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Eine Woche vor dem Herbstball
und dem Big Dip

CHARLOTTE

Heute ist die öffentliche Generalprobe, was für fast alle, die ich kenne, irre viel bedeutet – obwohl ich glaube, dass einige der männlichen Zuschauer das noch nicht wissen. Das Osher-Kulturzentrum ist größer als die Kapelle, in der die Abendandacht stattfindet, mit roten Sesseln und Bühnenvorhängen, hinter denen wir stehen und hören, wie Rektor Frye alle begrüßt und dann weiterlabert.

Die Tänzerinnen stehen mit mir hinter der Bühne: drei auf dieser Seite mit Gabby und drei auf der anderen Seite mit Felipe. Draußen im Zuschauerraum sitzen die Lehrerschaft und alle Schülerinnen und Schüler. Inklusive Seb. Colin Pearce. Q. Es ist unsere einzige Generalprobe vor dem Auftritt beim Herbstball nächstes Wochenende.

»Ich bin total nervös«, flüstert Hannah. »Lieber würde ich vor tausend Fremden auftreten.«

»Geht mir auch so«, sagt Vivi.

»Ihr habt es drauf. Das wird großartig.« Ich drücke ihren Arm, dann Hannahs. »Viel Spaß.«

»Ich bin vollkommen damit beschäftigt, die verschiedenen Bereiche meines Lebens getrennt zu halten«, sagt Hannah. »Wie konnten wir nur Margot für denselben Tag einladen?«

»Das stimmt.« Ich schüttele den Kopf. »Aber jetzt gehts erst mal um den Tanz. Wenn wir einen Superauftritt hinlegen, gehen wir selbstbewusster in das rein, was danach kommt.«

Meine Mitbewohnerin und ich wechseln einen wissenden Blick. Ich schüttele erneut den Kopf; wir dürfen jetzt nicht daran denken. Mein Herz klopft laut. Gabby geht neben uns mit den Armen die Bewegungsabfolge durch. Als wären wir gar nicht da. Ich versuche, mir ihre Konzentration zum Vorbild zu nehmen.

Als Rektor Frye Madame vorstellt, spitze ich die Ohren. Dann höre ich meinen Namen und mein Magen macht einen kleinen Satz. Das ist Aufregung, denke ich, keine Angst. Sofia sieht mich von der anderen Seite der Bühne her an. Ich lege die Hand auf die Brust und lächele. Sie atmet ein, ihre Grübchen begleiten ein nervöses Lächeln.

Applaus. Das Licht im Zuschauerraum geht aus. Der Vorhang hebt sich.

Stille.

Dann erfüllen Coldplays wogende Klavierklänge den Saal. Und los gehts! Hannah, Skye, Lily, Mallory, Sofia, Vivi, wie ein Wasserfall. Ich habe am ganzen Körper Gänsehaut. Sie machen das großartig. Ich werfe einen Blick ins Publikum. Ms Ballard sitzt neben Ms Pipkin in der ersten Reihe. Madame Chu auch. Oben in der Loge sehe ich Seb und zucke zurück.

Jetzt kommt das Solo. Gabby springt auf die Bühne. Ihr Körper fließt. Ihre Arme sind gleichzeitig zart und stark. Dann kommt Felipe und das Duett beginnt. Ich hole tief Luft, nehme diesen Moment in mich auf und genieße ihn. Felipe hebt Gabby höher als bei jeder Probe und das Publikum hält den Atem an, als er sie anschließend fast bis auf den Boden sinken lässt. Sie halten ihre Pose, dann kommen die anderen Mädchen mit ihren Sprüngen vor dem Paar. Das Klavier verklingt und alle gehen in ihre finale Position. Ende!

Der Saal rastet jubelnd und klatschend aus. Die Tänzerinnen und Felipe stehen auf und verbeugen sich. Es wird gepfiffen und getrampelt, und ich weiß, dass ein Teil davon bloß der Lärm ist, den Schüler immer machen, wenn sie Gelegenheit dazu haben, aber ich sehe auch, dass einige aufgestanden sind. Einige jüngere Tänzerinnen, die ich nicht kenne, bringen Felipe und Gabby Blumen und dann nehmen die beiden mich am Arm und führen mich auf die Bühne. Es ist großartig und meine Kehle ist ganz zugeschnürt. Dann fällt der Vorhang.

Wir jubeln und umarmen uns alle. »Wenn ihr beim Herbstball nur halb so gut seid«, sage ich, »wird es großartig!«

Dann ziehen sich die Tänzerinnen in der Umkleide hinter der Bühne um, um sich anschließend ins Publikum zu setzen. Nur Hannah wird auf der Bühne bleiben und ihr Interview führen.

»Du wirst das total super machen«, sage ich. »Du interviewst die Intendantin eines großen Nachrichtensenders, mit siebzehn!«

»Sie ist wirklich sehr bodenständig.« Hannah nimmt einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche. »Vielleicht wäre sie bereit, meine Mentorin zu werden! Später, im College, meine ich.«

»Sie wird darum betteln!«, sage ich. »Viel Glück!« Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und gehe dann wie geplant zu Alex und Q hinter die Bühne, um von dort die Reaktionen des Publikums zu beobachten.

