Sol 314, MfA-Basis
»Schieb!«, ruft Theo.
Das aus zwei Glasscheiben geformte Dreieck kommt ihm langsam entgegen. Er lässt es in seine behandschuhten Hände gleiten. Die Konstruktion ist überraschend schwer. Er tritt ganz langsam zurück und hält an, kurz bevor sie von der Ladefläche des Rovers rutscht.
»Ich brauche dich jetzt hier«, sagt er.
»Ok«, hört er Rebecca über den Helmfunk.
Sie schwingt sich elegant über die Ladefläche und greift nach dem Ende der Konstruktion. Die Grundfläche, eine dicke Plastikplatte, ist etwa drei Meter lang und so breit, dass man sie bequem in zwei Händen tragen kann. Darauf lehnen zwei Glasscheiben aneinander. Sie bilden einen Keil. Links und rechts sind zwei ebenfalls gläserne Seitenwände angebracht.
»Siehst du die Stellfläche?«, fragt Theo.
»Ja, sehe ich.«
Gestern haben sie die Fläche geglättet. Sie befindet sich an der Spitze des Abhangs, der über ihrer kleinen Siedlung thront. Das gläserne Prisma soll darauf sitzen wie eine kleine Krone.
»Und hepp«, kommandiert er.
Perfekt synchronisiert setzen sie die Konstruktion auf dem Untergrund ab. Theo tritt einen Schritt zurück. Rebecca winkt. Vermutlich sieht sie unten jemanden. Dass sich dort eine Siedlung befindet, ist erst auf den zweiten Blick zu bemerken, weil ihr größter Teil unter der Erde liegt.
»Ich hole den ersten Kanister«, kündigt Theo an.
Das ist der schwächste Teil seines Plans. Im geheizten Rover haben sie mehrere mit Wasser gefüllte Kanister. Sie müssen das Wasser in die Glaskonstruktion füllen, bevor es gefriert. Bei aktuell minus 40 Grad Lufttemperatur bleibt da nicht viel Zeit.
»Ich öffne das Ventil«, sagt Rebecca.
So haben sie es abgesprochen. Theo läuft zum Rover und entnimmt dem Laderaum den ersten Kanister. Dann rennt er zum Glaskeil, öffnet unterwegs schon den Verschluss und gießt die Flüssigkeit in die Konstruktion.
»Hat geklappt«, sagt Rebecca, »Glückwunsch!«
»Danke.«
Der Inhalt des ersten Kanisters bedeckt zwar gerade einmal den Boden, aber er hat vorher genau ausgerechnet, wie viel Wasser sie benötigen. Er rennt noch acht Mal hin und her. Der Wasserspiegel steigt immer schneller, weil sich die Konstruktion nach oben hin verjüngt. Beim letzten Kanister ist er nicht schnell genug: Das Wasser ist bereits gefroren, bevor er es ausgießen kann.
»Das dürfte kein Problem sein«, sagt Rebecca. »Siehst du, es geht oben nur um ein paar fehlende Zentimeter.«
»Stimmt«, antwortet er und sieht zur Sonne. Es ist früher Nachmittag, aber sie steht schon ziemlich tief.
»Lass uns schnell nach unten fahren«, sagt Theo. Er ist aufgeregt. Von dieser Konstruktion hängt nichts ab, weder ihr Überleben noch das Schicksal der Menschheit, und gerade das ist das Besondere an ihr. Es handelt sich um puren Luxus.
Sie springen auf den Rover. Rebecca hat das Gefährt zuerst erreicht und sitzt an der Lenkung. In rasanter Fahrt geht es die Hänge hinunter. Sie müssen einen langen Umweg fahren, für den direkten Weg ist der Kraterrand viel zu steil. Theo klammert sich von hinten an Rebecca, um nicht vom holpernden Rover geschleudert zu werden. Mit Rebecca unterwegs zu sein, macht ihm großen Spaß.
Für sie hat er sich auch den gläsernen, mit Wasser gefüllten Keil ausgedacht. Denn sie hat neuerdings bedauert, dass sie wohl nie wieder einen Regenbogen sehen würde. Der Keil soll das ändern.
Sie erreichen die Kraterebene.
»Halt mal bitte an«, sagt Theo.
Rebecca bringt den Rover zum Stehen. Theo beugt sich nach vorn und tippt auf den Kartenschirm neben der Steuerung.
