaubt sie ihm sofort. Er wird sie sicher auf die andere Seite bringen. Sie braucht ihm nur die Kontrolle zu überlassen.
Nein, das kommt nicht in Frage. Es ist eine machbare Aufgabe. Sie besitzt alle nötigen Fähigkeiten und hat einfach nur Angst davor. Angst ist kein Fehler, sie bewahrt uns vor Dummheiten. Sie akzeptiert die Angst als Warnung, aber sie wird sie nicht über sich bestimmen lassen. Ewa stellt sich an den Rand der Plattform. Sie presst den Rücken gegen die Wand und hebt das Kinn bewusst nach oben. Dann kommt der erste Schritt zur Seite. Ihre Ferse steht sicher auf dem Vorsprung, aber ihr Ballen und ihre Zehen schweben in der Luft. Es ist einfach nur ungewohnt, sagt sie sich. Es soll ja Leute geben, die immer auf den Fersen laufen. Sie zieht den linken Fuß heran. Jetzt hält sie nichts mehr. Nur die Schwerkraft gibt ihr Stabilität, solange ihr Körperschwerpunkt über dem Steg liegt. Schon Isaac Newton hat das im 17. Jahrhundert gewusst. Newton hätte diese Aufgabe bewältigt, bestimmt. Vielleicht hätte sie ihn auch auf irgendeine spannende Idee gebracht, so wie der Apfel, der ihm auf den Kopf gefallen sein soll.
Der nächste Schritt. Sie schiebt den rechten Fuß tastend zur Seite, drückt ihren Körper gegen die Wand und zieht ihn dann nach. Der linke Fuß folgt zum Schluss. Das waren etwa zehn Zentimeter, schätzt sie. So geht es weiter, Minute für Minute. Ihren Kopf hält sie starr nach vorn. Sie sieht nicht, wie weit sie schon gekommen ist. Umso überraschter ist sie, als plötzlich auch wieder ihre Zehen Halt finden. Noch den linken Fuß nachholen, und die erste Etappe ist bewältigt. Hinter ihr befindet sich ein anderes großes Rohr. Um ihr Ziel zu erreichen, den schmalen Gang, muss sie den Topf um ein weiteres Viertel umrunden. Sie verlässt die Plattform. An die Wand gepresst, rutscht sie Meter um Meter weiter. Mit einem Mal wird es laut, es poltert in nächster Nähe, dann kracht es im Topf. Sie darf nicht nachsehen, was passiert ist. Sie kann nur hoffen, dass die seltsame trockene Suppe nicht überkocht, solange sie sich noch hier drin aufhält. Schritt für Schritt schiebt sie sich weiter nach rechts. Dann gerät plötzlich die ganze Konstruktion ins Wanken. Ewa bleibt starr vor Schreck stehen. Der Berg scheint sich in Bewegung gesetzt zu haben, ganz langsam. Und wieder hatte sie Glück, denn der Berg wandert in die richtige Richtung. Die kurze Beschleunigung hat sie an die Wand gepresst, statt sie in den Topf stürzen zu lassen. Ewa malt sich aus, wie ihr Körper von den Messern zerteilt wird. Die Suppe ist dann wenigstens nicht mehr so trocken, denkt sie. Sollte der Berg wieder bremsen, wird sie fallen. Sie beherrscht die Technik nun aber immer besser. Gleich muss sie da sein. Sie tastet mit den Zehen voran. Das war ein Fehler. Der kleine Impuls nach vorn hat ihren Schwerpunkt aus der Nulllage gebracht. Sie spürt so genau wie noch nie, wie er durch ihren Körper wandert. Erst war er noch in ihrem Steißbein, jetzt hat er das Schambein erreicht. Sie hält die Luft an und schließt die Augen. Der Schwerpunkt legt einen kurzen Halt ein, dann wandert er zurück, bis er wieder im Steißbein ankommt. Langsam lässt sie wieder Luft in ihre Lungen. Das ersehnte Ziel ist weiter entfernt als gedacht; es sind noch fünfzehn Schritte, dann spürt sie den rettenden Halt unter ihrem Ballen. Als sie ganz auf der Plattform steht, sinkt sie in die Hocke. Ihr Körper, der die ganze Zeit gestreckt war, fällt in sich zusammen.
