Der Film Noch

Ich sehe einen Stummfilm in Schwarz-Weiß. Einen ziemlich lustigen.

Ich schaue ihn eigentlich nicht wirklich. Deshalb weiß ich auch nicht, ob er lustig ist oder überhaupt schwarz-weiß.

Ich sehe die Köpfe der Leute im Kino, die aus dem Dunkel des Saals herausragen.

Ich sehe niemanden.

Ich sehe hinein in meine offene Tasche mit ihrem ganzen Kram: Bücher, Kosmetik, eine stinkende Mandarine und Nivea. Denn irgendwohin muss ich ja sehen. Die Tasche ist nicht besser oder schlechter als jeder andere Punkt. Warum also nicht sie? Ich sehe in meine Tasche. Vielmehr: Ich sehe nicht in sie. Ich sehe in meinen Posteingang, in dem vor drei Stunden deine Frage aus Amerika eingetrudelt ist.

»Liebst du mich noch?«

In Moskau ist Mittag, bei dir Nacht. Ich führe meine Hand zum Mund und hauche in die Faust. Puste Dampf durch sie. Im Kino wird nicht geheizt. Die Kälte trocknet den Körper aus. Ich kratze mich. Fange an zu zappeln. Kriege bestimmt gleich einen Niesanfall. Ein weiterer Angriff von dir auf meinen Körper. Neben deinem Nachtkörper liegt jetzt niemand, aber du weißt, dass es bei meinem anders ist. Rund um die Uhr sogar. Und das scheint dir unfair.

»Liebst du mich noch?«

Ich sehe einen Stummfilm in Schwarz-Weiß. Ich sehe ihn nicht.

Ein Lachen holt mich aus meinem Mail-Ordner, holt mich aus der Site, aus dem Internet, dem Rechner, dem Zuhause … Aus welchem Zuhause? … Aus einem neuen, einem grünen Zuhause, in dem es nach Räucherstäbchen riecht, an deren Duft ich nach wie vor keinen Gefallen finde. Aus diesem Zuhause, wo ich nun schon fast ein Jahr versuche, ohne dich zu leben. Ohne diese Frage von dir. Mit einer anderen, die mich nichts fragt. Jedenfalls nicht, solange sie nüchtern ist. Sobald sie trinkt, will sie alles über dich wissen. Ob du mir schreibst. Ob du mir sagst, dass du mich vermisst? Dass du mich liebst? Nur auf die letzte Frage antworte ich nassforsch: Komm schon, hör auf damit, natürlich nicht.

Das Lachen bringt mich in den Kinosaal zurück. Eine Komödie. Ein Stummfilm. In Schwarz-Weiß. Einstellungswechsel. Totale zur Halbtotale zur Großaufnahme. Ein erprobtes Vorgehen, exakt der empfohlene Schnitt. So hat man es uns vor der Vorführung in einem Vortrag erläutert. Das ist ein Filmclub. Wir besuchen ihn zusammen. Aber nicht mit dir. Wir beide würden gern einen Film machen. Ohne dich.

Einstellungswechsel, aber die Frage in meinem Mail-Ordner ist noch immer dieselbe.

»Liebst du mich noch?«

Von zentraler Bedeutung ist das Wort noch. Darauf muss die Kamera gerichtet sein, dazu mehr Licht, und die Maske muss auch ein zweites Mal ran. Großaufnahme. Sofort, ohne jede Ranfahrt. Dieser Schnitt soll irritieren. So hat man es uns erklärt. Auch ich fühle mich irritiert. Momentan. Ständig.

Ich sehe einen Film. Keine Ahnung, ob in Schwarz-Weiß oder Farbe. Woran ich mich erinnere: an den Protagonisten. NOCH. Ihm galt alle Aufmerksamkeit. Und vermutlich auch der Applaus beim Abspann.

Wenn ein noch existiert, dann existieren auch die anderen drei Wörter. An ihnen braucht man nicht zu zweifeln. Allerdings nur so lange nicht, wie es dieses noch gibt. Denn ohne noch

»Liebst du mich?«

Nach jedem Wort ein Fragezeichen. Herumstochern in Ahnungen. Reine Qual.

»Liebst du mich noch?«

Mit dem noch geht die Rechnung auf. Als kleines Einmaleins. Ein Kinderspiel.

Ich sehe einen Stummfilm in Schwarz-Weiß. Eine Komödie. Das muss er sein, wenn ringsum alle lachen. Und das höre ich genau. Mit den Augen, da hapert es – trotzdem sehe ich.

Irgendwann hast du daran gezweifelt, dass ich dich liebe. Hast an der Gegenwart gezweifelt. Genau wie jetzt. Dieselben Zweifel. Adressiert an diese Gegenwart, die aber nicht mehr die Gegenwart von damals ist. Es ist eine sehr präsente Gegenwart. An ihr zweifelst du, doch von der Vergangenheit bist du inzwischen überzeugt. Das noch ist eine Verbeugung vor ihr.

Ob eine Zukunft nötig ist, um an die Vergangenheit zu glauben?

In wie vielen Jahren wirst du fragen: »Liebst du mich noch?« Und verwandelt dein noch dann unsere Vergangenheit, die heute unsere Gegenwart ist, in Gewissheit?

Ende des Films. Alle klatschen. Ich auch. Wahrscheinlich gibt es guten Grund für den Applaus, wenn alle klatschen. Sie haben den Film ja schließlich gesehen.

Ich habe auch etwas gesehen. In meinem Posteingang, in dem ein Brief liegt, in dem eine Frage …

Lasst uns bei der nächsten Veranstaltung über diesen Film sprechen, sagt der Organisator des Filmclubs.

Können wir vielleicht sprechen?, schreibe ich in meine Tasche.