»Ungefähr hier«, sagt er.
Rebecca startet den Motor wieder. Langsam fährt sie zu dem Punkt, den Theo auf der Karte markiert hat.
»Hier müsste es sein«, sagt sie.
Theo sieht auf die Uhr. »Noch zwanzig Minuten«, sagt er.
Sie stehen nebeneinander, sodass ihre Oberarme sich berühren. Durch den dichten Stoff des Raumanzugs ist es unmöglich, dass sie gegenseitig ihre Wärme spüren, doch es kommt Theo trotzdem so vor. Sie beobachten den Kraterrand.
»Jetzt«, sagt Theo.
Die Sonne ist kurz davor, hinter dem Kraterrand zu verschwinden. In diesem Moment erreichen ihre Strahlen den gläsernen Keil, der wie ein Prisma funktioniert und das Licht in seine Bestandteile auffächert. Ein Regenbogen entsteht. Er ist zwar klein, aber deutlich sichtbar. Die Sonne hat zwar viel weniger Leuchtkraft als auf der Erde, doch weil die Umgebung in der Dämmerung versinkt, wird der Regenbogen umso deutlicher sichtbar.
»Er ist wunderschön«, sagt Rebecca.
»Wie du«, antwortet Theo.
»Danke«, sagt sie.
Sie hält die Augen fest auf die Spektralfarben gerichtet, während Theo hinter sie tritt und sie umarmt.
»Stell dir vor, wir stehen in der Karibik am Strand, nach einem tropischen Gewitter«, sagt er.
»Ich stelle es mir vor. Der Sand ist ganz warm und weich unter meinen Füßen. Es riecht nach Meer.«
Sol 316, NASA-Basis
»Lance?«
»Ja, Sarah?«
»Was ergibt 268 mal 24 durch 24,66 plus 56?«
Er sieht seine Freundin an, die ihm gegenüber am Computer sitzt. Warum tippt sie die Rechnung nicht einfach selbst ein? Aber seine Aufgabe ist so langweilig, dass er sich über jede Abwechslung freut. Er muss die Wasser- und Düngermengen der vergangenen zwei Wochen dem Ernte-Ertrag gegenüberstellen. Es ist eigentlich Sarahs Auftrag, die als Biologin für den Garten zuständig ist, aber er hilft ihr. Lance rechnet im Kopf. 268 mal 24 durch 24,66 ergibt rund 260, Sarah hat ja keine Klammern genannt, 56 dazu, das sind dann 316.
Das heutige Datum! Lance springt auf. Natürlich, an Sol 56 haben sie … Er geht um seinen Schreibtisch herum, stellt sich hinter seine Freundin und massiert ihre Schultern.
»Geht es los?«, fragt er.
»Ich glaube schon. Ich habe das ja noch nicht erlebt, aber wenn mir als Ärztin eine Frau von solchen Schmerzen berichten würde, wäre die Diagnose klar. Er ist anscheinend superpünktlich.«
»Wir müssen Mike und Ewa Bescheid geben«, sagt Lance. »Komm schnell, ich bringe dich ins Arztzimmer.«
Aber Sarah bleibt ganz ruhig sitzen.
»Kein Grund zur Hektik«, antwortet sie. »Ich kann auch noch ganz allein laufen.«
»Dann gehe ich schon mal vor«, sagt Lance, »und hole Ewa ab.«
In der Basis gibt es neben Sarah keine weitere Ärztin, deshalb hat sich Ewa zusätzlich in Geburtshilfe ausbilden lassen. Als gelernte Bäuerin wisse sie, wie man ein Kalb zur Welt brächte. Sarah hatte laut gelacht und geantwortet, dass sie sich bei ihr in den besten Händen fühle.
Ewa hat gerade frei, deshalb besucht Lance sie in ihrem Zimmer. In diesem Teil der Untergrund-Struktur riecht es noch immer nach frischer Farbe. Die Räume sind erst vor zwei Wochen bezugsfertig geworden. Bis dahin hatte Ewa in einem Lagerraum mehr gehaust als gewohnt.
Er klopft an der Tür, und sie bittet ihn herein. Ewa liegt auf einem improvisierten Bett. Sie hat sich das Gestell selbst zusammengeschweißt. Als Polster dient ein großer, flacher Sack, der mit trockenen Halmen aus eigener Ernte gefüllt ist. Deshalb duftet es in dem Raum ein bisschen nach Heu.
