Gleiche Geschichte, andere Sichtweise: Was ist mit den Angehörigen?

Auf den letzten Seiten haben Sie meine ganz persönliche Sichtweise auf die Brustkrebserkrankung gelesen. Aber wie erlebt eine andere Person, eine Angehörige, dieselbe Situation? Und zwar die engste Angehörige, die ein Kind haben kann: die eigene Mutter.

Wieder möchte ich nicht alle über einen Kamm scheren, aber ich möchte Ihnen erzählen, wie meine Mama diese Zeit durchlebt hat. Eine Frau, die vor vielen Jahren bereits ein (Stief-)Kind verloren hat und eine ganz enge Bindung zu mir, ihrer Tochter, hat. Erst für dieses Buch haben wir darüber gesprochen, vorher hat sie sich nie und zu keiner Zeit über meine Erkrankung geäußert. Also nehmen wir uns eines Abends Zeit, setzen uns hin und versuchen die Sache noch mal auszupacken. Eine nicht einfache Angelegenheit, aber für mich eine große Chance. Denn meine Mutter hat und hatte ihre eigenen Gefühle immer hintangestellt und mir gegenüber nie thematisiert. Interviewanfragen für mein erstes Buch hat sie stets abgelehnt, und wenn in einer gemütlichen Runde mit Freunden und Familie das Gespräch auf sie kam, hat sie den Raum verlassen. Das muss ich akzeptieren. Und das tue ich auch. Umso wertvoller ist es, jetzt mit ihr darüber zu sprechen.

»Mama, ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du völlig zusammengesunken auf dem Stuhl bei der Ärztin gesessen hast, als die Diagnose kam. Weißt du noch, was dein erster Gedanke war?«

»Ich dachte immer nur, Brustkrebs ist heilbar. Brustkrebs ist heilbar. Das schaffen wir. Wie eine Art Mantra.«

»Was war für dich als Mama das Schlimmste während der gesamten Zeit?«

Es entsteht eine lange Pause, und wir haben schon jetzt einen Kloß im Hals.

»Das waren so viele Sachen. Es sind doch vertauschte Rollen«, sagt sie traurig. »Ich hätte da sitzen müssen, nicht mein Kind. Dass ich nicht helfen konnte, wie du in diesem Chemostuhl gesessen hast, und ich nur schwer an dich rankam, wenn du tieftraurig in einem Loch warst.«

Es ist das allererste Mal, dass ich von meiner Mutter überhaupt höre, wie schlimm die Zeit für sie war. Natürlich ahnte ich es. Ich habe selber Kinder und weiß um meine eigenen Schmerzen, wenn schon etwas vergleichbar Harmloses vorgefallen ist. Aber es noch mal jetzt von ihr zu hören steht auf einem anderen Blatt.

»Dich ohne Haare zu sehen hat mir das Herz zerrissen. Du sahst aus wie mein kleines, schutzloses Baby vor über dreißig Jahren. Und wenn ich die Blicke der anderen spürte, wenn ich merkte, dass jemand tuschelte, ich gestehe, den hätte ich am liebsten getötet.«

Mütter entwickeln Bärenkräfte, wenn es darauf ankommt. Ich konnte Zeugin davon sein. Nichts war ihr zu viel, kein Weg zu weit, kein Berg zu hoch und keine Spinne zu groß.

An einem Nachmittag saßen wir im Garten, und plötzlich sah ich bei ihr eine so große Spinne den Nacken entlangkrabbeln, dass ich nicht in der Lage war, ein Wort rauszubekommen. Sie musste es an meinem Gesichtsausdruck gemerkt haben und griff sich instinktiv in den Nacken. Sie hat nicht weniger Angst vor Spinnen als ich, aber sie holte sie mit bloßer Hand aus dem T-Shirt, guckte das Monster an und sagte: »Und du kriegst mich auch nicht klein!« Die Spinne biss ihr in den Finger, und meine Mutter kreischte nicht, nein, sie stand seelenruhig auf und setzte das Tier in einen Baum.

Wenn mir das einer vor ein paar Jahren erzählt hätte, ich hätte einen Lachanfall bekommen. Tja, ich sage es ja, wir alle sind stärker, als wir denken. Wenn wir müssen.

»Hast du die Zeit als nur schlimm in Erinnerung, oder hattest du auch schöne Momente?«

Sie guckt mich unsicher an. »Na, das will ich doch hoffen.«

»Ja, ich würde auf jeden Fall Ja sagen, aber mich interessiert deine Sichtweise.«

»Doch, die hatten wir. Jede Menge. Keine Ahnung, wie wir das hinbekommen haben, aber irgendwie haben wir doch zwischendurch viel gelacht, oder?«

Wir sitzen uns beide verheult gegenüber und müssen natürlich auch jetzt lachen. Es ist ein erlösendes Lachen, nachdem wir lange Totgeschwiegenes endlich ausgesprochen haben.

»Wie ordnest du die Zeit heute für dich ein?«

»Tja, damit tue ich mich immer noch sehr schwer. Vielleicht war es eine Prüfung. Es hat uns doch unterm Strich noch enger zusammengeschweißt, falls das überhaupt möglich war. Wenn mir früher einer erzählt hätte: ›Meine Tochter hat Brustkrebs‹, dann hätte ich vielleicht spontan gesagt: ›Das würde ich nicht schaffen.‹ Man schafft so viel, wenn man muss. Und heute gibt es doch den Satz ›Schaff ich nicht‹ gar nicht mehr in unserem Sprachgebrauch.«

»Und was waren deine Stehauf-Regeln in dieser Zeit?«

»Wie meinst du das?«

»Was hat dir geholfen? Die Arbeit oder Telefonate mit Freundinnen?«

»Meine Arbeit leider nicht. Ganz im Gegenteil muss ich leider sagen.[1] Mir fehlte für vieles das Verständnis. Wenn ich Patienten vor mir stehen hatte, die mit einem Schnupfen zwei Wochen krankgemacht haben, oder eine Achtzigjährige, die mit erhöhtem Blutdruck vor mir steht und sagt: ›Was muss ich noch alles ertragen?‹, da fehlte mir das Verständnis. Ich konnte mit dem unnötigen und übertriebenen Jammern der Menschen von Tag zu Tag schlechter umgehen.«

Das finde ich einen wichtigen Aspekt, denn wir haben ja schon festgestellt (und werden es auch noch), dass Arbeit ein gutes Mittel zur Ablenkung ist. Vorausgesetzt, es ist die richtige Arbeit. Denn sonst kann ein solcher Schicksalsschlag auch dazu führen, dass man seinen Job plötzlich hinterfragt und auch nach vielen Jahren von heute auf morgen aufgibt.

Meine Mutter und ich redeten noch lange, und es tat uns beiden gut. Von dem Gespräch blieben diese Stehauf-Regeln meiner Mutter:

* * *

Wenn ein Familienmitglied krank wird, so erkrankt das ganze System Familie. Es ist eine Belastungsprobe, und leider geht es auch nicht immer gut.

Als Betroffener ist es nicht leicht, aber als Angehöriger auch nicht. Diese haben oftmals einen anderen Leidensweg, und man verliert den Blick füreinander. Aber es kann, wie Sie sehen, auch gut gehen.

Ihre eigenen STEHAUF-Regeln: