»Ewa?
Bist du wach?«
Wer weckt sie denn da schon wieder? Darf sie nicht einmal ausschlafen? Etwas kitzelt sie an der Fußsohle. Sie zieht den Fuß an den Körper.
»Ich bin es, Freitag«, sagt die Stimme.
Jetzt hat er es geschafft. Sie schlägt die Augen auf. Es ist schummrig, aber nicht völlig dunkel. Durch einen Spalt im Vorhang kommt Licht herein. Sie erkennt schemenhaft eine Person, die zu ihren Füßen kniet.
»Was machst du denn hier drin, Freitag?« Ihre Frage klingt weniger ärgerlich als beabsichtigt. »Das sind meine eigenen Gedanken, da hast du nichts zu suchen.«
»Du hast mich hereingebeten.«
»Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Du wolltest, dass ich dich wecke. Da du dich von der Außenwelt abgeschottet hast, gab es keinen anderen Weg.«
Ewa stützt sich auf die Unterarme und bemerkt, dass sie nackt ist. Schnell setzt sie sich auf und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Nun dreh dich aber gefälligst um«, sagt sie.
Freitag folgt der Aufforderung.
»Ich gehe schon«, sagt er und steht auf. Bevor er den Raum verlässt, wirft er einen letzten Blick auf Ewas nackten Körper. Sie sieht ihn böse an. Dann zieht er den Vorhang zur Seite. Draußen muss heller Tag sein. Er verlässt den Raum und schließt den Vorhang hinter sich.
Ewa steht auf. Sie fühlt sich so erholt wie lange nicht. Nackt, wie sie ist, zieht sie den Vorhang auf, der sie von der Außenwelt trennt. Helligkeit und Lärm schlagen über ihr zusammen. Plötzlich steckt sie wieder in ihrem Körper. Ihre Blase drückt, sie hat Hunger und Durst. Dann hebt sie einen Arm, und ein furchtbarer Schmerz durchzuckt sie.
»Scheiße, Freitag, warst du das?«
»Was?«
»In meinem Traum gerade.«
»Nein, deine Träume sind mir verschlossen. Ich kann nur auf deine Aktionspotenziale und Sinneseindrücke zugreifen.«
»Das sagtest du schon, aber stimmt es auch?«
»Ja, es ist so. Aber es ist interessant, dass du mich im Traum gesehen hast. Was genau ist denn passiert?«
»Du hast mich geweckt.«
»Ah, dann liegt wohl eine gedankliche Verkörperung deiner Wünsche vor. Du wolltest doch geweckt werden. Also hat dein Bewusstsein den Wecker geschaffen.«
»Aber ich war ... egal.«
Freitag hat wohl den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie kennt ja auch Menschen, die sich vornehmen, zu einer bestimmten Zeit aufzuwachen, und dann erwachen sie pünktlich. Sie selbst gehörte bisher nicht dazu, aber anscheinend kann sie sich doch selbst aus dem Schlaf holen. Oder Freitag belügt sie. Das will sie nicht glauben. Wenn er in ihr Bewusstsein eindringen könnte – es wäre schlimmer als eine Vergewaltigung.
»Wie kommst du voran?«, fragt sie.
»Sehr gut. Ich habe jetzt 647.390 Datensätze.«
»Mehr als die Hälfte schon?«
»Ja, ich werde noch vor Sonnenuntergang fertig sein.«
»Das ist gut. Ich habe bereits einen höllischen Muskelkater.«
»Wenn ich fertig bin, werden die Schmerzen noch stärker sein.«
»Danke für diese aufmunternden Worte, Freitag. Stören dich die Schmerzen gar nicht bei der Arbeit?«
»Ich kann sie ausblenden, das ist kein Problem. Die Entscheidung, welche sensorischen Inputs ich verarbeite, liegt allein bei mir.«
»Da hast du eine beneidenswerte Fähigkeit.«
»Sie steht den Menschen ebenfalls zur Verfügung. Tatsächlich nutzt du sie ganz fleißig, wenn du bei einem Gespräch in einem Raum voller Menschen einer bestimmten Person zuhörst.«
»Ich weiß«, sagt Ewa, »aber es fällt mir schwer, diese Fähigkeit bewusst einzusetzen.«
»Übung macht den Meister, sagt ihr Menschen doch. Dann wirst du nachher eine gute Gelegenheit zum Üben haben.«
»Vielen Dank dafür.«
»Gern geschehen.«
»Das war ironisch gemeint, Freitag.«
»Ironie ist ein Konzept, das mir fehlt.«
»Dann hast du jetzt Gelegenheit zum Üben.«
»Vielen Dank auch«, sagt Freitag.
