31. Dezember 2022, abends. Meine Hände sind rotbeetig. Purpurrot. Sie riechen nach Fisch. Unter meinen hellgrau lackierten Fingernägeln ziehe ich feine Gräten hervor. Hering im Pelzmantel. Pflaume mit Nüssen in Sauerrahm. Zwei sowjetische Gerichte, die ich mit nach Deutschland genommen habe und immer an Silvester zubereite. Bald kommen die Gäste. Deutsche und Ukrainer*innen. Einheimische und Geflüchtete. Früher haben meine Ehefrau und ich um 22.00 Uhr begonnen zu feiern. Zuerst Silvester nach Moskauer Zeit, eine Stunde später nach Kyjiwer Zeit, erst dann tranken wir auf das deutsche neue Jahr. Diesmal beginnen wir um 23.00 Uhr. Wir werden um 22.55 Uhr unseren Beamer einschalten und uns Selenskyjs Rede anhören. Am Ende werden wir alle »Slawa Ukrajini, Herojam slawa« ausrufen. Auch diejenigen, die kein Ukrainisch können. Und danach »S Novym rokom«.
Girlanden leuchten in den Fenstern der Nachbar*innen. Wir sollen nicht vergessen, unsere bunten Glühbirnen und Kerzen – gelb und blau – aus dem Kämmerchen zu holen. In diesem Jahr die beliebteste Farbkombination. Ich skype mit meinem Vater. Auf die Frage, ob es was Neues gibt, antwortet Papa, dass er einen neuen Fernseher gekauft hat, noch größer als der davor. Vielleicht war der vorige nicht mehr in der Lage, die Realität zu überschreien, sein Bild von der Welt so auszustrahlen, dass jede*r weiterhin an dessen Wahrhaftigkeit glaubte. Aber der neue, der große, der kann es. Wie viele russische Kriegsverbrechen ist er imstande zu vertuschen? Wann wird Papa gezwungen sein, nach einer neuen Marke, nach einem noch größeren Fernseher zu suchen? Ich sehe die Spiegelung des Fernsehers in Papas Brille und ich sehe Putin in diesem Fernseher. Ich bitte Papa, entweder den Fernseher auszuschalten oder seine Brille abzunehmen. Er nimmt die Brille ab.
Die elektronische Uhr zeigt die letzten Stunden vom Jahr 2022, die letzten Stunden von Tag 331. Seit dem 24. Februar haben alle Tage dieses Jahres zwei Ordnungszahlen: der wievielte Tag des Monats, der wievielte Tag der russischen Invasion. Vielleicht dachte die Presse, die diesen Kriegstagen sofort, von Anfang an, Seriennummern gab, dass es wie der fünftägige Krieg in Georgien werden würde. Mein Vater sagt, dass der Donbas-Krieg am 2. Juni 2014 begann, als die ukrainische Armee das Regierungsgebäude der Separatisten von Luhansk in die Luft sprengte. Meine ukrainischen Freund*innen meinen, dass er am 12. April 2014 begann, als der russische FSB-Offizier Igor Strelkow-Girkin mit seinen Soldaten die ukrainische Grenze überquerte und Slowjansk einnahm. Für mich aber hatte jener Krieg keinen Anfang. Irgendwann wurde klar, dass er schon lange da ist. Aber dieser Krieg jetzt hat einen Anfang, den Tag kennt die ganze Welt. Bedeutet dies, dass es bei jenem Krieg, der keinen Anfang hatte, deswegen auch kein Ende gab, und dieser Krieg genau aus diesem Grund doch ein Ende haben wird? In einer Textnachricht erkundige ich mich bei meinem Mieter nach meiner Wohnung in Kyjiw, wo ich sechs schlichte Jahre meines Studiums und anderthalb unerträgliche Jahre meiner Liebe verbracht habe. Die Wohnung liegt in dem Bezirk, der am häufigsten von Raketen getroffen wird, nicht weit vom SBU. Die Wohnung steht noch, antwortet er nach einer Pause. Ich weiß nicht, ob ich insgeheim gehofft habe, dass sie nicht mehr existiert.