»Besser hätte ich das auch nicht hinbekommen«, lobt Freitag.
Sie antwortet nicht, dazu fehlt ihr die Kraft. Ein bisschen Ruhe, mehr will sie gerade nicht. Doch der Berg kümmert sich nicht darum. Erst poltert es wieder. Sie öffnet die Augen und sieht gerade noch, wie Marsgestein in den Kessel fällt. Dann beginnen die Schneiden unten umso lauter zu mahlen. Kurz danach geht ein Ruck durch die Konstruktion, die sich anscheinend wieder ein Stück bewegt hat. Die Maschine nimmt offenbar Marsboden auf und zerkleinert ihn. Aber wieso? Versucht sie, Rohstoffe daraus zu gewinnen? Dann müsste es Lager dafür an Bord geben. Sie hat zwar bisher noch keine gefunden, aber sie kennt ja auch nur einen kleinen Teil der Konstruktion. Vielleicht dienen die seltsamen Eier als Lager? Ewa steht auf. Sie muss die Erkundung des Berges fortsetzen.
Der Gang, den sie nun betritt, ist so niedrig, dass sie den Kopf senken muss. Aber sie läuft zumindest nicht dauernd Gefahr abzustürzen. Der Weg verläuft weitgehend waagerecht und windet sich dabei ohne scharfe Kanten hin und her. Vermutlich handelt es sich um einen Wartungsgang. Also wird er sie wohl dorthin führen, wo die mit der Wartung Beauftragten herkommen. Ewa stellt sich vor, dort einen Hausmeister im blauen Kittel zu finden, der es sich auf einem Sofa bequem gemacht hat und raucht. Aber es könnte natürlich auch ein Spinnenwesen mit zwölf Beinen auf sie warten – oder ein waffenstarrender Killer-Roboter. Sie tastet nach dem Taser in der Tasche. Immerhin hat sie einen Schuss frei. Ob sich ein außerirdischer Roboter damit besänftigen lässt, darüber denkt sie besser nicht nach.
Sie gelangt an eine Kreuzung. In alle vier Himmelsrichtungen führen gleichartige Gänge. Sie erinnert sich daran, dass man aus einem Labyrinth findet, indem man stets dieselbe Richtung wählt, und entscheidet sich für den linken Abzweig. In Zukunft immer links entlang, murmelt sie.
Diesmal sind es nur fünf oder sechs Meter, dann endet der Gang in einem schweren Vorhang aus einem Material, das die Konsistenz von Leder hat. Ewa schiebt ihn zur Seite. Der Raum dahinter hat die Form eines schräg liegenden Eies. Das muss eines der Eier sein, die sie an der Decke der Kuppel gesehen hat. Die Wände des Raums leuchten gelblich. Es ist sehr warm und feucht, verrät ihr Universalgerät. Der Weg läuft in einer Art Terrasse aus, die von hellem Sand bedeckt ist. Sie ist abschüssig und geht in einen dunklen Bereich über, dessen Füllung eine schlammartige Konsistenz hat. Das Material glänzt. An manchen Stellen erkennt sie Flecken einer zähen, blasenbildenden Flüssigkeit. Ganz am Ende, zur Spitze des Eis hin, steht dieselbe Flüssigkeit. Von den Wärtern, die sie erwartet hat, ist nichts zu sehen. Der Raum erinnert sie an ein Terrarium für Tiere, die im Schlamm leben. Ob sie in einem der Schlafzimmer der Bewohner des Berges gelandet ist? Sie analysiert die Luft. Sie besteht zum größten Teil aus Kohlendioxid, hinzu kommen Wasserdampf und Methan. Die Temperatur liegt bei 35 Grad. Ewa überlegt, ob sie das Flüssigkeitsloch am Ende des Raums untersuchen soll. Aber dazu müsste sie durch den tiefen Schlamm stapfen. Sie nimmt stattdessen eine Probe eines der feuchten Flecken. Die Flüssigkeit enthält kaum Wasser, dafür aber kurz- und langkettige Kohlenwasserstoffe. Es ist also eine Art Erdöl. Ob die Bewohner das zum Überleben brauchen? Statt Antworten findet sie nur immer neue Rätsel.