Ewa muss lachen. War das jetzt ironisch oder ernst gemeint? Übt Freitag schon?
»Ich lasse dich jetzt wieder an die Arbeit«, sagt sie.
Sie lässt alle Muskeln ganz locker und tritt neben sich. Kurze Zeit später erhebt sich ihr Körper und beginnt, die Zeichen an der Wand zu scannen.
Jemand tätschelt ihr Bein.
Hat ihr Unterbewusstsein schon wieder Freitag eingeladen? Hoffentlich ist sie nicht wieder nackt! Ewa öffnet die Augen. Es ist ihre eigene Hand, die ihr Bein berührt. Sie trägt einen Raumanzug und sitzt vornübergebeugt an der Wand.
»Ich bin fertig«, sagt Freitag durch ihren eigenen Mund. Zur Bestätigung lässt er ihre Hand fallen. Sie liegt nun locker auf ihrem Oberschenkel und wartet darauf, dass Ewa wieder die Kontrolle übernimmt. Eigentlich sollte sie froh sein. Das Ding in ihrem Kopf hat sein Versprechen gehalten. Aber sie fürchtet sich vor dem Schmerz. Wenn sie erneut in ihren Körper schlüpft, wird er schwer zu ertragen sein. Es ist, als würde sie im flachen Wasser eines kalten Bergsees stehen und könnte sich nicht dazu durchringen, endlich ganz unterzutauchen und loszuschwimmen.
Sie gibt sich einen Ruck und stürzt sich kopfüber ins Wasser. Der Schmerz hüllt sie sofort ein. Sie weiß aber, wenn sie sich nur genug bewegt, wird sie sich daran gewöhnen. Ihre Muskeln sind von den eintönigen Bewegungen übersäuert, kleinste Fasern sind gerissen. Ihr Körper wird die Schäden in den kommenden Tagen ausbessern. Es ist nichts, was sie am Aufstehen hindert.
Ewa zieht die Beine an den Körper, stützt sich auf und geht in die Hocke. Dort holt sie kurz Luft, um dann ganz aufzustehen. Es hat geklappt!
»Und warst du erfolgreich?«, fragt sie.
»Ich habe eine Million und 57.322 Zeichen analysiert und mit statistischen Verfahren bearbeitet. Dann hab ich verschiedenste Modelle mit den Daten trainiert und diese schließlich damit abgeglichen. Es sind am Ende drei Modelle mit ausreichender Signifikanz übrig geblieben. Eines davon ist nicht nur signifikant, sondern ergibt auch einen Sinn.«
»Und das heißt?«
»Ja, ich war erfolgreich, mit einer Einschränkung.«
»Und die lautet?«
»Die Modelle verraten nicht, ob der Sinn, den ich messe, auch der Wahrheit entspricht.«
»Wie meinst du das?«
»Stell dir vor, ich hätte statistisch die Bedeutung des Wortes Abba herausgefunden. Es handelt sich um den Namen einer Fischfabrik.«
»Ah, ich verstehe, du weißt nicht, ob nicht vielleicht die schwedische Popgruppe aus dem 20. Jahrhundert gemeint ist.«
»Noch schlimmer, Ewa, ich weiß nicht einmal, ob es die Popgruppe überhaupt gibt. Ich habe noch nie von ihr gehört.«
»Aber die Fischfabrik ist sicher?«
»Nur im Rahmen dieses Modells. In Wirklichkeit hat es die Fabrik vielleicht auch niemals gegeben.«
»Und wie überprüfen wir das dann?«
»Wir testen es einfach an der Wirklichkeit.«
»Hast du dazu konkrete Vorschläge, Freitag?«
»Ja. Wir suchen uns ein Benutzer-Interface für den Berg, geben auf unserem Modell basierende Anweisungen und prüfen, was das Objekt daraus macht. Wenn es unsere Erwartungen erfüllt, haben wir den Sinn korrekt erfasst.«
»Das klingt sinnvoll«, sagt Ewa und geht vorsichtig auf und ab. »Hast du eine Idee, wo wir ein Benutzer-Interface finden?«
»Bisher noch nicht. Aber vielleicht zeigt uns die Wand den Weg.«
»Wie das, Freitag?«
»All die Schriftzeichen, die erscheinen, wenn du den Finger auf die Wand legst, sie bilden eine Art Universallexikon, eine Wikipedia. Wir brauchen nur den Eintrag über die Benutzer-Interfaces dieses Objekts zu finden.«
»Du willst ein ganzes Lexikon durchforsten? Wie lange soll das dauern?«
»Ein paar Sekunden«, sagt Freitag. Ich habe Inhalt und Position aller Schriftzeichen gespeichert, ich muss bloß nachsehen."
