10

  

CHARLOTTE

Als Seb am Samstagabend mit einem Dutzend Rosen bei mir im Wohnheim auftaucht, vergebe ich ihm vollkommen. Er hat dafür gesorgt, dass wir nicht zur Abendandacht müssen. Wir haben den romantischsten Tisch im ganzen Whitney Inn – denselben wie beim Sommertanz –, umgeben von Fenstern, in deren Scheiben sich das Kerzenlicht spiegelt.

Er erzählt mir von dem Trainer aus Princeton und von ihrem genialen Rennen. Ich habe ihn noch nie so glücklich gesehen und bringe es nicht über mich, die Stimmung kaputtzumachen. Schließlich war der Inhalt der Nachricht sowieso ganz schön weit hergeholt. Also schiebe ich meine Sorgen beiseite und sage mir, das das Blödsinn ist.

Jetzt schließt Seb die Tür zur Alten Bibliothek auf, die mir schon wie unser persönliches Versteck vorkommt. Ich habe mein blau geblümtes Lieblingskleid an und meine silbrigen Pumps, die nur ganz dezent glitzern. Seb trägt Blazer und Krawatte.

»Nicht dein Ernst«, sage ich, als er das Licht anknipst. Auf dem Couchtisch vor dem Ledersofa stehen ein Weinkühler mit einer Flasche Champagner, zwei Sektflöten und ein Teller voller Pralinen.

»Gefällts dir?«, fragt er.

Am liebsten würde ich herausplatzen, dass mich schon Sakko und Krawatte umgehauen haben, aber stattdessen küsse ich ihn.

Er lässt den Korken knallen und wir lachen, als er durch die Luft fliegt und von den Vorhängen abprallt. »Ich habe noch nie Champagner getrunken«, sage ich.

»Der schmeckt dir bestimmt.« Seb reicht mir ein Glas.

»Wie hübsch.« Ich betrachte die Blasen, die im Licht tanzen.

»Genau wie du«, erwidert er und lächelt auf eine Art, die mich schwindeln lässt, obwohl ich noch keinen Schluck getrunken habe. »Alles Gute zum Viermonatstag.«

»Alles Gute zum Viermonatstag.« Wir stoßen an und trinken einen Schluck. Es schmeckt kalt, metallisch und irgendwie magisch.

Dann küssen wir uns wieder, trinken noch etwas, küssen uns weiter und essen Pralinen.

Nach dem ersten Glas hebt er einen Finger. »Okay, ich bin bereit.«

Ich versuche zu verstehen, was er meint, während er verschmitzt grinsend mit seinem Telefon hantiert. Dann legt er es ab und zieht mich an beiden Händen hoch.

Wie aus dem Nichts ertönen Klavierklänge. Eine Bigband. Mit einer fließenden Bewegung drückt Seb mich an sich und fängt an zu tanzen. »Ich habe in den Ferien Tanzstunden für die Hochzeit meiner Schwester genommen. Sie hat mich dazu gezwungen.«

Out of the tree of life I just picked me a plum – you came along and everything started to hum.

»Das ist Frank Sinatra«, sage ich.

Er nickt und wirbelt mich herum. Zum Glück kann ich das. »The best is yet to come« , singt Seb mit.

Echt jetzt? Ich fühle mich wie in einem körperlosen Schwebezustand. Wir fliegen durch den Raum und immer mal wieder sehe ich unser Spiegelbild in den Fenstern. Ich erkenne mich kaum wieder. Aber genau die hier bin ich an der Lycroft Phelps.

Das Lied endet und Seb lässt mich nach hinten sinken. Heftig atmend halten wir die Pose einen Augenblick. Dann lachen wir und geben uns einen altmodischen Schmatzer, der zu dem Lied passt.

»Jetzt verstehe ich, warum die Leute gern tanzen«, sagt er leicht verlegen, während er seine Krawatte abnimmt und auf den Blazer legt. »Als ich mit der fünfzigjährigen Lehrerin geübt habe, ging mir das nicht so ganz in den Kopf, aber mit dir ist es was völlig anderes.«

Ich bin sprachlos und ziehe ein Gesicht, von dem ich hoffe, dass es angemessen bescheiden und geschmeichelt wirkt. Wir setzen uns wieder, er schenkt Champagner nach und wir lehnen uns zurück. Er holt den Schlüssel aus seiner Hosentasche und gibt ihn mir. »Mir ist es lieber, wenn du den behältst. Dir kann er von keinem der Jungs geklaut werden.« Ich seufze vor Freude.

Wir essen Pralinen, tanzen zu Fly Me to the Moon und ein paar anderen Klassikern, an deren Titel ich mich nicht erinnere. Mitten in einem langsamen Tanz beschließe ich, dass dies der perfekte Abend ist, um miteinander zu schlafen. Als die Champagnerflasche fast leer ist, finde ich, dass es nicht zu gewagt wäre, es vorzuschlagen. Am Ende des Liedes lässt er mich erneut nach hinten sinken.

»Das ist wohl deine Spezialität«, sage ich.

»Ich sehe gern, wie deine Haare nach hinten fallen. Du bist wunderschön. Perfekt.«

Ich zucke zusammen. »Nein«, sage ich. Perfektion weckt zu hohe Erwartungen – das weiß ich aus Erfahrung. Perfektion kann man viel zu leicht versauen. Aber so hat er es nicht gemeint, also schlinge ich ihm beide Arme um den Hals, nachdem er mich wieder hochgezogen hat, und sehe ihm tief in die Augen. »Denkst du eigentlich manchmal darüber nach, wann wir …« Ich bringe es nicht über die Lippen, miteinander schlafen zu sagen. Das klingt so unromantisch, so sachlich. Überhaupt nicht nach den riesigen Emotionen, die in diesem Moment mein ganzes Wesen erzittern lassen.

»Was?« Er reibt seine Nase an meiner. Wir küssen uns. Lange.

Wieso versteht er nicht, was ich meine? »Ich weiß nicht«, sage ich. »Ich glaube, ich bin angetrunken.« Nein, Charlotte, du bist feige, nicht angetrunken. Na ja, vielleicht beides.

Schließlich landen wir auf dem Sofa, mit deutlich weniger Kleidung als bei unserer Ankunft. Und es ist unglaublich. Ich will, dass es immer weitergeht, denke nicht darüber nach, was er will oder nicht will – ich denke einfach gar nicht –, bis er kurz darauf mit einer meiner Haarsträhnen spielt.

Er lächelt. »Wir sollten besser gehen. Ich muss ins Bett.«

»Scheiß Mannschaft«, sage ich schmollend und hoffe, dass ich das morgen nicht bereue.

Ich schließe die Zimmertür und lehne mich dagegen. »Hannah, ich bin verliebt.«

»Ich will alles darüber hören«, sagt sie. Aber dann schneidet sie eine Grimasse.

»Was ist?«

Sie hält mir eine weitere zusammengefaltete Nachricht hin.

Ich blinzele ein paar Mal mit meinen champagnerschweren Lidern. »Nicht heute«, sage ich und stöhne. »Wo kommt die denn her?«, frage ich, während ich die Pumps ausziehe.

»Hank ist dagegengetreten, als wir vor ein paar Stunden reingekommen sind. Irgendjemand hat sie unter der Tür durchgeschoben. Wer, verdammt noch mal, ist das?«

Ich nehme ihr die Nachricht ab und lasse mich aufs Bett sinken. »Ein Arsch«, sage ich.

Sie kichert. »Habt ihr wieder getrunken?«

Ich nicke grinsend. »Ja.«

Die Nachricht werfe ich auf den Schreibtisch. »Ich lese sie morgen. Den heutigen Abend ruiniere ich mir nicht.« Dann stehe ich wieder auf und drehe Hannah den Rücken zu. Sie macht mir den Reißverschluss auf.

»Kann ich gut verstehen.«

»Vielleicht werfe ich sie auch einfach weg.«

»Es ist sowieso bestimmt alles Quatsch«, sagt Hannah. »Echt! Die Blumen, das Restaurant?«

»Genau.« Ich ziehe mir den Schlafanzug an und erzähle ihr von der Bibliothek. »Er hat Champagner und Pralinen mitgebracht und wir haben sogar zu Frank Sinatra getanzt.«

»Ach, komm, das glaub ich nicht«, sagt sie.

Ich lächele nur.

»Er ist wirklich ein Genetisches Wunder.«

Während sie sich die Zähne putzt, starre ich die zusammengefaltete Nachricht an.

»Ich schmeiß sie weg, wenn du willst«, sagt sie nach dem Ausspülen.

Hilflos nicke ich.

Gerade, als sie sie wegwerfen will, rufe ich: »Warte.«

Sie hält die Nachricht zwischen zwei Fingern. »Wir müssen sie lesen, oder?« Es ist eine Feststellung, keine Frage.

»Ja!« Ich stöhne. »Aber ich kann nicht. Würdest du? Bitte?«

Sie nickt pflichtbewusst und geht zur Lichterkette über ihrem Schreibtisch.

»Das ist doch lächerlich«, sagt sie ärgerlich. »Auf keinen Fall …«

»Sag mir, was da steht!«

»Es ist Blödsinn. Da steht: SM lügt. Frag BJ Bodenrader

Der Champagner, dessen Wirkung langsam nachlässt, rauscht mir in den Ohren. »BJ Bodenrader?«, frage ich. Mann, ich wusste doch, dass ich ihr nicht trauen kann. »BJ ?! Blow-Job Bodenrader?!«

Hannah zerknüllt die Nachricht und wirft sie in den Papierkorb. Dann kommt sie zu mir. »Kein siebzehnjähriger Typ tanzt mit einem Mädchen zu Frank Sinatra und betrügt sie dann. Nicht an dieser Schule. Überleg doch mal! Damit gibt er sich doch auf ganz untypische Weise eine Blöße. Da versucht irgendjemand, euch aus Rache auseinanderzubringen.«

»Na ja, immerhin können wir jetzt ausschließen, dass Bodenrader die Nachrichten selbst geschrieben hat.« Ich richte mich auf. »O Gott, glaubst du, er hat mir die Blumen mitgebracht, weil er ein schlechtes Gewissen hat?«

Hannah schüttelt den Kopf. »Warum sollte er das tun?«

»Ich weiß es nicht!« Ich stehe auf und gehe im Kreis. Dabei kaue ich am Nagel meines kleinen Fingers. »Sollte ich ihm freiwillig einen Blowjob anbieten?«, frage ich leise. Gott, da wäre ich nie drauf gekommen. Ich will auch nicht, aber … »Ist ihm klar geworden, dass ich total langweilig und in Sachen Sex vollkommen unerfahren bin?«

»Okay, jetzt redest du Bullshit«, sagt Hannah. »Und wenn es so wäre, scheiß auf ihn. Aber ich glaube wirklich nicht …«

»Wir wissen gar nichts!«, fahre ich sie an.

»Mein Gott, jetzt komm mal wieder runter«, sagt Hannah genervt.

Ich schließe die Augen und lasse mich auf den Schreibtischstuhl fallen. Der Champagner rauscht durch meinen Körper und ich kann nicht klar denken. »Ich werde die Wahrheit herausfinden«, erkläre ich und stehe wieder auf.

»Okay«. Hannah nickt, dann schaut sie verwirrt. »Und wie soll das gehen?«

Ich hole eine Jeans aus der Schublade. »Ich werde mit ihm reden.«

»Mach keine Dummheiten. Ich glaube, du bist noch betrunken«, sagt Hannah.

»Ich bin weder dumm noch betrunken.« Eigentlich bin ich wahrscheinlich beides.

»Er hat dich gerade wie eine Göttin behandelt. Diese Nachrichten sind fake!«

Ohne zu antworten, ziehe ich mir einen Pulli an.

»Er könnte sauer werden, wenn du ihm einfach so irgendwas vorwirfst.«

»Du bist doch diejenige, die meint, ich müsse mehr mit ihm reden!«, sage ich, während ich die nackten Füße in die Sneaker zwänge. Hannah guckt immer noch besorgt.

»Und was ist mit der Schließzeit? Du hast nur noch eine gute Stunde.«

»Unsere Wohnheimassistentin kontrolliert das eh nie!«, sage ich, eine Hand in die Hüfte gestemmt.

»Und wenn doch?«

Ich werfe einen Blick auf mein Bett und schiebe all meine Kissen unter die Decke, damit es aussieht wie ein Mensch. »Mach einfach das Licht aus.«

Ganze zehn Sekunden sehen wir uns an.

»Ich bin echt eine richtig gute Freundin«, knurrt sie. »Richtig gut.«

»Die beste.« Ich nehme meine Jacke vom Kleiderhaken neben der Tür. »Halt am Fenster nach mir Ausschau. Falls ich ausgesperrt werde.«

»Du könntest mir auch einfach eine Nachricht schicken, Champagnerkönigin«, sagt Hannah.

»Stimmt.«

Ich verlasse das Wohnheim durch die Hintertür, weil ich es gerade nicht ertragen könnte, gespielt freundlich zu sein. Zügig gehe ich zu den Gründerstatuen und biege zu den Jungswohnheimen ab. Schließlich erreiche ich Haus Somes. In Sebs und Chaunceys Zimmer im ersten Stock brennt Licht. Ich lächele. Siehst du! Er geht ins Bett , denke ich. Genau, wie er gesagt hat. Moment, hat er das gesagt? Doch, er hat gesagt, er muss ins Bett. Es ist etwas fragwürdig, ihm nachzuspionieren, aber ich recke den Hals, um ins Zimmer blicken zu können.

Da ist sein wunderschöner Kopf. Er trägt Jeans und ein Mannschafts-Sweatshirt. Einen Fuß hat er auf den Stuhl gestellt, um seinen Sneaker aufzubinden.

Moment mal, aufzubinden? Oder zu?

Er zieht den Sneaker nicht aus, sondern wechselt den Fuß und bindet sich den anderen zu.

Hat er morgen überhaupt Training? Vor meinen Augen verschwimmt alles. Was, wenn er sich mit Sofia Bodenrader trifft? Für einen Blowjob, der ihm bei unserem Date noch gefehlt hat? Ich spule noch mal unsere Zeit auf dem Sofa in der Bibliothek ab und suche nach dem richtigen Moment, in dem ich das hätte anbieten sollen. Als ob ich überhaupt wüsste, wie das geht. Mir schwirrt der Kopf. In seinem Zimmer geht das Licht aus. Mir wird klar, dass er jeden Moment zur Haustür herauskommen wird. Hastig husche ich um die Ecke.

Er kommt die drei Stufen herunter. Ich könnte ihm folgen. Aber ich stelle ihn mir mit Bodenrader vor und kann nicht. Das will ich mir nicht ansehen. Meine Schuhe knirschen kaum auf dem Kies, weil ich meine Ballett-Superkräfte einsetze, während ich schnell Richtung Haus Fisher zurücklaufe.