»Es geht los«, sagt Lance ohne weitere Begrüßung.
Ewa setzt sich auf.
»Bleib ganz ruhig«, sagt sie.
Über seinen Rücken läuft Schweiß, obwohl es in Ewas Zimmer nicht wärmer als zwanzig Grad ist. Sie hat gut reden. Hier geschieht gleich das größte Wunder, das das Universum zu bieten hat, und er soll ruhig bleiben!
»Ist nicht so einfach«, sagt er und reibt sich das Kinn.
»Wir machen das schon«, antwortet Ewa. »Sieht alles sehr gut aus, das Baby hat sich doch prima entwickelt.«
Ewa hat recht. Weder die geringere Schwerkraft noch die höhere Strahlungsdosis scheinen dem Fötus geschadet zu haben. Die Ultraschallbilder zeigen einen in jeder Hinsicht wohlgeformten Jungen. Trotzdem hat Lance Angst. Noch nie ist ein Mensch auf einem anderen Himmelskörper geboren worden. Und ihre medizinischen Möglichkeiten sind begrenzt. Die Expedition war auf einen Besuch auf dem Mars angelegt, nicht auf seine Besiedelung. Anders als bei den Teilnehmern des privaten Raumfahrtprojekts Mars-City, die sich ebenfalls auf dem Mars befinden, wird sein Sohn Impfungen ebensowenig erhalten können wie das Vitamin K, das man Neugeborenen gleich nach der Geburt verabreicht. Doch die Beziehungen sind angespannt, weil sie sich geweigert haben, sich dem Administrator zu unterwerfen.
»Kommst du jetzt?«, fragt Lance.
»Gleich«, sagt Ewa. »Ich ziehe mir noch etwas anderes an und wasche mich gründlich. Solltest du auch tun, wenn du dabei sein willst. Willst du?«
Er nickt. Natürlich will er. Er wird der erste Mensch sein, der seinen Sohn auf dem Mars begrüßt.
Die Geburt ist laut, anstrengend und blutig, und es stinkt. Lance ist in Schweiß gebadet. Er sitzt hinter Sarah, während sie schreiend presst, ihm laufen Tränen über das Gesicht, und er merkt es nur wegen des salzigen Geschmacks im Mund. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil Sarah so leiden muss, während er nur beobachtet. Deshalb freut er sich, wenn sie seine Hand so fest drückt, dass es schmerzt, und wenn seine Beine unter ihrem Gewicht einschlafen und brennen. Vielleicht kann er ihr so wenigstens einen Teil der Last abnehmen. Sarah atmet in dem Takt, den Ewa ihr vorgibt. Sie ist eine vorbildliche Mutter, schon in den ersten Sekunden des Lebens ihres gemeinsamen Sohnes.
Ein letzter Schrei, dann haben sie es geschafft. Sarahs Muskeln erschlaffen; Lance muss sie fest umarmen, damit sie nicht nach unten rutscht. Alle Kraft scheint aus ihr gewichen. Er hält sie fest.
»Willst du?«
Ewa hält ihm eine Schere hin. Was soll er tun? Er schüttelt den Kopf.
»Die Nabelschnur«, sagt Ewa. »Es ist nicht schwer.«
Sie gibt ihm die Schere in die rechte Hand und dirigiert ihn.
»Jetzt«, sagt sie.
Er drückt zu. Der Widerstand ist nicht groß. Jetzt hat er seinen Sohn von seiner Mutter getrennt. Lance schluchzt. Es ist ein Abschied und ein Willkommen. Er hätte nie gedacht, dass es so … dramatisch ist.
»Hilfst du ihr auf die Liege?«
Ewa ist ein paar Schritte zur Seite getreten und kümmert sich um das Neugeborene. Lance glaubt nicht, dass er aufstehen kann, um Sarah zur Liege zu bringen, aber er schafft es doch. Als sie endlich liegt, streicht er ihr mit dem Zeigefinger die Haare aus dem Gesicht. Sie sieht unendlich müde aus und ist trotzdem wunderschön. Ihre Augen öffnen sich, und ihre Lippen schenken ihm ein Lächeln.