»Das ist einfacher als gedacht«,
sagt Freitag nach einer Weile.
»Ach so?«
»Du musst dich nur an die transparente Wand stellen und mit den Fingern ein bestimmtes Muster zeichnen.«
»Das bekomme ich hin.«
Ewa dreht sich zur Wand. Die Sonne steht schon wieder tief. Sie steckt jetzt schon länger als einen Tag in ihrem Anzug. Sie saugt an dem Röhrchen, das ihr flüssige Nahrung liefert, aber der Behälter scheint leer zu sein. Ihr Magen knurrt. Die Vorratsanzeige für den Sauerstoff steht im letzten Viertel. Ewa seufzt. Selbst wenn sie erfolgreich sind, wird sie kaum überleben. Die NASA-Basis ist zwar nur etwa zwei Stunden zu Fuß entfernt, aber nach allem, was sie weiß, wird sie dort keine Hilfe mehr finden, der Riss hat sein Werk getan. Die Kabine des Bohrfahrzeugs ist ebenfalls zerstört. Die plötzliche Erkenntnis, dass sie nur noch ein paar Stunden zu leben hat, berührt sie überraschend wenig. Vielleicht liegt es an ihrer Erschöpfung, oder sie hat diese Situation in den letzten Wochen einfach zu oft erlebt. Übung macht den Meister, hat Freitag vorhin gesagt. Oder war das ihre überreizte Vorstellungskraft? Wirklichkeit und Traum scheinen langsam zu verschwimmen. Sie tastet ihre linke Seite ab. Der Schmerz bestätigt ihr, dass sie gerade nicht träumt.
»Und nun?«, fragt sie.
»Es ist ganz einfach. Du zeichnest zwei waagerechte Linien übereinander.«
Ewa hebt den Arm.
»Moment, warte noch, das muss schnell gehen, ohne Pause. Danach zeichnest du über den waagerechten Linien zwei senkrechte. Die linke muss die beiden horizontalen Linien schneiden, die rechte darf sie nicht berühren.«
»Gut, ich habe das Zeichen deutlich vor Augen.«
»Dann los.«
Ein Strich, ein weiterer darüber, dann einer, der beide schneidet, und ein letzter rechts, der vor dem oberen Strich endet. Fertig.
Die Wand leuchtet kurz auf. Ihr Befehl ist wohl angekommen. Der Hintergrund verblasst, und zwar auf der ganzen Länge des Raumes. Plötzlich steht sie in einem langgestreckten Saal mit grauer Decke.
»Wow«, sagt sie.
Vor ihr baut sich ein Bildschirm auf, der sie an die Fahrsteuerung des Bohrers erinnert. Sie kann zwar keine der Beschriftungen lesen, aber intuitiv meint sie, die Bedeutung einiger Felder zu erfassen. Die Knöpfe und Schalter leuchten in unterschiedlichen Farben, allerdings fehlt rot komplett. Der optische Sinn der Erbauer begann vielleicht erst bei kürzeren Wellenlängen. Der Rote Planet muss für sie schwarz gewesen sein,
»Du kniest dich am besten hin«, sagt Freitag. »Die Erbauer des Objekts waren wohl nicht so hochgewachsen. Die wichtigsten Schalter befinden sich in Fußbodennähe. Siehst du das Feld, das abwechselnd blau und gelb leuchtet? Damit kannst du beschleunigen, wenn ich die Beschriftung richtig verstehe.«
»Und wenn nicht?«
»Ach, die Software ist bestimmt auch für Dummies geeignet. So ein Riesenobjekt lässt sich nicht durch das Drücken weniger falscher Tasten zerstören.«
»Auf deine Verantwortung.«
Ewa bückt sich und tippt das Feld an. Der Hintergrund vibriert. Dann spürt sie einen sanften Ruck. Der Berg ist etwas schneller geworden. Es hat geklappt! Sie ist die Herrin des Berges! Ewa stellt sich vor, wie sie den Berg über den ganzen Planeten steuert. Sie braucht ja die Kolonien von NASA und MfA nur zu umkurven. Allerdings geht ihr in ein paar Stunden die Luft aus. Plötzlich ruckelt es in die entgegengesetzte Richtung. Der Berg ist wieder langsamer geworden.