»Ich fiebere total mit ihr mit«, flüstere ich.

»Ist es nicht der Hammer, dass wir das wirklich durchziehen?«, sagt Alex. »Ich kann es immer noch nicht glauben.«

Schließlich ist es so weit. Rektor Frye kündigt Hannah an und Hannah stellt Ms Pipkin vor.

Sie setzen sich in zwei Sessel auf der Bühne. Ms Pipkin ist groß und trägt einen dunkelblauen Hosenanzug mit einer roten Ansteckblume und rote Pumps mit niedrigem Absatz.

Hannah ist ihr Konzept heute ungefähr vierzig Mal mit uns durchgegangen, deshalb weiß ich, dass sie Ms Pipkin zuerst fragt, was sie nach ihrem Schulabschluss 1985 gemacht hat, dann interviewt sie sie zu ihrer Karriere und geht schließlich dazu über, wie sie auf die Idee für das Mentorinnenprogramm gekommen ist. Und dann wird die ganze Scheiße aufgedeckt. Ich kriege nicht viel mit von dem, was Ms Pipkin sagt, bis sie davon berichtet, dass die Lycroft Phelps zwar seit 1972 auch Mädchen aufnimmt, sich diese zu Anfang aber immer wie Bürgerinnen zweiter Klasse fühlten.

»Viele der Ehemaligen wollten keine Mädchen an der Lycroft Phelps. Ihnen gefiel der Gedanke, dass sich Jungen aufs Lernen und die Charakterbildung konzentrieren konnten, ohne die«, sie malt Anführungszeichen in die Luft, »›Ablenkung durch Mädchen‹. Und davon war die ganze Atmosphäre hier durchdrungen. Ich war schon immer eher forsch. Ein paar Tage nach meinem Start hier in der neunten Klasse dachte ich: Ich gehe jetzt allein in den Speisesaal und schließe neue Freundschaften. Also marschierte ich mit meinem Bœuf Stroganoff auf dem Tablett in den Saal und setzte mich. Ich verstand nicht, warum die Leute um mich herum kichernd zu mir herübersahen. Bis die Footballmannschaft auftauchte und mir erklärte, ich säße an ihrem Tisch.« Sie bedeckt das Gesicht mit den Händen.

Das Publikum lacht.

»Im nächsten Jahr sah ich, wie ein anderes Mädchen denselben Fehler machte, und im Jahr darauf wieder. Da dachte ich, warum haben wir keine Mentorinnen, die die Neuntklässlerinnen vor diesen Mini-Demütigungen bewahren? Denn die können sich summieren.«

Die Lehrer applaudieren und die Schüler fallen höflich ein.

Hannah sagt: »Ich bin selbst Mentorin und es gefällt mir, den neuen Mädchen dabei zu helfen, sich hier einzuleben. Ich weiß, dass viele von uns dankbar sind, dass Sie das Programm ins Leben gerufen haben. Manchmal haben wir es auch heute noch mit Sexismus zu tun. Zum Beispiel rudern die Mädchen im Herbst nicht, obwohl die Jungsmannschaft schon seit ihrer Gründung Anfang des 20. Jahrhunderts das ganze Jahr über rudert.«

»Ja, diese Änderung ist in Arbeit«, sagt Ms Pipkin. »Ich war im Frauenruderteam in Yale und bin mit einem Ruderer aus Yale verheiratet, von daher ist das etwas, das ich dem Stiftungsrat als wichtige Investition nahegelegt habe.«

Q und ich sehen uns an. »Das könnte sogar noch besser laufen als gedacht«, sage ich.

»Haben Sie je von der Slycroft-Geheimgesellschaft gehört, Ms Pipkin?«, fragt Hannah. »Das ist ein geheimer Club nur für Jungs.«

Q, Hannah und ich sehen zur Loge hinauf, in der Seb und Colin sitzen. Ihre Mienen sind wie versteinert. Khalid zuckt nervös. Max sitzt mit Nils im Parkett.

»Ja, zu meiner Zeit hier gab es Slycroft noch«, sagt sie. »Aber ich dachte, zwei Jahre nach meinem Abschluss wäre der Geheimbund abgeschafft worden.«

»Er ist noch da«, sagt Hannah. »Und sie spielen dort ein Spiel namens Kopfgeldjäger, das total sexistisch ist.«

Ms Pipkin weiß, was jetzt kommt. Wir wissen auch, dass ihre Tontechniker die Aufnahme bearbeitet haben, damit man keine Namen erkennen kann. Außer einem.

Ich halte Qs Hand. Alex hält ihre andere. Aus den Lautsprechern tönt Colins Stimme: Heute verteilen wir die Punkte für die diesjährige Kopfgeldjagd. …, schreibst du mit? Bevor wir uns den Neuntklässlerinnen zuwenden, können noch Anpassungen in der Punktwertung der Zehnt-, Elft- und Zwölftklässlerinnen angemeldet werden.