Sie verlässt den Raum wieder. An der Kreuzung biegt sie erneut links ab. Ein weiterer Quergang folgt. Ewa läuft ihn entlang und stößt auf den nächsten Vorhang. Der Raum dahinter sieht ganz genauso aus wie der erste, allerdings fehlt die Flüssigkeit fast komplett. Könnte es sein, dass hier ein Defekt vorliegt? Aber sie ist nicht der Hausmeister und damit nicht für die Reparatur zuständig. Die Bewohner, für die die Zimmer gedacht sind, scheinen sowieso gerade ausgeflogen zu sein. Ausgekrochen, korrigiert sie sich. Angesichts dessen, was sie als komfortabel zu empfinden scheinen, handelt es sich wohl eher um eine Art Reptilien. Aber das ist vermutlich auch zu sehr nach Erd-Maßstäben gedacht. Warum sollen sich Zweibeiner, die von einem anderen Planeten kommen, nicht in schlammigen Öl-Löchern wohl fühlen?
Der dritte Abzweig, der dritte Raum: es ist wieder das Innere eines Eies. Ewa erinnert sich, was sie von unten gesehen hat. Es waren viele solche Eier gewesen. Sie biegt am besten nicht mehr in die Seitengänge ab, dort wird sie vermutlich nichts Neues finden. Trotzdem zählt sie mit. Allein dieser Gang führt sie an zwanzig Eiern vorbei. Doch dann macht er einen 180-Grad-Knick und führt sie über eine Rampe ein paar Meter nach oben. Der Gang endet schließlich an einem weiteren Vorhang. Ewa bleibt stehen und konzentriert sich. Wenn es hier etwas gibt, das den Berg steuert, dann dürfte es sich hinter dem Vorhang befinden. Sie schiebt den schweren Stoff zur Seite, tritt ein und erschrickt.
Der Raum ist riesig sein, eher eine Halle. Ihr Atem stockt, weil alles so wirkt, als befände sie sich auf der Marsoberfläche im Freien. Sie fasst sich unwillkürlich an den Helm und kontrolliert, ob er gut sitzt. Sie macht einen Schritt in die Halle hinein und versinkt im Sand. Es ist ein besonders feiner Sand, der wie eine Ansammlung von Mars-Staub wirkt. Bei den Bewohnern kann es sich also kaum um Zweibeiner wie sie handeln. Vermutlich verteilt sich ihr Gewicht auf eine größere Auflagefläche. Eine Robbe oder ein Krokodil hätten hier kein Problem, gut voranzukommen. Ewa kann jedoch weder Robben noch Krokodile finden. Auch ein waffenstarrender Roboter fehlt glücklicherweise. Sie ist völlig allein in der Halle. Niemand begrüßt sie, niemand hat sie erwartet. Ihr Lebensmuster setzt sich auch hier fort. Ewa seufzt.
Eigentlich sollte sie ja froh sein. Wenn sie dem Fahrer nun ins Lenkrad greift, wird niemand sie daran hindern. Sie quält sich durch den tiefen Sand zur nächstgelegenen Seitenwand. Das Material ist kühl. Der Berg besaß keine Glaskuppel, also muss es sich um eine Art Bildschirm handeln, der das wiedergibt, was Kameras draußen sehen. Oder was ein Computer hier irgendwo simuliert. Der Stand der Sonne stimmt mit der aktuellen Uhrzeit überein, also ist es zumindest eine realistische Simulation.
»NASA an Ewa«, meldet sich plötzlich der Helmfunk. Sie erschrickt. Die Simulation ist wirklich sehr realistisch!
»Wer spricht dort?«, fragt sie vorsichtig.
»Na Mike, wer sonst? Erkennst du meine Stimme nicht mehr?«
»Ich ... entschuldige. Ich befinde mich gerade in einer großen Halle mitten im Berg und wundere mich, dass ihr mich trotzdem erreicht.«
»Du bist genau unter uns. Sieh mal nach oben!«
Sie hebt den Kopf. Etwa zwanzig Meter über ihr schwebt die Drohne, die sie vorhin getroffen hat, und winkt ihr mit Links- und Rechtsneigung zu.
»Seht ihr mich etwa? Das ist unmöglich!«
»Ja, die Kamera sieht dich. Du steckst bis zu den Knien im Sand.«
Ewa sieht noch einmal nach oben. Wenn das ein Trick ist, dann ein ziemlich ausgereifter. Sie misst Temperatur und Dichte.