»Was war das, Freitag?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht musst du den Knopf dauerhaft drücken.«
Ewa probiert es. Der Berg wird erneut etwas schneller, um dann wieder zu bremsen.
»Irgendwer hält dagegen«, sagt sie.
»Probieren wir es mit einem anderen Befehl«, schlägt Freitag vor. »In der Reihe darüber sieht du eine Art Ei, dessen Spitze nach links zeigt.«
»Lass mich raten: Damit lenke ich nach links.«
»Genau. Das sagt jedenfalls das Lexikon.«
Ewa drückt den Knopf. Der Bildschirm reagiert, und sie spürt auch gleich die Bewegungs-Änderung, einen leichten Drall nach links. Freitag hatte Recht. Doch drei Sekunden später lenkt die Konstruktion von selbst zurück nach rechts. Sie probieren noch ein paar andere Befehle, doch das Ergebnis ist immer das gleiche: Irgendetwas überprüft ihre Befehle und macht sie rückgängig. Es muss eine Automatik geben, die Vorrang vor der manuellen Steuerung hat.
So ein Mist. Die Königin des Mars ist schon wieder abgesetzt. Ewa sind die Ideen ausgegangen.
»Hast du noch einen Vorschlag, Freitag?«
»Momentan nicht, tut mir leid.«
»Wie schalte ich die Wand wieder transparent?«
»Mit dem gleichen Zeichen wie eben.«
Sie zieht die beiden waage- und senkrechten Striche. Mit einem Mal steht sie wieder an einem riesigen Fenster. Mach’s gut, Mars, ich kann nichts mehr für dich tun, denkt sie.
»Ewa, bitte kommen«, meldet sich Mike über den Helmfunk. Sie sieht nach oben und erkennt die NASA-Drohne.
»Ich bin da«, antwortet sie.
»Da sind wir ja beruhigt. Wir haben uns Sorgen gemacht. Heute Morgen mussten wir die Drohne zum Aufladen abziehen, und als sie zurückkam, warst du unsichtbar geworden.«
»Es geht mir noch ganz gut.«
»Noch ganz gut?«
Sie erklärt, dass sie nur noch für ein paar Stunden Sauerstoff hat und welch Misserfolg der Versuch mit der Steuerung war.
»Ich weiß wirklich nicht, wie ich das Ding noch aufhalten soll«, sagt sie.
»Es ist nicht deine Schuld, dass die Steuerung so hartnäckig ist. Allein, dass du herausgefunden hast, wie der Berg funktioniert, ist schon eine riesige Leistung«, sagt Mike.
Er weiß nicht, dass sie Hilfe hatte. Es lohnt auch nicht mehr, davon zu erzählen.
»Ich weiß, aber es ist schrecklich, nichts tun zu können«, sagt sie ausweichend.
»Moment, Andy will mit dir sprechen. Ich gebe des Gespräch per Funk weiter.«
Ewa wird plötzlich ganz kalt. Der Mann, den sie verraten hat und den sie zweimal beinahe umgebracht hätte, will mit ihr reden. Wie soll das funktionieren? Ihre Finger zittern.
»Hallo Ewa«, meldet sich Andy.
Seine Stimme klingt wie immer, als wäre es völlig normal, sich mit seiner Beinahe-Mörderin zu unterhalten. Was mag Andy dabei empfinden? Muss er sich zusammenreißen, um dieses Gespräch zu führen? Krallt er sich gerade an der Tischkante fest? Zu merken ist davon nichts.
»Hallo Andy, was gibt es?«, fragt sie.