Etwas nervös reibe ich die Rote Beete für die vorletzte Salatschicht, danach kommen die gekochten Eier und Erbsen als Garnierung. Ich schaue wieder auf die Uhr und versuche, mich zu beeilen. Ich habe zu spät angefangen, das Essen vorzubereiten. Ich hatte heute eine Deadline. Bis zum späten Abend habe ich an einem Drehbuch für einen Workshop gearbeitet. Neben meinem Foto und Namen stehen zwei Länder: Germany and Ukraine. Als ich mich beworben hatte, sollte ich eine Frage an eine*n Filmemacher*in aus meinem Land formulieren. Ich entschied mich für Kira Muratowa, eine sowjetisch-ukrainische Regisseurin, die 2018 gestorben ist.
Dear Kira, back in 2014 you supported the Maidan and the Ukrainians’ desire for freedom, but you called yourself a pacifist (like I used to call myself). You said: »No territory – let it be called the Motherland – deserves people to be killed because of it«, and that there can be no creative impulse here. What would you do now? Would you still consider yourself a pacifist like some Western feminists? Or would this war leave no space for your pacifism, like for many Ukrainians? Would you still find it impossible to make films during the war?
In meinem Drehbuch geht es um den Krieg. Seit fast einem Jahr geht es immer nur um den Krieg, egal, in welcher Sprache ich schreibe. Ich schreibe fehlerhaftes Deutsch, wie in diesem Moment. Ich schreibe fehlerhaftes Ukrainisch, wenn ich Artikel über ukrainische Filme auf Festivals schreibe. Ich schreibe fehlerhaftes Englisch, wenn ich mich für etwas bewerbe. Auf Russisch schreibe ich fehlerfrei. Aber ich schreibe nicht mehr auf Russisch. Das ist vorbei.
Ich koche und meine Frau wählt eine Playlist aus. Bald kommen meine ukrainischen Freundinnen. Ich habe sie vor Jahren über Zemfira, eine russische Rocksängerin kennengelernt. Wir waren 18. Wir waren Fans. Wir schrieben einander Briefe, weil wir in verschiedenen Städten in der Ukraine wohnten, und besuchten ihre Konzerte mit rosa Luftballons, auf denen unsere Nicknames und der Buchstabe Z gemalt war. Überall. Unsere Körper und Notizbücher waren mit Zs übersät. Viele Jahre brachten wir diesen Buchstaben nur mit Zemfira in Verbindung. Am 24. Februar 2022 haben wir uns davon verabschiedet: Als dieser Buchstabe sich über die russischen Staatsmedien verbreitete, auf Panzer kletterte, in Militärflugzeuge stieg, sich in Mehrfachraketenwerfersysteme quetschte und in die Ukraine flog. An diesem Tag hat Zemfira ihr in Moskau geplantes Konzert nicht abgesagt. Sie hat die Illusion normalen Lebens nicht brechen wollen. Das haben ihr meine ukrainischen Freundinnen, die lange Zeit ihre Fans waren, nicht verziehen. Zemfira ist danach aus Russland geflohen und hat öffentlich Stellung bezogen gegen die russische Aggression. Vor Kurzem war ich auf ihrem Konzert in Berlin. Ich denke, meine ukrainischen Freundinnen, haben das Recht, Zemfira zu verurteilen. Ich nicht. Sie wissen, wie Luftalarm und Explosionen klingen. Ich weiß es auch. Aber anders. Mir wurden diese Töne von Freundinnen beschrieben, und danach von deren Kindern, die es ganz anders, in anderen Oktaven sangen. Die Ausstellungen und Theateraufführungen, die ich in Berlin besucht habe, die vom Krieg erzählten, beginnen oft mit der Imitation von Sirenen. Bedeutet das, dass ich Luftalarm gehört habe?
