Weißt du,
genau genommen,
ist es gar nicht so schrecklich,
wie ich bisher dachte.
Märchen zu erzählen, ohne an sie zu glauben.
Zu streiten, ohne Standpunkt, ohne Klarheit, ohne irgendwas zu haben.
Alles fortzuräumen, was den Fluss des Lebens hemmt,
indem es den Weg mit einem Schmerzfels versperrt …
Weißt du, es ist einfach so
die Gewissheit geschwunden,
der Glaube ans eigne Gewicht –
all das schrumpfte von Jahr zu Jahr. Und falls
es erneut ums Große, Ganze, Kapitale
geht, dann ist da nichts mehr,
was,
wenigstens irgendwie,
wenigstens irgendwann
in die Waagschale geworfen werden könnte …
Dann bleibt nur ein flehender Blick,
dann bleibt nur ein tröpfelnder Kuss,
um die Lippen zu versiegeln, bevor ihnen
ein anderer Name entschlüpft. Verrückt
ist, wer nicht versucht, dem Kreislauf des Leidens zu entkommen.
Ich aber, ich hab sie noch alle, ich bin normal.
Was für eine Rolle spielt es denn,
sich selbst treu zu bleiben,
wenn das eigne Überleben auf dem Spiel steht?
Wenn es darum geht zu leben –
ohne jedes Verlangen,
doch mit dem Gefühl der Notwendigkeit,
unbedingt das fortzusetzen,
was nicht von uns begonnen wurde.
Verstehst du das? …
Doch lassen wir das. Du weißt das selbst am besten.
Denn du setzt fort.
* * *
Es war einmal vor langer, langer Zeit …
Schon sind wann und was genannt,
bleibt noch: wer,
sonst nimmt die Geschichte keinen Lauf.
Gestrichen wird das Wozu,
denn so will es die gute alte Regel.
Man sagt: Es war einmal,
man sagt: hinunter geht’s
bis tief ins Bewusstsein,
um dort den Anker zu werfen,
damit auf gar keinen Fall
zur Unzeit
eine Frage nach oben treibt.
Einstmals,
vor langer, langer Zeit,
in einem Königreich hinter den sieben Bergen,
in einem Staat hinter den sieben mal sieben Bergen,
da waren-lebten-liebten …
Der Bindestrich
als Möglichkeit
Namen auszulassen
und ohne Gewissensbisse von jemandem zu sprechen.
Denn für andere, die uns nicht kennen,
sind wir nur jemand: du und ich.
Sie sagen,
jemand würde wunderbar leiden,
jemand ganz apart verkrüppeln.
Jemand erküsste sich
auf dem Körper das Gebiet,
das danach unbewohnt blieb.
Für sie mögen wir ruhig auf ewig
Chiffre bleiben. Gesteckt in den Umschlag
des Fremden, Unbekannten, Unerschlossenen.
Wir sind jemand. Damit ist alles gesagt.
Füreinander wollen wir aber kein Jemand sein.
Einverstanden?
Einander wollten wir uns
trotzdem auf gar keinen Fall benennen.
Einverstanden?
Wir
waren.
Du und ich. Einzeln.
Wir
lebten.
Manchmal zusammen. Meistens getrennt.
Wir
liebten.
Aber nicht wie Menschen mit Abbildern,
die einander im Spiegel betrachten.
Nein, wir liebten ein klein wenig anders:
Das Abbild betrachtete den Menschen,
der aber schaute zur Seite.
Zu allen Seiten.
Wegen dieser Seiten musste sie zuweilen verzweifeln.
Sich verlieren.
Verschwindeln.
Dann schon lieber: vergessen und danach Vergessen suchen im Schlaf.
Sieh mich an:
An mir kann sich sehr wohl ein Beispiel nehmen,
wer Vergessen sucht
(obwohl sie, Hand aufs Herz, einzig zum Erwarten tendiert).
Verstehst du das?
Doch lassen wir das. Du vergisst ohnehin alle und alles.
Wie du dich erinnern wirst.
* * *
Waren.
Lebten.
Liebten.
Vergaßen.
Das ist ein Märchen.
Aber du bist kein Kind mehr, das an diesen Schluss glauben würde.