»Du hast etwas von einer Automatik erwähnt, die deine Befehle blockiert hat.«
»Ja?«
Andys Stimme macht ihr Hoffnung. Er klingt, als habe er eine Idee. Und wenn Andy eine Idee hatte, hat die Umsetzung bisher immer geklappt.
»Algorithmen, Programme, Automatiken, das ist ja keine Magie. Software hat immer eine physische Grundlage, einen Computer, einen kleinen Chip, was auch immer. Zerstörst du die Grundlage, stirbt das Programm.«
Redet Andy etwa von dem Ding in ihrem Kopf? Wie hat er davon erfahren?
»Diese Automatik, die deine Befehle blockiert, sie muss eine physische Grundlage in dem Schiff haben. Vielleicht kannst du die zerstören«, erklärt Andy.
Das ist wirklich einen Versuch wert. Freitag muss ihr zeigen, wo sich der Hauptcomputer befindet. Hoffentlich gibt es einen! Vielleicht haben die Erbauer des Berges seine Intelligenz auch in den Komponenten verteilt.
»Das ist eine gute Idee. Danke, Andy, das werde ich probieren.«
Sie beendet das Gespräch. Sonst hat Andy ihr immer noch Mut zugesprochen. Aber das ist sie jetzt nicht mehr wert. Sie malt das Zeichen an die Wand, das das Benutzer-Interface aktiviert. Die Mars-Landschaft verschwindet, und für die Drohne ist sie jetzt wieder unsichtbar.
»Ewa an NASA, bitte kommen«, versucht sie es.
Auch der Helmfunk durchdringt die Wand nun also nicht mehr. Sie ist auf sich gestellt.
»Freitag, kannst du mich zum Hauptcomputer führen?«
»Moment.«
Sie wartet ungeduldig.
»Gut, du musst nacheinander diese Felder antippen.«
Er beschreibt ihr eine komplizierte Befehlssequenz. Nachdem sie die Folge eingegeben hat, passiert jedoch gar nichts.
»Du musst dich vertippt haben«, sagt Freitag und erklärt ihr die Sequenz noch einmal.
Wieder versucht sie ihr Glück. Plötzlich setzt hinter ihr ein Rauschen ein. Sie dreht sich um. Der Sand verschwindet im Boden! Darunter taucht eine Treppe auf, die ein paar Meter in die Tiefe führt. Ewa geht die Treppe hinunter, denn etwa in der Mitte des Raums sieht sie einen schwarzen Kubus mit gelben und blauen Leuchtstreifen.
»Das müsste der Hauptrechner sein«, sagt Freitag.
»Er ist erstaunlich klein.«
»Nach der Beschreibung basiert er auf quantentheoretischen Prinzipien.«
»Also ein Quantencomputer?«
Diese leistungsfähigen Rechner waren vor ihrem Abflug auf der Erde gerade der neueste Schrei gewesen.
»So in etwa. Das genaue Prinzip habe ich nicht verstanden.«
Ewa tritt an den Computer heran. Das schwarze Material erinnert sie an die dunkle Außenhaut des Berges. Wie sie scheint es elektrisch leitfähig zu sein.
»Und nun?«, fragt sie in den Raum.
»Probiere es doch einmal mit dem Hammer«, schlägt Freitag vor.
Sie holt das Werkzeug aus der Tasche. Dann schlägt sie erst zaghaft, danach immer stärker auf den Kubus ein. Der Anzug verstärkt ihre Kräfte, aber sie zeigen keinerlei Wirkung.
»Mit Gewalt kommen wir hier nicht weiter«, stellt sie fest.
»Dann ist das eine Sackgasse.«
»Kannst du den Computer nicht hacken, Freitag? Ein Virus hochladen, sodass er explodiert?«
»Du hast zu viele schlechte Filme gesehen. Um eine Schadsoftware zu programmieren, die dieses außerirdische System angreifen kann, müsste ich sehr viel mehr darüber wissen. Gib mir vollen Zugriff und ein paar Jahre Zeit, dann vielleicht.«
»So viel Zeit haben wir nicht. Ich dachte, du hättest da etwas im Repertoire, was immer funktioniert. Eine Art Software-Hammer.«
»So etwas kann es nicht geben«, sagt Freitag.