Draußen explodieren die Silvesterraketen. Ich reagiere gelassen. Ich verstecke mich nicht unter dem Tisch. Die Freundin, die bald mit ihren Kindern kommt, schreibt mir eine Nachricht: Ihr kleiner Sohn sitzt im Flur – er hält sich an die »Zwei Wände«-Regel, da gibt es größere Überlebenschancen während eines Raketenangriffes. Ich schneide ein Baguette auf und beschmiere es mit Butter. Dazu wird auch roter Kaviar kommen. Deutsche Freund*innen sollen ihn bald mitbringen. Ich konnte ihn nicht selbst kaufen, weil ich nicht mehr in russische Läden gehe. Wie viele von diesen »Nicht-mehrs« gab es im Jahr 2022? Ich arbeite nicht mehr mit Russland zusammen, ich lese keine russische Literatur mehr, ich schaue keine russischen Filme mehr, ich kommuniziere nicht mehr mit gewissen russischen Bekannten, ich antworte meinen Kyjiwer Freund*innen nicht mehr auf Russisch, wir sprechen nur noch Ukrainisch. Ich weiß nicht mehr, wann ich wieder nach Hause kommen kann, auf die Krim. Wann wird es diese »Nicht-mehrs« nicht mehr geben? Welche werden nach dem Ende des Krieges annulliert? Welche werden für immer bleiben? Heimweh besteht aus zwei Teilen: »Heim« erinnert dich an den Abstand, »weh« – an die Unmöglichkeit, dahin zu gehen, wo dein Heim ist. Ich lebe schon lange nicht mehr auf der Krim, aber erst jetzt habe ich verstanden, was Heimweh eigentlich ist. Erst jetzt gibt es Weh. Das ganze Jahr lang fuhr ich an fremde Meere. Alle diese Meere sind salziger als mein Schwarzes Meer. Wärmer. Völlig unbekannt. Aber sie sind zugänglich. Sie sind nicht besetzt. Ich habe Meerweh.
An Weihnachten spielten wir Scharade. Jemand bekam die Wortverbindung »Russlandsanktionen«. Eine Frau aus der DDR. In der Schule hatte sie Russisch gelernt. Früher zählte sie mir oft die russischen Wörter auf, an die sie sich noch erinnerte, sang sowjetische Lieder über Pioniere und sprach mit mir über russische Literatur. Seit dem Krieg führe ich diese Gespräche nicht mehr. Jetzt stellte sie das Wort »Russisch« durch den Tanz dar: zuerst durch russischen Volkstanz, danach Ballett. Aber niemand verstand es. Dann zeigte sie auf mich, ich sollte das Wort »Russisch« symbolisieren, aber sie winkte sofort ab: Nein, vergesst es, es stimmt nicht. Sie gab den Versuch auf, »Russisch« zu erklären, und wandte sich dem Wort »Sanktionen« zu. Sie zerlegte es in Silben. Die Finger zu einem Kreis geformt, hob sie die Hände über ihren Kopf, um einen Heiligenschein zu bilden. Ich verstand, was sie meinte: Sankt – heilig. Aber niemand erriet das Wort. Sie musste aufgeben. Und ich fragte: Warum hast du russische Kunst und Heiligkeit gezeigt, statt Waffen, Bomben, Raketen und Tod?
Meine deutschen Freund*innen trauern um die große russische Kultur. Egal, wie viel wir über den Krieg reden, das Gespräch kommt immer wieder auf die russische Kultur. Sie sei nicht schuld am Krieg. Als ob meine deutschen Freund*innen, nicht ich, in der Schule zehn Jahre lang fünfmal pro Woche russische Literatur gelernt hätten und nur einmal ukrainische Literatur, und das auch nur in den letzten beiden Schuljahren. Als ob sie, und nicht ich, von der russischen Literatur geprägt wären von Kopf bis Fuß. Als ob für sie, und nicht für mich, die beiden wichtigsten Personen im Leben Vertreterinnen dieser Kultur wären. Aber nicht ich, sondern sie sind es, die diese große Kultur beweinen. Mit den Namen Dostojewski und Tolstoi endet jedes unserer Gespräche über den Krieg. An dieser Stelle steige ich immer aus.
Meine Hände sind pflaumig. Schwarz. Ich dekoriere den Nachtisch mit Granatapfelkernen und wasche meine Hände. Jetzt sind sie wieder sauber, beige. Ich schreibe meinen Kyjiwer Freund*innen auf Telegram. Seit fast einem Jahr wünschen wir einander immer dasselbe, egal ob es Silvester, Geburtstag oder Ostern ist – den Sieg. Aber unsere Vorstellung vom Sieg ändert sich beinahe jeden Monat, mit jeder Zerstörung, mit jedem befreiten Gebiet. Meine Freund*innen werden Silvester in einer Kyjiwer Bar feiern. Sie befindet sich im Untergeschoss und ist gleichzeitig ein Luftschutzbunker. Für alle Fälle, sagen sie. Wir müssen damit rechnen, dass Russland in der Nacht zum 1. Januar 2023 mit Raketen angreifen wird.