»Bei mir sind es 29 Grad und hier herrscht der halbe Druck der Erdoberfläche«, sagt sie. »Über mir muss sich also ein Dach befinden.«
»Die Drohne meldet minus 40 Grad, also hast du wohl Recht. Aber zu sehen ist das Dach für uns nicht, und der Funkverkehr geht ja wohl auch hindurch«, sagt Mike.
»Es muss einen uns unbekannten Grad an Transparenz in allen Wellenlängen haben«, meint Ewa.
»Nicht in allen, im Infrarot blockiert es, da ist es trotz der Wärme bei dir stockdunkel.«
»Das ergibt Sinn, es spart eine Menge Energie, wenn die Wärme nicht nach draußen abstrahlt.«
»Hast du etwas herausgefunden, was uns hilft, Ewa? Entschuldige, wir finden es zunächst mal alle großartig, dass du so weit gekommen bist«, sagt Mike.
Und dass ich dabei nicht draufgegangen bin, schon klar, denkt sie.
»Ich bin nicht sicher. Das Ding verarbeitet Mars-Gestein zu irgendeinem Endprodukt, so viel scheint klar«, antwortet sie. »Vielleicht bauen sie Rohstoffe ab.«
»Es nimmt Gestein aus der Mars-Oberfläche auf? Das ist interessant«, sagt Mike. »Wir haben schon die großen Löcher gesehen, die es hinterlässt, wenn es sich vorwärtsbewegt.«
»Und was sagt uns das?«
»Das Objekt gibt große Mengen Kohlendioxid ab. Das Gas strömt aus dem Spalt, durch den du eingedrungen bist.«
»Ich hatte vermutet, dass es damit den nötigen Druck aufbaut, um als Luftkissenfahrzeug zu schweben«, sagt Ewa.
»Das vielleicht auch, aber es scheint uns nicht der Hauptzweck zu sein. Andy hat das mal durchgerechnet. Das Objekt scheint darauf programmiert zu sein, die Mars-Atmosphäre mit Kohlendioxid anzureichern. Der größte Teil des CO2, das der Mars gespeichert hat, liegt chemisch gebunden im Regolith vor, in den obersten Metern seiner Kruste.«
Ewa zuckt zusammen, als sie Andys Namen hört. Aber es ist ja klar, die NASA-Leute müssen längst Kontakt zu ihren alten MfA-Freunden aufgenommen haben. Dann weiß Theo auch, dass sie noch lebt. Wie mag es ihm gehen? Sie schüttelt den Gedanken ab.
»Du meinst, der Berg will dem Mars zu einer echten Atmosphäre verhelfen und ihn damit bewohnbar machen?«, fragt sie. Ihr Atem geht schneller. Das wären ja großartige Aussichten, eine Hilfe, mit der sie gar nicht gerechnet hatten.
»Das Objekt ist darauf programmiert, vermuten wir, ja«, sagt Mike.
Er klingt aber gar nicht so erfreut wie sie selbst.
»Es gibt ein Aber?«, fragt sie zurück.
»Sogar zwei. Zum einen nimmt das Ding ungefähr Kurs auf die MfA-Basis. Und das zweite Problem ist: Selbst wenn es sämtlichen Regolith abbaut, den der Mars zu bieten hat, und so nebenbei all unsere Basen zu Kleinholz zerraspelt, wird uns das nur wenig helfen. Der Mars hat in den vergangenen Milliarden Jahren so viel Kohlendioxid verloren, dass der Druck der Atmosphäre sich zwar verzehnfachen würde, aber das reicht bei weitem nicht aus, einen ordentlichen Treibhauseffekt zu erzeugen und den Mars deutlich zu erwärmen. Und wir büßen derweil unsere Lebensgrundlage ein. Das ist eine Hilfe, die wir überhaupt nicht gebrauchen können.«
Ewa schweigt. Wenn die Zahlen stimmen, und Andy bürgt dafür, dann leistet ihnen die fremdartige Konstruktion gerade einen Bärendienst. Sie muss also unbedingt einen Weg finden, sie zu stoppen.