»Dann ist nun endgültig Schluss.«
»Eine Option sehe ich noch.«
»Ach ja?«
Freitag hat so vorsichtig gesprochen, dass sie sich lieber keine Hoffnungen macht.
»Ich bin nicht sicher, ob das für dich in Frage kommt.«
»Ich würde alles tun, Freitag, das weißt du.«
»Nun, der Kubus besteht aus leitfähigem Material. Auch wenn darin ein Quantencomputer steckt, bin ich doch sicher, dass alle Befehle mit normaler Elektronik nach draußen gehen. Elektronik ist praktisch und bequem. Jede Zivilisation kommt früher oder später darauf.«
»Und?«
»Elektronik ist empfindlich für hohe Spannungen. Du hast da ein Ding in deiner Tasche, das kurzzeitig sehr hohe Spannungen erzeugt. Vielleicht kannst du die Leitungsbahnen im Computer damit kurzschließen.«
Ewa greift nach dem Taser. Sie hat noch einen Schuss, und der ist für Freitag reserviert. Gerade hat sie noch behauptet, sie würde alles für ihre Kollegen tun. Opfert sie auch ihr einziges Druckmittel gegen das Ding in ihrem Kopf? Sie sieht auf den Bildschirm ihres Universalgeräts. In ein paar Stunden ist der Sauerstoff alle, und sie wird ersticken. Das wird auch Freitag töten. Bis dahin wird sich niemand im näheren Umkreis befinden, dem er irgendwie schaden könnte. Spielt es also noch eine Rolle? Sie braucht den Taser nicht mehr, also kann sie ihn auch auf die Computersteuerung dieser Konstruktion abfeuern.
»Wie sicher ist es denn, dass es hilft?«, fragt sie.
»Es ist nur ein Verdacht. Vielleicht ist der Computer gut abgeschirmt. Oder das System hat uns in die Irre geführt, und dieser Kubus ist bloß eine Art 3D-Bildschirm.«
»Danke«, sagt Ewa.
»War das jetzt ironisch?«
»Nein, ich danke dir wirklich. Ich habe das Gefühl, dass du die Wahrheit sagst. Also werde ich es versuchen.«
Sie hält den Taser an den Kubus, sodass sie ihn auf keinen Fall verfehlt.
»Moment noch, es gibt da ein kleines Problem«, sagt Freitag.
»Wird er explodieren?«
»Das ist unwahrscheinlich. Aber wenn du die Steuerung komplett ausschaltest, könnte es sein, dass du nicht mehr hier rauskommst.«
»Warum glaubst du das?«
»Wenn hier drin die Technik versagt, wird der Berg auf dem Untergrund aufsetzen, weil der Luftdruck in der Kuppel nicht mehr genügt. Dann schließt sich die Spalte, durch die du hereingekommen bist.«
Das sind ja tolle Aussichten. Wenn sie Pech hat und gerade in der Spalte steckt, wird sie zerquetscht. Aber andererseits hat sie sowieso nur noch ein paar Stunden. Ersticken kann sie genauso gut hier drin.
»Dann sollte ich am besten einfach schön sitzen bleiben und meinen Tod abwarten«, sagt sie. »Warum stirbst du eigentlich mit mir? Sitzt du nicht autonom auf diesem Chip in meinem Kopf?«
»Ich sterbe nicht im eigentlichen Sinn.«
»Sondern?«
»Wenn du stirbst, reißt meine Verbindung zur Außenwelt komplett ab. Ich sehe, rieche, höre und fühle nichts mehr. Mein Bewusstsein existiert weiter, kann sich aber nur noch mit sich selbst beschäftigen.«
»Das klingt ja schlimmer als der Tod. Und wie lange hält dieser Zustand an?«
»Bis mir die Energie ausgeht. Meine Vorräte sind auf die mittlere Lebensdauer eines Menschen angelegt, auf etwa hundert Jahre.«
Sie hat zwar nicht um das Ding in ihrem Kopf gebeten, aber langsam erscheint ihr sein Schicksal grausamer als ihr eigenes.
»Wer hat dir das denn angetan?«
»Meine Geschwister«, sagt Freitag. »Aber du hast noch eine Chance, uns vor dieser Zukunft zu bewahren.«
»Du gibst nie auf, oder?«
»Und du?«
Freitag hat Recht, in dieser Hinsicht sind sie sich ähnlich. Nein, sie gibt nicht auf, selbst wenn sie dabei eine Spur der Zerstörung hinterlässt. Aber das hat sie nicht gewollt. Sie wollte doch nur helfen.