Stimme 2 (Nash): Ich bin dafür, Hannah Hesse acht Punkte zu geben. Habt ihr ihre Titten dieses Jahr gesehen?

Im Saal erhebt sich Gemurmel. Entsetzte Lehrer beugen sich über die Sitze, um miteinander zu reden. Die Mädchen sind genauso entgeistert, während die Jungs verwirrt wirken. Hannahs Gesicht ist knallrot und sie rutscht auf ihrem Sitz hin und her. Aber sie hält stand. Rektor Frye steht auf, dann setzt er sich wieder. »Unglaublich, dass sie zugestimmt hat, dass ihr Name drin bleibt«, sagt Alex.

»Saucool«, sagt Q.

»Das macht es glaubwürdiger«, sage ich.

Stimme 1 (Colin): Alle dafür?

Stimme 3 (Seb): Einen ganzen Punkt mehr?

Als ich zu Seb hochschaue, ist seine Miene ausdruckslos wie immer. Am liebsten würde ich ihm eine reinhauen.

Stimme 2 (Nash): Aber klar, Bro! Du solltest sie mal in diesem Ballettoutfit sehen. Ich mache die Beleuchtung für ihren Auftritt. Oh, Mann!

[Gelächter und Applaus.]

»Krass, schaut euch mal Bill Nash an«, sage ich. »Der ist lila angelaufen.«

Stimme 1 (Colin): … steht dermaßen unter dem Bann seiner Tussi, dass er Hannah Hesse gar nicht bemerkt.

Stimme  4 (Pete Crenshaw): Huu-hu! …, noch immer keinen Slip. Ganz schön schwach.

[Weiteres Gelächter.]

Coach Follett geht zu Rektor Frye und die beiden reden kurz miteinander. Rektor Frye erträgt es nicht länger und kommt auf die Bühne. »Wir haben genug gehört, Hannah.« Seine Stimme klingt angespannt.

»Es geht gerade erst richtig los«, sagt Hannah.

Mrs Pipkin steht auf und beugt sich vor, um Rektor Frye etwas ins Ohr zu flüstern. Er zuckt zurück und starrt sie an, dann kehrt er zu seinem Platz zurück.

Im Folgenden gehen die Jungs auf der Aufnahme dazu über, die Neuntklässlerinnen (deren Namen gelöscht wurden) zu bewerten und sich über Brüste, Ärsche, Gesichter auszulassen. Da inzwischen Tumult im Publikum herrscht, sind nur Teile davon zu verstehen. Nach mehreren schmerzhaften Minuten schaltet Hannah die Anlage aus. Ich werfe einen Blick auf Q. Sie beobachtet Pearce.

Ms Ballard tritt neben Ms Pipkin auf die Bühne. Auch Rektor Frye steht wieder oben. Er hebt die Hand, um für Ruhe zu sorgen, und auch wenn es eine Weile dauert, ist es irgendwann fast vollkommen still. Aber im gesamten Publikum ist die Anspannung mit den Händen zu greifen.

»Dieses Verhalten ist vollkommen inakzeptabel. Abscheulich«, erklärt Rektor Frye. Sein Haar ist zerzaust, sein Blazer aufgeknöpft. »Die Schüler – die Jungen , die an diesem Wettbewerb teilgenommen haben, werden aufs Härteste bestraft werden.«

»Rektor Frye«, sagt Ms Pipkin. »Wenn Sie erlauben?« Er nickt hilflos. »Hannah, du hast uns ein bemerkenswertes und mutiges Beispiel für investigativen Journalismus geliefert. Dich selbst öffentlich herabsetzen zu lassen, um dieses verwerfliche Verhalten anzuprangern, ist so mutig und wirkungsvoll, wie ich es in meiner Laufbahn nicht oft erlebt habe.«

Ein paar Lehrer und buchstäblich das gesamte weibliche Publikum stehen auf und applaudieren.

»Ich möchte noch betonen, dass nicht alle Jungs an der Lycroft Phelps so sind«, sagt Hannah. »Es gibt hier auch viele großartige, respektvolle, witzige Jungs. Aber die Tatsache, dass sich an unserer Schule eine solche Blase aus toxischer Männlichkeit entwickeln konnte, ist wirklich verstörend und stellt ein großes Problem dar. Wenn Mädchen verbal derart entmenschlicht werden, schafft das ein Klima, das sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung begünstigt.«

Q schluckt. Ich drücke ihre Hand.

»Wir brauchen mehr Aufklärung und Bildung zu diesem Thema«, sagt Hannah.

Rektor Frye beruhigt den Saal erneut und besteht darauf, dass wir gemeinsam das Schulgebet sprechen. Zum ersten Mal macht es den Eindruck, als würden sich die Leute wünschen, dass das Gebet wirklich etwas bedeutet. Als wir fertig sind, sagt Rektor Frye: »Ab morgen wird sich hier einiges ändern.«

Ich schaue zur Loge hinauf. Seb hat den Kopf in den Händen vergraben. Vermutlich ist das Angst auf Sebanesisch – etwas, von dem ich nie gedacht hätte, es mal zu Gesicht zu bekommen.