»Aber wieso hat das Ding dann überhaupt mit dieser Arbeit angefangen? Seine Erbauer scheinen mir fähige Leute gewesen zu sein«, sagt sie.
»Es befand sich in 200 Metern Tiefe unter dem Regolith. Wir denken, dass es nicht vergraben wurde.«
»Sondern?«
»Es stand vor Hunderten oder auch Milliarden Jahren auf der Mars-Oberfläche herum, ohne dass es in Betrieb genommen wurde. Vielleicht hat es jemand gebaut, als der Mars drohte, zur Wüste zu werden. Damals hätte das Kohlendioxid noch ausgereicht, um eine dichte Atmosphäre zu erzeugen.«
»Aber die Maschine wurde vergessen«, setzt Ewa den Gedanken fort. »Sie wurde von Staub bedeckt, der über die Jahre zu festem Gestein geworden ist. Die ganze Zeit hat sie darauf gewartet, dass sie jemand weckt, damit sie ihre nützliche Arbeit beginnen kann. Aber erst jetzt, da es zu spät ist, wecken wir sie bei unserer Suche nach Wasser.«
»Ja, so ungefähr könnte es sein. Vielleicht sind die Erbauer ausgestorben. Bisher hat niemand in den entsprechenden Tiefen nach Überresten einer früherem Zivilisation gegraben. Es gibt ja keine Erosion hier, die solche Ruinen wie auf der Erde mit der Zeit an die Oberfläche bringt.«
»Mensch, Mike, das ist aber eine traurige Geschichte«, sagt Ewa.
»Das kann sein«, meint Mike knapp, »aber vor allem ist es eine Gefahr. Wenn du es schaffen würdest, sie auszuschalten, wären dir die kläglichen Reste der Menschheit zu ewigem Dank verpflichtet. Wenn nicht, werden wir bald das Schicksal der Erbauer des Bergs teilen.«
Ewa seufzt. »Ich hoffe sehr, dass mir das gelingt«, sagt sie. Dann beendet sie die Verbindung.
Es ist schon verrückt,
denkt sie. Da haben sie eine Maschine, wie sie sie selbst nie bauen könnten, die in der Lage wäre, die Lebensbedingungen auf dem Roten Planeten zumindest ein wenig zu verbessern. Eine dichtere Atmosphäre würde, selbst wenn sie noch lange nicht zum Ablegen der Druckanzüge genügt, durch den von ihr verursachten Treibhauseffekt zumindest die Temperaturen erhöhen. Das Thermometer würde öfter und auch weiter im Norden über 20 Grad Celsius steigen. Ein Teil der Polkappen würde schmelzen und die Luftfeuchtigkeit erhöhen. Womöglich gäbe es Niederschläge, nicht genug natürlich, um den Mars in eine fruchtbare Welt zu verwandeln, aber sie hätten es nicht mehr ganz so schwer, ihr Überleben zu sichern. Ewa tritt ganz dicht an die durchsichtige Wand heran. Im trüben Schein der untergehenden Sonne ist es kaum noch zu erkennen, aber da unten passiert, was gerade das menschliche Leben auf diesem Planeten bedroht: Riesige Klauen brechen Material aus der Kruste des Mars; das Gestein wird eingesaugt und landet dann in einem der Töpfe, die sie gesehen hat, wo es vom Kohlendioxid befreit und wieder ausgespien wird. Die Maschine interessiert sich nicht für menschliche Gebäude, die auf ihrem Weg liegen. Als sie gebaut wurde, gab es noch lange keine Menschen. Warum mussten sie die Maschine ausgerechnet jetzt finden? Ist es purer Zufall, oder verbergen sich in den Tiefen des Mars noch weitere solcher Konstruktionen? Es wäre nur logisch: Wenn wirklich jemand diesen Planeten wieder urbar machen wollte, wäre es effizienter gewesen, sich nicht auf eine einzige Maschine zu verlassen.
Nun, das spielt gerade keine Rolle. Sie werden sich hüten, in Zukunft so uralte Technik zu aktivieren. Wenn nicht zu hundert Prozent klar ist, dass das, was das Radar misst, eine Grundwasserschicht ist, werden sie den Fund in Ruhe lassen. Aber was geht sie das an? Sie wird in dieser Zukunft nichts zu sagen haben. Sie kann aber dazu beitragen, sie überhaupt erst zu ermöglichen, indem sie die Maschine stoppt.