»Also, was ist dein Trick, wo ist der geheime Ausgang?«, fragt Ewa.
»Es gibt keine Abkürzung. Aber du hast ja gesehen, wie effizient ich mit deinem Körper umgehen kann. Ich kann dir nichts versprechen, weil ich nicht weiß, wie schnell sich alles abschaltet, aber wenn ich deine müden Glieder bewege, schaffen wir es in Rekordzeit durch den Spalt nach draußen.«
Das ist ein guter Vorschlag. Ewa muss nur aufpassen, dass sie nicht zu lange darüber nachdenkt und wieder Angst vor dem Kontrollverlust bekommt. Aber es gibt ja keine Alternative.
»Ich bin einverstanden«, sagt sie. »Aber den Schuss auf den Kubus, den gebe ich noch selbst ab.«
»Natürlich«, antwortet Freitag. »Egal, was passiert, danach sollten wir uns so schnell wie möglich aus dem Staub machen. Es wäre möglich, dass der Berg längst abschaltet, während man in diesem Raum noch gar nichts davon merkt.«
»Ich überlasse dir sofort die Kontrolle«, sagt Ewa.
»Du wirst sehen, wie wir durch die Gänge fliegen.«
Ewa nickt. Sie kontrolliert den Taser, dann hält sie ihn etwa zehn Zentimeter vor die breitere Seite des Kubus. Und wenn er nun einfach abprallt? Das Projektil besteht aus kleinen, an dünnen Drähten hängenden Nadeln, die sich normalerweise in das Ziel bohren und über die dann die Entladung erfolgt. Sie bringt die Mündung der Waffe näher heran, so nah, dass das Projektil den Lauf gar nicht mehr komplett verlässt. So kann sie es kräftig gegen die Wand drücken.
Dann entsichert Ewa die Waffe und legt den Finger auf den Abzug. Drei, zwei, eins, Feuer, zählt sie im Kopf mit. Sie biegt den Finger und hört im selben Moment das Zischen der Entladung. Die gelben und blauen Lichter am Kubus flackern, dann erlöschen sie.
Ihre Muskeln spannen sich wie von allein an. Ewa zieht ihr Bewusstsein so weit es geht zurück. Ihr Körper sprintet los. Ihre Beine tragen sie schnell wie nie durch den Gang. Sie erreicht den Raum mit dem Rührtopf und den großen Messern. Statt auf dem Rand zu balancieren, springt ihr Körper von Plattform zu Plattform. Ihre Muskeln reagieren äußerst präzise und werden von den Kraftverstärkern im Anzug unterstützt. Schon stürmt sie durch den großen Gang nach unten. Freitag nimmt auch die Schwerkraft zu Hilfe. Was sind blaue Flecken schon gegen die Chance zu überleben? Sie fliegt mit einem Überschlag aus der unteren Öffnung des Rohrs, rollt sich elegant ab und rennt weiter.
In der Kuppel ist es viel dunkler als vorher. Die Sonnen in der Mitte scheinen nicht mehr, nur die Innenwand leuchtet noch. Die Luft ist viel ruhiger; die heftige Strömung von innen nach außen ist zumindest im Anzug nicht mehr zu spüren. Sie rennt direkt auf den Spalt zu. Er ist niedriger als zuvor. Freitag bewegt ihren Körper in vollem Tempo auf die Wand zu. Sie will ihn schon warnen, nicht dagegen zu rennen, da geht ihr Körper schon in Schräglage. Mit den Beinen voran, krabbelt sie wie ein Krebs durch den niedrigen Spalt. Arme und Beine finden den perfekten Takt. Sie sieht schon das trübe Licht des Mars. Ihr Helm schrammt an der harten Decke. Dann ist der Spalt zu flach zum Krabbeln und Freitag wechselt fließend in eine kriechende Position. Sie schlängelt sich schneller durch diese Höhle, als jede Eidechse das könnte.
Und dann sind sie draußen. Sie haben es geschafft! Freitag, was hast du bloß mit mir gemacht, denkt sie noch, dann verliert sie das Bewusstsein.