»Dass an dir immer alles abprallt! Mit deinem dicken Fell! Du Dickhäuter! Ein Elefant bist du!«
An die Geschichte erinnere ich mich nur vage. Nur in groben Zügen. Irgendwo, wahrscheinlich in Afrika – dort leben Elefanten, oder? –, kam es zu einer Überschwemmung, vielleicht auch zu einem Erdbeben oder einem Vulkanausbruch. Dieses spezifische Detail fällt meiner Ansicht nach kaum ins Gewicht. Worauf es ankommt: Die Natur hat dem Menschen einmal mehr gezeigt, wer der Herr im Hause ist. Natürlich gab es Opfer. Menschen starben. Aber nicht die Elefanten. Das sind kluge Tiere, die Gefahr rechtzeitig wittern. Sie haben sich damals mit der gesamten Herde in Sicherheit gebracht. Nach diesem Vorfall gelangten die Menschen zu der Überzeugung, dass der Elefant ein Tier mit sensibler Psyche und ausgeprägter Intuition ist.
Diesen Film habe ich doch schon etliche Male gesehen, hingerissen vom jungen Belmondo, der Humphrey Bogart kopiert, und von der noch jüngeren Jean Seberg, die nichts von ihrem tragischen Schicksal ahnt. Deshalb spule ich den Film auf der Suche nach dem einen Satz immer wieder vor. Beim dritten Anlauf finde ich die richtige Szene und höre: Wir müssen wie die Elefanten sein: Wenn sie unglücklich sind, ziehen sie weiter. Ich stoppe den Film, ich klappe mein Notebook zu, ich hole meine Sachen aus dem fremden Schrank, in dem mir ein paar Regale zugewiesen worden sind, ich lege die Schlüssel neben den Spiegel und gehe.
Meine wenigen Habseligkeiten passen in eine große Tasche, die ich mir über die Schulter hänge. Mit ihr laufe ich den ganzen Tag durch die Stadt und grüble über eine einzige Frage nach. Woher wussten die Elefanten, dass sie unglücklich waren? Fängt ihr Rüssel an zu jucken? Brennt es ihnen im Ohr? Oder kommen andere Dschungelbewohner zu ihnen und sagen: »Warum belügt ihr euch und uns obendrein? Wir sehen doch, dass ihr unglücklich seid.« Daraufhin nicken die Elefanten: Ja, stimmt schon, so ist es. Und dann? Treffen sie die Entscheidung zu verschwinden mit Bedacht, nüchtern und mit kühlem Kopf? Oder spontan? Nach einer Nacht, sagen wir von Donnerstag auf Freitag, in der sie etwas geträumt haben – so wie ich von dir? Sind sie sicher, dass der Ort, zu dem sie gehen, ihnen größere Freude bringt? Obwohl: Darüber denken sie vermutlich nicht nach. Schließlich gehen sie von einem Ort weg, und nicht irgendwo hin.
Dort, wo die Elefanten leben, ist es heiß. Hier ist es kalt. Schneewehen begraben den Boden unter sich. Moskau am Abend macht einen finsteren Eindruck. Die Menschen grübeln über ihr Unglück, ihre unguten Perspektiven und ungebetenen Erinnerungen. Sie stoßen gegen mich, denn sie haben die große Tasche nicht gesehen. Ich bin ebenso ignorant, laufe durch sie hindurch und frage mich, ob die Elefanten einander anrempeln, wenn sie in ihrer Herde zum glücklicheren Ort aufbrechen. An der Unterführung beim Puschkin-Denkmal bin ich immer noch in Gedanken bei den riesigen Tieren. Blieben die Elefanten, die sich gerettet hatten, noch lange am Leben? Oder erlegte sie kurz darauf ein Jäger? Nistete sich in ihrem Organismus eine tödliche Krankheit ein? Wenn ja, warum sind sie dann weitergezogen? Warum sind sie dann nicht friedlich dort gestorben, wo sie zu Hause waren …
Twerskaja, Kamergerski-Gasse und Lubjanka. Ich stapfe mit meiner Tasche durch die Stadt, gebe mir Mühe, auf den spiegelglatten Gehsteigen nicht auszurutschen, überlege anhand der Nummern in meinem Telefon, wen ich anrufen und um eine Übernachtungsmöglichkeit bitten könnte. Für heute und vielleicht noch für die nächsten Tage. Wenn ich mich erst einmal ausgeschlafen hätte, könnte ich mir in aller Ruhe darüber klar werden, wo, in welchem Haus, ich in Zukunft leben will. Von meinen russischen Kontakten kommt jedoch kein einziger infrage. Alle würden sich wundern, was denn los sei. Niemand weiß von dir, die du mir weiterhin Mails aus Amerika schickst, oder von der anderen, der ich heute ihre Schlüssel zurückgegeben und von der ich mich davongestohlen habe – für dich.
Eine junge Frau mit einem Kuli und ein paar Zetteln in der Hand hält mich an. Ihr Mantel ist mit Papierherzen in unterschiedlichen Rottönen geschmückt. Sie sieht aus wie eine Valentinskarte, die bei der falschen Adresse gelandet ist. Eine geschenkte Liebeserklärung, bei der völlig gleich ist, von wem.
»Entschuldigen Sie, würden Sie an unserer Umfrage zu diesem Feiertag teilnehmen?«
Endlich eine Möglichkeit, die Tasche abzustellen. Ich massiere meinen tauben Nacken, lockere meine schmerzende Schulter und lächle müde.
»Wenn auch ich Ihnen eine Frage stellen darf: Wohin gehen die Elefanten, wenn sie es nicht geschafft haben, glücklich zu werden?«