Ewa berührt das transparente Material, das sie von der Außenwelt trennt. In diesem Moment verändert sich das Bild. Wo ihre Finger auf die Scheibe treffen, zeigen sich komplizierte Symbole. Es ist faszinierend. Ewa probiert alle zehn Finger aus. Das Zeichen, das jeweils erscheint, hängt nur vom Ort ab, den sie berührt. Ob die Zeichen so etwas wie eine Schrift darstellen? Wenn ja, wird sie sie nie entziffern können. Ewa ist nicht dafür ausgebildet. Sie weiß nicht, wonach sie suchen soll. Die Zeichen scheinen ihr unendlich variabel. Sie betrachtet eines genauer. Es besteht aus zwei Querstrichen unten, drei Kreisen rechts und einem Kreuz links. In einem der Kreise ist ein Punkt zu sehen. Bei anderen Zeichen wechseln die Positionen von Strichen und Kreisen. Links oben treten beide aber nie auf, dieser Platz scheint für ungewöhnlichere Formen reserviert: ein Fünfeck entdeckt sie, ein ausgefülltes Kreuz mit gleich langen Armen, ein halbes Ei oder einen Punkt, von dem Strahlen ausgehen. Vielleicht sind das die eigentlichen Wörter, und Striche und Kreise bilden die nötige Grammatik. Ungefähr bis hierhin reicht ihre Vorstellungskraft.
Sie setzt sich mit dem Rücken an die Wand und schließt die Augen. Was soll sie mit all diesen Zeichen bloß anfangen? Sie werden ihr nie etwas sagen. Das ist eine Sackgasse. Ihr Weg muss ein anderer sein: Sie muss versuchen, die Maschine mit Gewalt zu sabotieren. Typisch Mensch eben, und typisch Ewa, denkt sie.
»Lass es mich doch mal probieren«, meldet sich Freitag.
»Was denn?«
»Die Schrift zu entziffern.«
»Das kannst du?«
»Ja, es ist die perfekte Aufgabe für mich. Solche Analysen waren mein Spezialgebiet, früher, als ich ... egal.«
»Als du?«
»In einem anderen Leben, auf einer anderen Welt. Das kennst du ja, Ewa.«
»Darüber sprechen wir ein andermal. Also du meinst, du kannst die Bedeutung der Schrift herausfinden?«
»Ja, mit Hilfe von statistischen Analysen. Ich brauche dazu allerdings möglichst viel Input.«
»Okay«, sagt Ewa und steht auf. Warum sollen sie es nicht wenigstens probieren?
»Du musst mir einfach so viele Zeichen wie möglich vorführen, Ewa.«
»Gut«, sagt sie und fängt an, wie wild auf der transparenten Scheibe herumzutippen.
»So wird das nichts«,
sagt Freitag fünf Minuten später.
Ewas Finger schmerzen.
»Das habe ich mir gedacht«, antwortet sie. »Es hilft nichts, wir müssen rabiat werden.«
»Nein, ich meine, so wird das nichts.« Freitag betont das »so«. »Wir müssen anders vorgehen.«
»Und wie?«
»Ich habe gerade einmal 134 Zeichen registriert«, sagt Freitag.
»Schneller geht es nun einmal nicht.«
»Doch«, beharrt er. »Du bist bloß zu langsam. Du müsstest mir für eine Weile die Kontrolle überlassen.«
Sie sind wieder an diesem Punkt angelangt. Freitag müsste doch wissen, dass das für sie nicht in Frage kommt.
»Das geht nicht«, antwortet sie.
»Es ist eine Chance. Wie willst du denn diese Maschine erfolgreich sabotieren? Willst du dich in einen dieser Mahltöpfe werfen? Hast du Sprengstoff parat, und genug davon, um einen hunderte Meter hohen Berg anzuhalten?«
»Mir wird schon etwas einfallen. Ich muss bloß weiter nach einer Möglichkeit suchen.«
»Deine Freunde werden sterben, weil du feige bist, Ewa.«
»Das ist ...« Ewa stampft wütend auf. Steckte Freitag nicht in ihrem Kopf, würde sie ihn in die Wüste schicken. Sie tastet ihre Werkzeugtasche ab. Darin steckt noch immer der Taser.
