Nichts Persönliches

Alle haben sich getrennt. Sitzen nun in einsamen, schlecht beheizten Häusern. Nur manchmal reicht es für geringfügige Änderungen der Lage: Mal steht man in einer stillen Ecke, mal ändert man den Blickwinkel, mal schaut man auf die andere Wand. Nichts von Bedeutung. Nichts, woran sich das Auge hängen könnte. Worauf es ankommt: ja daran denken, die Fensterrahmen zu isolieren, damit es nicht reinpfeift. Ja den fauligen Müll rausbringen, damit er nicht stinkt. Ja nicht vergessen, dass noch … und ja nicht … damit … nun … damit man … lebt.

Mails werden keine mehr geschickt, weil sie gar nicht erst geschrieben werden. Jedes Wort kann in diesem Moment Anspruch auf die Rolle eines Spermiums erheben, das, indem es in die papierne Eizelle eindringt, möglicherweise nicht die Geburt einer Mail, sondern von Literatur nach sich zöge – und die Literatur erregt nichts als Übelkeit. Deshalb wird über das zeugungsfähige Organ der Schriftstellerei ein Kondom gestreift. Alle schweigen, niemand ist imstande, die Dinge schonungslos beim Namen zu nennen: die Liebe und die Unliebe. Um Verzeihung zu bitten oder zu verzeihen. So blieben die Eizellen unbefruchtet.

Wenn doch Mails, dann nur Musik. Eine angehängte Datei ohne angehängten Grund. Kein Wort, bloß der Titel im Betreff. Solitude. Gut, das muss nicht erklärt werden, das ist klar. Allerdings werden diese Mails nachts abgeschickt, wenn der Himmel überhaupt nicht klar ist und man auch nicht weiß, ob es sich am nächsten Tag aufklart, am Himmel und generell …

Die Mails kommen von allen Seiten. Man braucht sie nur an eine einzige Adresse zu schicken, damit die Postfächer dreier Länder von ihren Kopien überlaufen. Sicher, sie unterscheiden sich im Betreff. Odinotschestwo. Solitude. Samotnist. Jemand schickt sie jemandem, von dort aus weiter an eine dritte Person, von der dritten zur vierten und vielleicht auch gleich zur fünften und sechsten … Wahrscheinlich erhält irgendein Mensch diese Mail doppelt. Von unterschiedlichen Adressen. Und irgendwer wird es sich nicht nehmen lassen hinzuzufügen: »Nichts Persönliches. Einfach nur schön.«

Alle haben sich getrennt. Und alle klingen nun gleich. Nach der unerträglich schönen und unerträglich einsamen Musik von Ryūichi Sakamoto. Ich rufe das Mailprogramm auf, um etwas zu schreiben, begreife aber, dass ich allen, die infrage kommen, längst meine Einsamkeit geschickt habe. Allen in Amerika, allen in Moskau. Dass ich sie nicht noch einmal verschicken muss. Dass wir alle längst durch geheime Bande miteinander verbunden sind, eingebunden in eine wortlose Gemeinschaft. In einer Gemeinschaft, wo jemand fehlt, der nah sein müsste.