Ewa bringt ihren Sohn und zeigt ihn Sarah. Er ist in ein weißes Handtuch gewickelt. Als Ewa ihn vor Sarahs Gesicht hält, fängt er an zu schreien. Sarah lächelt.
»Das meint er nicht so«, sagt Lance leise.
»Ich weiß«, flüstert sie.
Im Hintergrund ist ein Klingeln zu hören. Lance ignoriert es. Sein Sohn ist einfach zu schön. Er wird nie wieder damit aufhören, ihn zu betrachten.
Jemand berührt ihn an der Schulter. Er dreht sich erschrocken um.
»Mike braucht dich in der Zentrale«, sagt Ewa.
»Ist es …«
Er beendet die Frage nicht, denn Ewas Gesicht hat sie schon beantwortet. Eine schreckliche Angst überfällt ihn, wie er sie noch nie gespürt hat. Er ahnt, dass dies die Auswirkungen des Vater-Seins sind. Ob das von nun an immer so bleibt? Er richtet sich auf.
»Ich muss zu Mike«, sagt er.
Sarah nickt nur.
»Wer weiß, was er von mir will«, sagt er, obwohl Sarah gar nicht gefragt hat.
Dann dreht er sich um und verlässt den Raum.
»Was ist los?«, fragt Lance noch in der Tür.
Mike dreht sich ruckartig zu ihm um. Sharon lehnt an der rechten Wand und spielt nervös mit ihrem Gürtel.
»Wir haben ein Notsignal von der MfA aufgefangen«, antwortet Mike.
»Ein Notsignal?«
Lance ahnt, was er gleich hören wird. So grausam es klingt, aber er wünscht sich, dass ein Meteorit die Basis von »Mars für Alle« getroffen hat, oder dass dort vielleicht eine Seuche ausgebrochen ist. Es wäre schrecklich, aber es beträfe seinen neugeborenen Sohn nicht.
»Ein Überfall. Zehn Bewaffnete von der Mars-City. Summers hat sie geschickt.«
»Gab es … Tote?«
Lance fröstelt. Der kalte Schweiß auf seinem Rücken fühlt sich eklig an. Er muss dringend unter die Dusche.
»Nein. Ellen hat entschieden, auf Gegenwehr zu verzichten. Sie hätten keine Chance gehabt. Die ganze MfA-Basis ist besetzt.«
»Das ist … vernünftig«, sagt Lance. Mike ist mit Ellen liiert, und nun weiß er sie in der Hand eines skrupellosen Gegners. Lance wischt sich mit der Handfläche über die Stirn.
»Können wir irgendetwas tun?«, fragt er.
»Nein«, sagt Sharon und schüttelt den Kopf. »Sie sind zu weit weg.«
»Wir müssen uns überlegen, wie wir selbst reagieren sollen«, sagt Mike.
»Wir kämpfen«, sagt Lance. Aber noch während er seinen Worten hinterherlauscht, scheinen sie an Kraft zu verlieren. Womit sollen sie kämpfen? Sie sind nur zu fünft. Nein, zu sechst, und das macht die Entscheidung noch schwerer.
»Ich weiß nicht, ob das klug ist«, sagt Sharon.
»Mein erster Impuls ist ebenfalls, dass wir uns wehren müssen«, sagt Mike. »Aber dann stelle ich mir vor, wie Summers’ Leute vor unserer Basis erscheinen. Vielleicht schickt er weniger, aber wenn wir uns wehren, wird das kaum ohne Verluste abgehen.«
»Er wird mehr schicken als gegen die MfA«, sagt Sharon. »Wir sind jetzt schließlich gewarnt. Summers muss mit Gegenmaßnahmen rechnen. Es war schlau, dass er erst die MfA einkassiert hat, die haben dreimal so viele Leute wie wir. Da war das Überraschungsmoment noch viel wichtiger.«
»Summers ist ein Arschloch«, sagt Lance.
»Ein mächtiges Arschloch«, korrigiert ihn Mike.
»Jungs, so kommen wir nicht weiter«, sagt Sharon.
»Wie viel Zeit haben wir?«, fragt Lance.