Aber Freitag gibt keine Ruhe.
»Es ist die Wahrheit«, sagt er.
Ewa antwortet nicht. Vermutlich hat er sogar Recht. Die Vorstellung, nicht mehr über ihren eigenen Körper zu herrschen, jagt ihr eine tief empfundene Furcht ein. Aber sie darf sich diese Angst eigentlich nicht leisten. Das Überleben ihrer Freunde und des Restes der Menschheit steht auf dem Spiel.
»Ok, ich bin einverstanden«, sagt sie und ist dabei extrem erleichtert. Jetzt ist es raus.
»Wie lange wird es dauern?«
»Ich weiß es nicht, Ewa. Das hängt von der Komplexität der Schrift ab. Wenn ich auf zehn Zeichen pro Sekunde komme, bin ich in knapp drei Stunden bei 100.000. Das ist, ehrlich gesagt, noch keine sehr große Zahl.«
»Und was hältst du für realistisch?«
»Eine Million wäre gut.«
»Das ist dann mehr als ein Tag«, sagt Ewa und wiegt den Kopf.
»Ich weiß.«
»Ein Vorschlag: du weckst mich nach zwölf Stunden erst einmal wieder, und dann besprechen wir, wie es weitergeht.«
»Einverstanden. Setz dich jetzt einfach bequem hin, denke an gar nichts und sperre dich vor allem nicht, wenn deine Glieder beginnen, sich von allein zu bewegen.«
»Muss ich gar nicht schlafen?«
»Wenn du schlafen willst, schlaf, aber das ist nicht die Voraussetzung. Du musst mich nur machen lassen.«
»Gut.«
Ewa setzt sich und streckt die Beine aus. Dann lässt sie all ihre Muskeln locker. Sie ist von dem langen Tag so geschafft, dass ihr das nicht schwer fällt. Müdigkeit überkommt sie. Sie will sich gerade dem Schlaf hingeben, da fängt ihr rechter Arm an, sich nach vorn zu bewegen. Sie lässt ihm seinen Willen, beobachtet nur, was er tut. Er stützt sich auf den Boden. Daraufhin ziehen sich die Muskeln in ihrem linken Bein zusammen. Sie ist dabei, auf die Knie zu gehen. Ewa tut überhaupt nichts dafür, ihr Körper macht das ganz allein. Es ist ein bisschen beängstigend, vor allem aber faszinierend. Von einem fremden Bewusstsein, das sie fernsteuert, merkt sie überhaupt nichts. Sie fühlt sich vielmehr, als wäre sie außer sich, als wäre sie komplett aus ihrer Haut gefahren und beobachte ihren Körper nun von der Seite.
Ihr Körper steht auf. Sie ist doch nicht ganz unabhängig von ihm, denn er nimmt sie mit, obwohl sie gern sitzen geblieben wäre. Ihr Blick auf die Umwelt, das ist der Blick ihres Körpers. Sie braucht ihn noch, um die Umgebung wahrzunehmen. Aber steuern muss sie ihn nicht mehr. Sie hat vom Fahrer- auf den Beifahrersitz gewechselt. Das ist sehr entspannend! Warum soll sie die Fahrt nicht einfach genießen? Ihr Körper dreht sich um und wendet sich zur Scheibe. Beide Arme bewegen sich nach vorn und beginnen, in schneller Folge Symbole aufzurufen. Ewa kann sich nur wundern, wie elegant und effizient sie plötzlich arbeitet. Freitag nutzt anscheinend ihr gesamtes Blickfeld aus und bewegt beide Arme unabhängig voneinander. Vier Finger jeder Hand tippen je vier Symbole in einer Reihe an, der kürzere Daumen wählt ein Symbol in der Reihe darunter. Dann fährt der Arm die ganze Wand nach unten ab, unterstützt vom Körper, der sich bückt. Unten angekommen, rückt sie ein paar Zentimeter zur Seite, und die Hand bewegt sich wieder nach oben. Wenn die linke Hand das Gebiet erreicht, das die rechte schon gescannt hat, macht sie einen größeren Schritt, und alles beginnt von vorn. Die Symbole blitzen dadurch nur sehr kurz auf; immer zehn sind gleichzeitig für eine Zehntelsekunde zu sehen. Ihr menschliches Bewusstsein wäre gar nicht in der Lage, diese Datenmengen zu verarbeiten. Zum Teil liegt das vermutlich daran, dass die biologische Signalübermittlung einfach länger dauert, während Freitag in seinem Chip mit Lichtgeschwindigkeit arbeiten kann. Aber das menschliche Gehirn funktioniert auch grundlegend anders, es filtert stark, um nur die wirklich wichtigen Informationen an die Oberfläche dringen zu lassen. Hier jedoch ist jedes Detail, jedes Bit genau gleich wichtig.