Ich scrolle durch Instagram. Ein Flashmob – alle posten Fotos von 2022, die in den letzten Tagen vor der Invasion entstanden sind. Ich schaue bei mir nach. 13. Februar, Premiere eines Films, den meine Ehefrau und ich gemacht haben. Fotos von der Pressekonferenz, von der Premiere, vom feierlichen Abendessen. Ich bin mal allein, mal mit meiner Frau, mal mit dem Filmteam. An dem Tag hatte ich morgens die Nachrichten gelesen und spontan beschlossen, nicht das anzuziehen, was ich mir am Abend zuvor vorgenommen hatte, sondern die ukrainische Wyschywanka. Ich hatte sie 2014 in Kyjiw auf dem Andrijiwskyj uswis gekauft – sofort nach dem Maidan. Was genau hatte an diesem Tag in den Nachrichten gestanden? Warum war es mir an diesem Morgen so wichtig, meine Zugehörigkeit zu der Ukraine zu zeigen, meine Haltung zu betonen? War bereits klar, dass der Krieg unvermeidlich ist? Ich weiß es nicht mehr.
Unter diesen Fotos stehen Kommentare mit Glückwünschen zu unserer Premiere. Manche wurden von Menschen geschrieben, mit denen ich nun schon fast seit einem Jahr nicht mehr rede. Sie sind trotz des Krieges in Russland geblieben. Sie schweigen oder reden weiter über Literatur, Filme, Philosophie, Feminismus und weibliche Orgasmen. Einen Kommentar hatte ich gelöscht. Aber aus einem anderen Grund. Er war auf Ukrainisch. Ihn hat eine Frau geschrieben, die einmal immense Macht über mich gehabt hatte und viele Jahre namenlos für mich geblieben war. Sie war alles. Sinn meines Lebens und meiner Träume. Grund meiner Worte und meiner Stummheit. Die treibende Kraft für meine Umzüge und Verwandlungen, für meine Fragen an die Welt und an mich selbst. Um diese Frau wird es in diesem Buch gehen. Aber eigentlich nicht um sie.
Welches Recht hast du, über dein Glück zu schreiben und eine ukrainische Wyschywanka zu tragen? Hast du dieses Land mit deinem eigenen Körper verteidigt? Ich verbiete es dir für immer. Du bist nicht einmal Ukrainerin. Dass du den ukrainischen Pass hast, bedeutet nichts. Du hattest sogar ein Heft mit Putin. Wenn du es vergessen hast, gibt es mich, die es immer noch weiß. Ein Mensch kann sich nicht ändern – das hat mich meine Lebenserfahrung gelehrt. Und du konntest es auch nicht. Falls wir uns wieder irgendwo begegnen, dann bist du tot. Bis dahin werde ich überall hingehen und allen erzählen, wer du bist.
Sie weiß nicht, dass ich es bereits getan habe. Ich habe alles in diesem Buch erzählt. So aufrichtig, wie ich nur konnte, und soweit mein Gedächtnis es mir erlaubt. Fünfzehn Jahre habe ich dafür gebraucht. Dieser Text ist von der Zukunft verwundet. Wenn ich seine Kapitel jetzt wieder lese, möchte ich alles infrage stellen. Nicht nur ich und meine Ansichten haben sich verändert, sondern auch die Ortsnamen oder ihre Schreibweise. Dieser Text ist wie eine Stadt, in der man überall Inschriften darüber sieht, was hier zerstört wurde.
Mein Lebenslauf? Eher mein Lebensstolpern. Lebensstehenbleiben, Lebensrunterfallen, Lebensaufbau, Lebenssprung.
Das Buch erscheint auf Deutsch, eine Sprache, die weder diese Frau noch meine Familie auf der Krim kann. Dieser Sprache, die mich geherbergt und behütet hat, bin ich dankbar.