Maren und Guido erwarten ihr erstes gemeinsames Kind. Die Patchworkfamilie lebt glücklich mit der zweijährigen Maia zusammen, alle sind voller Vorfreude auf das neue Familienmitglied.
»Die Schwangerschaft war unauffällig und entspannt. Nichts, was auf Probleme hingedeutet hätte«, erzählt mir Maren.
Zunächst war an dem süßen Baby nichts Außergewöhnliches festzustellen, nur dass ein Auge immer nach hinten »wegflutschte«.
»Die Ärzte meinten, so was gibt sich wieder«, erklärt Maren. Jedenfalls durften sie mit dem Versprechen, sich eine gute Hebamme und einen guten Kinderarzt zu suchen, nach Luis’ Geburt bald nach Hause.
»Dann wollte er nicht trinken. Alle Versuche waren zwecklos, und er nahm einfach nicht zu.« Es folgte der erste von unzähligen Besuchen in der Uniklinik, und zunächst bekamen Maren und Guido stets harmlose Erklärungen, die sie auch dankbar annahmen. Das Trinkverhalten besserte sich kurzfristig, und dann beobachteten die Eltern, dass Luis keine richtige Spannung im Körper aufbauen konnte. Sie gingen mit ihm zur Physiotherapie und auch in die Augenklinik, denn Luis’ Augen wurden ebenfalls nicht besser.
Guido erinnert sich: »Ich weiß noch sehr gut, wie die Ärztin mir sagte: ›Tja, dann können Sie ja Blindengeld beantragen.‹« Mit Aussagen wie dieser lebten die Eltern, Maia und Luis weiter. »Wir haben das so Stück für Stück angenommen. In dem zarten Alter sind die Ärzte noch vorsichtig mit Diagnosen, und rückblickend betrachtet scheint es mir so, als habe ich die Augen vor der Schwere der Erkrankung verschlossen«, erzählt mir Maren.
Schließlich bekam der kleine Luis eine Lungenentzündung, Krämpfe und musste ins Krankenhaus. Dort wurden Tests und ein EEG gemacht.
»Hattet ihr einen Vertrauensarzt, der sich eurer angenommen und euch erklärt hat, was Luis fehlt?«
»Nein, nicht im Krankenhaus. Hier wechselten die Ärzte ständig. Einmal kam ein Neurologe und sagte zu uns: ›Ihr Sohn ist eine neurologische Katastrophe.‹«
Liebe Ärzte, wir wissen, dass wir für euch oft nur eine Nummer sind, und wir wissen auch, dass ihr die nötige Distanz braucht, um gut arbeiten zu können. Aber sind das die richtigen Worte für Eltern in einer solchen Situation? So etwas hinterlässt nämlich Spuren. Und zwar dauerhaft.
Dazu wurde den Eltern mehr so nebenbei erklärt, dass Luis ab sofort mit Medikamenten für Epilepsie behandelt wird. Es folgt eine sehr lange Versuchsphase, in der man testen wollte, wie Luis auf dieses oder jenes reagierte.
»Wie muss ich mir euren Alltag in dieser Zeit vorstellen? Immerhin hattet ihr ja noch ein Kleinkind zu Hause.«
»Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mehr, wie wir das geschafft haben. Luis brauchte Pflege rund um die Uhr. Und Maia war ein Kleinkind, das auch ein Recht auf Normalität hatte. Sie ging in den Kindergarten, war viel mit Freundinnen verabredet. Aber diese innere Zerrissenheit, die war für mich persönlich ganz schlimm«, erzählt Maren.
»Kannst du das an einem Beispiel festmachen?«
»Luis mal eben mit in den Kindergarten zu nehmen war unmöglich. Er wurde unruhig, krampfte, bekam Luftnot. Das ging einfach nicht täglich. Also musste ich ihn zu Hause lassen und Maia im Tiefflug aus der Kita abholen. Zeit für ein kurzes Gespräch oder für ›noch fünf Minuten spielen‹ war da nicht. Das war unglaublich belastend.«
So vergehen die ersten drei Jahre.
Guido ist selbstständiger Schreiner, Maren musste ihren Job als Erzieherin ganz aufgeben, damit sie sich um Luis und auch um Maia kümmern konnte. Aber irgendwie bekamen sie es hin.
»Ich erinnere mich, wie ich in der Uniklinik oft vor dem Arztzimmer gesessen und gewartet habe und vor mir ein Plakat über das Alpers-Syndrom hing. Ich hatte das ganz oft gelesen und gar nicht wahrgenommen, dass die dort beschriebenen Symptome exakt auf Luis zutrafen. Ich dachte immer: ›Mein Gott, das ist ja schlimm‹, ohne es auf uns zu beziehen. Ich glaube, meine natürliche Schutzschicht war schon sehr dick.«
Luis war drei, als die Familie die offizielle Diagnose bekam: Alpers-Syndrom. Und damit stand fest, er würde sterben. Nur wann und wie, das konnte niemand sagen.