»Schwer zu sagen«, meinte Mike. »Wenn Summers dieselben Leute, die die MfA in ihre Gewalt gebracht haben, auch zu uns schickt, dann haben wir ein paar Tage.«
»Aber vielleicht widmet er uns auch ein eigenes Überfall-Kommando«, wendet Sharon ein. »Das könnte jede Minute hier auftauchen.«
»Du vergisst die Überwachungsdrohnen«, sagt Lance. Er hat in zwanzig Kilometern Abstand um die Basis drei automatische Drohnen stationiert, die ungewöhnliche Ereignisse melden sollen. »Sie geben uns eine Vorwarnzeit von etwa zwei Stunden.«
»Falls sie den Gegner bemerken«, sagt Mike.
»Ich gehe davon aus, dass sie nicht zu Fuß kommen. Und jedes Fahrzeug hinterlässt eine deutlich sichtbare Staubfahne.«
»Das stimmt«, gibt Mike zu.
»Ich schlage vor, wir überlegen uns bis morgen, ob wir uns verteidigen wollen«, sagt Sharon.
»Und in der Zwischenzeit bereiten wir uns auf den Verteidigungsfall schon mal vor«, sagt Lance.
»Einverstanden«, antwortet Mike.
Sol 316, MfA-Basis
»So, die Männer steigen jetzt mal ganz brav ein«, sagt einer der Männer in den modernen Spaceliner-Raumanzügen und zeigt auf die Schleuse eines Kabinen-Rovers. Theo dreht sich um. Rebecca ist nicht zu sehen. Er hofft, dass es ihr gut geht. Er erkennt Andy und Ellen. Sie hat Andy einen Arm auf die Schulter gelegt. Vermutlich redet sie ihm gut zu, damit er sich nicht wehrt. Ihre Entscheidung, die weiße Fahne zu schwenken, ist nicht bei allen gut angekommen. Theo hat sie unterstützt. Gegen zehn Bewaffnete hätten sie keine echte Chance gehabt. Aber wie wird es nun weitergehen?
Plötzlich stößt ihn jemand von der Seite an.
»Du sollst da einsteigen, hast du das nicht gehört?«
Auch einer von Summers’ Männern. Theo muss sich zusammenreißen, um ihm nicht den Hochmut herauszuprügeln. Der Mann hält seine Waffe so ungeschickt, dass er sie ihm leicht entwinden könnte. Aber dann wären immer noch sieben andere Männer da, um ihn im Schach zu halten. Zwei sind anscheinend bei den Frauen in der unterirdischen Unterkunft. Er winkt Andy zu, dreht sich um und steigt in die Schleuse.
Im Rover riecht es unangenehm. Kein Wunder, hier haben ja auch fünf Männer mehrere Tage verbracht, denkt er. Einer von ihnen erwartet ihn im Inneren. Er signalisiert Theo, dass er seinen Raumanzug ausziehen soll. Wenn der Typ bloß nicht so mit seiner Waffe herumfuchteln würde!
»Mann, das ist gefährlich!«
Theo kann es sich nicht verkneifen. Aber wenn sich eine Kugel löst und die Außenwand durchschlägt, gehen sie beide drauf!
»Lass das mal meine Sorge sein«, sagt der Mann in einem breiten texanischen Englisch.
Manche lernen nie, wie gefährlich der Umgang mit Waffen in einer Welt ohne Atemluft sein kann. Es wäre nur gut, wenn er selbst nicht dabei sein müsste.
Der Mann schiebt ihn nach hinten. Was will er, und warum sagt er das nicht einfach? Ah, am Ende des Fahrzeugs gibt es eine weitere Schleuse. Sie führt in den zweiten Rover. Theo will sich bücken und nach seinem Raumanzug greifen, doch der Texaner schiebt ihn weiter. Verstehe, du willst nicht, dass ich den Anzug mitnehme. Theo muss anerkennen, dass der Gedanke dahinter sehr clever ist. Wenn sie alle MfA-Männer in den hinteren Rover sperren und dann die Schleuse entfernen, ist jede Flucht ausgeschlossen. Ohne Anzug kann niemand den Rover verlassen. So kann man sie völlig ohne Bewachung durch die Marswüste chauffieren.