Ewa ist fasziniert. Je länger sie sich selbst zusieht, desto stärker wird das Gefühl der Entfremdung von ihrem Körper. Sie ist fast ein bisschen eifersüchtig. Von ihrem eigenen Bewusstsein gesteuert, würde er nach spätestens einer halben Stunde mit Schmerzen reagieren. Aber davon ist nichts zu bemerken. Ob sie das dann ausbaden muss, wenn Freitag seine Arbeit beendet hat? Wenn sich ihr Körper einen Tag lang bückt und wieder aufrichtet, was werden ihre Muskeln davon halten? Freitag scheint ja in der Lage zu sein, deren Rückmeldung auszublenden, aber Ewa besitzt diese Fähigkeit nicht, da ist sie sicher.
Da ist aber noch ein zweiter Aspekt, der sie zum Nachdenken bringt. Wenn dieses künstliche Subjekt, das sie Freitag nennt, so einfach die Kontrolle über ihren Körper ausüben kann, was heißt das für die Menschheit? Sind die Körper im Grunde austauschbar? Sie stellt sich eine Menschheit vor, die ihre Körper als gemeinsame Ressource betrachtet. So, wie sich Menschen heute Autos teilen, nutzen sie in Zukunft vielleicht gemeinsam den gleichen Körper. Es ist doch reine Verschwendung: Jedes Bewusstsein verschläft schließlich ein Drittel seiner Lebensspanne. Also laufen auf der Erdoberfläche ein Drittel mehr Körper herum, als eigentlich benötigt werden. Liefen, korrigiert sie sich. Sie hat sich immer noch nicht daran gewöhnt, die Erde als verloren zu betrachten. Hier auf dem Mars haben sie das Problem noch lange nicht, da besteht eher ein Mangel an Körpern als ein Überangebot.
Ewa spürt, dass sie jetzt gern gähnen würde. Den monotonen Verrichtungen ihres Körpers zuzusehen macht sie schläfrig. Aber sie muss sich zurückhalten. Die Kontrolle über all ihre Muskeln gehört jetzt Freitag. Kurz ist sie versucht, ihre Macht zu testen. Würde sie es aus eigener Kraft schaffen, die Kontrolle zurückzuerlangen? Freitag hat ihr das versprochen, aber sie vertraut ihm nicht ganz. Im Moment jedoch würde sie bloß seine Arbeit durcheinanderbringen. Sie schließt die Augen. Nein, auch das darf sie nicht. Gerade noch rechtzeitig verhindert sie einen entsprechenden Impuls an ihre motorisches Nervensystem. Sie muss lernen, sich anders aus dieser Welt zu lösen. Es ist ein gutes Training, denn genau das ist eine ihrer Schwächen. Sie ist nicht gut darin, Signale zu ignorieren. Lieber setzt sie eine Schlafbrille auf und stopft sich etwas in die Ohren. Doch jetzt entfallen diese Möglichkeiten. Sie muss sich von ihren Sinnen abkoppeln, wenn sie schlafen will. Das macht ihr Angst. Es muss diese Angst sein, die sie auch sonst oft daran hindert, Ruhe zu finden. Dabei ist sie unbegründet. Es ist nur eine zeitweilige Trennung. Sie braucht nur den inneren Vorhang zur Seite zu ziehen, um den Lärm und die Helligkeit der Außenwelt auszublenden. Ewa greift nach dem Vorhang. Er ist schwer und fühlt sich an wie Leder. Sie zieht ihn vor ihre Verbindung zu Licht und Tönen. Es wird angenehm dunkel, aber nicht völlig still. So mag sie es. Sie legt sich in den warmen Sand und schläft ein.