Aber für die Gefangenen dürfte das eine Tortur werden. Vier oder fünf Tage wird die Fahrt sicher dauern, vielleicht auch länger. Und die ganze Zeit werden sie auf engem Raum miteinander verbringen müssen, ohne Rückzugsmöglichkeit und mit primitiven sanitären Einrichtungen. Genug Nahrung und Wasser werden sie ihnen doch hoffentlich geben? Natürlich. Der Administrator verfolgt eine Strategie. Jedes Leben ist kostbar. Je größer der Genpool seiner Kolonie, desto einfacher wird das Überleben. Wenn der Mann nicht so ein riesiges Arschloch wäre, hätten sie sich ihm wohl eher angeschlossen. Es wäre vernünftig gewesen. Drei verschiedene Siedlungen der Menschen auf diesem Planeten, das ist unsinnig.
»Gehts ein bisschen schneller?«, ruft der Mann von hinten.
Theo lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Er hat den Schlauch noch nicht ganz hinter sich, als er Andy hört.
»Fass mich nicht an«, sagt Andy laut.
»Ich fasse dich an, wann immer ich will«, antwortet der Texaner.
Theo bleibt stehen. Er kennt diesen Ausdruck. Der Mann hat Lust auf Gewalt und wartet nur auf einen Grund, Andy zu schlagen. Der schmächtige Georgier scheint ihm ein dankbares Opfer zu sein.
»Denk gar nicht daran«, ruft Theo. Er kann in drei Sekunden bei Andy sein.
»Misch dich nicht ein«, sagt der Texaner, »das geht dich gar nichts an. Schon vergessen, wer hier die Knarre besitzt?«
Das reicht. Theo geht nach vorn. Der Mann zielt auf ihn, aber er hält nicht an.
»Du bist ein Hornochse, wenn du schießt«, sagt er, »aber das weißt du hoffentlich selbst.«
Der Mann nimmt die Waffe herunter.
»Ist ja schon gut«, sagt er. »Und jetzt los! In den hinteren Rover. Wir wollen bald losfahren.«
Rebecca wartet in der Zentrale, aber sie weiß nicht, worauf. Was passiert gerade da oben? Was hat der Administrator mit den Männern vor? Niemand beantwortet ihre Fragen. Zwei Bewaffnete sind hier unten bei den Frauen stationiert. Sie laufen langsam durch die Gänge und machen anzügliche Witze auf Grundschulniveau, als hätten sie noch nie eine Frau gesehen. Waffe hin oder her, wenn sie wollten, hätten sie die beiden Witzfiguren längst schachmatt setzen können.
Aber womöglich setzen sie damit das Leben ihrer Männer aufs Spiel! Vermutlich ist das die Grundidee des Administrators. Wenn er die beiden Gruppen voneinander trennt, kann er die eine als Faustpfand für die andere einsetzen. Rebecca befürchtet, dass dieser Plan gelingen könnte.
Unerwartet erscheinen die beiden Fremden in der Zentrale. Es ist offensichtlich, dass sie auf den kleinen Knopf in ihrem Ohr hören.
»Okay, Leute«, sagt der eine schließlich. »Wir lassen euch jetzt allein. Ihr werdet zweimal am Tag mit dem Büro des Administrators Kontakt aufnehmen und euch Aufgaben zuteilen lassen.«
»Und was passiert mit den Männern?«, fragt Ellen.
»Die nehmen wir mit. Sie werden in der Stadt gebraucht.«
»Das könnt ihr …«, fängt Rebecca an, aber sie merkt sofort, dass das Unsinn ist. Natürlich können sie.
Ellen legt ihr die Hand auf den Oberarm.
»Gut, Ladies«, sagt der andere, »und wenn ihr das Bedürfnis nach einem richtigen Mann habt, dann ruft einfach nach Jack.«
Der andere schlägt ihm kräftig auf den Rücken.
»Du bist verheiratet, Mann«, sagt er.
Die Männer schließen ihre Anzüge und verlassen die Zentrale durch die Schleuse. Sobald die Lampe an der Schleusenkammer wieder grün blinkt, folgt Rebecca ihnen in ihrem Raumanzug. Aber sie kommt zu spät. Eine Staubfahne zeigt, dass die drei Fahrzeuge den Krater bereits in östlicher Richtung verlassen haben. Sie winkt ihnen hinterher, in der verrückten Hoffnung, dass Theo vielleicht gerade durch ein Fernglas sehen möge. Dann bemerkt sie bunte Lichtflecken vor sich. Sie dreht sich um und sieht den täglichen Regenbogen. Sie wird Theo wiedersehen, daran gibt es keinen Zweifel.