»Wir waren wie in einem Tunnel. All die Jahre haben wir nur funktioniert. Luis gepflegt, Tag und Nacht, Maia, so gut es ging, ein normales Leben geboten. Wir hatten tolle Freunde. Keiner hat sich abgewandt, und es war selbstverständlich, dass wir Partys, Feten oder sonstige Feste immer bei uns gefeiert haben. Wir konnten ja nicht weg.«
»Gab es Zeiten, wo du zusammengebrochen bist?«
»In diesen akuten Jahren nicht. Aber ich hatte Gedanken, von denen ich dachte, ich dürfte sie nicht denken. Als Luis fünf war und immer noch keine Körperspannung entwickeln konnte, wurde das Pflegen, also das bloße Waschen, sehr anstrengend. Dazu kamen fünf Jahre Schlafentzug, da liegen die Nerven blank. Ich weiß noch, dass ich ihn einmal angeschaut und gesagt habe: ›Wie lange schaffen wir zwei das, mein Schatz?‹«
»Warum glaubst du, man darf das nicht denken?«
»Es ist mein Kind. Er darf mir nicht zu viel sein.«
»Aber du bist auch nur ein Mensch.«
»Heute weiß ich das, aber das war ein langer Prozess.«
»Rückblickend betrachtet: Was war für dich als Mutter das Schlimmste?«
»Dass Luis in keiner Form kommunizieren konnte. Ich habe zwar gespürt, dass er mich wahrnimmt, aber er konnte es niemals zeigen.«
Als Luis fünf Jahre alt war, gönnten sich Maren und Guido jeweils eine kleine Auszeit. Nicht gemeinsam, denn einer musste ja bei ihm bleiben. Erst verreiste Guido mit Marens Vater ein paar Tage nach Italien, und dann erlaubte sich Maren mit Maia ein paar Mädelstage in Kopenhagen.
»Jeder von uns musste mal raus, und Maia hatte auch mal die Mama ganz für sich verdient. Aber das hört sich so locker an. Man verreist als Mutter nicht mit gutem Gefühl, aber der Papa zu Hause hat das prima gemacht, und ich sehnte mich auch danach, Zeit mit meiner Tochter zu verbringen«, erzählt mir Maren traurig.
Am Tag ihrer Rückreise passierte das, was das Leben der kleinen Familie für immer verändern sollte: Luis schlief friedlich ein. Mit nur fünf Jahren.
»Und ich war nicht da.«
Es ist ein zutiefst emotionaler Moment zwischen uns zwei Frauen. Zwei Müttern. Wir schweigen und weinen zusammen. Nicht zuletzt, weil Luis das auch verdient hat, dass man um ihn weint. Weil es das Schlimmste ist, was Eltern passieren kann.
»Vielleicht konnte er genau deswegen gehen«, vermute ich.
»Ja, das habe ich auch so oft überlegt. Aber weißt du, immer habe ich zu ihm gesagt: ›Die Mama ist da…‹«
Ich kann Marens Schmerz spüren und bin ihr gleichzeitig unglaublich dankbar für ihr Vertrauen. Und ich wünsche mir, dass Sie, liebe Leserinnen, dieses Vertrauen ebenso zu schätzen wissen.
Nach einer langen Pause sagt sie: »Und weißt du, was das Schlimmste war? Als ich an diesem Abend ins Bett ging, habe ich das erste Mal in fünf Jahren meine Tür geschlossen und konnte ohne Angst einschlafen. Ohne Angst, dass mein Kind krampft, erstickt und qualvoll stirbt. Und erst da, in diesem Moment, habe ich gespürt, wie tief diese Angst in mir gesessen hat.«
»Wie konntest du am nächsten Tag wieder aufstehen?«
»Da war ja Maia. Ein Wesen, für das ich verantwortlich bin. Da hast du ja gar keine Wahl.«
Maren ging nur drei Monate später wieder arbeiten, als Erzieherin. Im Kindergarten haben wir uns im Übrigen auch kennengelernt.
»Ich hatte mir das für mich so zurechtgelegt: Luis hatte eine begrenzte Zeit. Wir wussten das. Dieser Abschnitt ist nun vorbei. Jetzt gucken wir nach vorne. Das war meine Taktik, so redete ich es mir und auch meiner Umwelt recht glaubhaft ein. Das führte dazu, dass viele sagten: ›Wahnsinn, wie stark sie ist.‹ Und irgendwann glaubte ich das selbst.«
»Was war mit der Kleinen?«
»Für Maia organisierte ich eine Art begleitende Gesprächstherapie. Es war mir wichtig, dass sie von Profis unterstützt wurde.«
»Dir hast du das nicht zugestanden?«
»Ich habe es schlicht nicht für nötig gehalten. Ich konnte auch nicht so richtig weinen. In meiner Kindheit war zwar Raum für Gefühle, aber bisher hatte ich mehr einen kreativen Zugang dazu. Aber das war scheinbar nicht genug.«
Maren hatte also von zu Hause zwar ein gutes Rüstzeug mitbekommen und dachte, dass dies für die extreme Situation ausreichen würde. Lange machte sie einfach weiter, bis dann sechs (!) Jahre später der große Knall kam. »Mein Körper zeigte Symptome, die mir keiner erklären konnte. Daraus entwickelte ich eine Art Wahn und bildete mir ein, die unterschiedlichsten Krankheiten zu haben. Teils entwickelte ich genau die Symptome und Schmerzen, die auch Luis gehabt haben musste.«
»Und dann?«
»Ab dann war mir klar, so geht das nicht weiter. Und sechs Jahre später entschied ich mich zu einer Therapie. Ich brauchte Hilfe.«
Maren hat aus eigenen Stücken erkannt: »Ich brauche Hilfe.« Sie hat sie nicht übergestülpt oder aufgezwungen bekommen, sondern sie suchte sie sich aus eigenem Willen. Die Techniken, die sie in ihrem Rucksack hatte, waren nicht ausreichend für diese Art von Schicksalsschlag.
»Vielleicht war ich es gewohnt, meine eigenen Gefühle hintanzustellen. Ich wusste es nicht anders. Vielleicht, wenn ich in der Kindheit einen anderen Zugang zu meinen Gefühlen gelernt hätte, vielleicht hätte ich es ohne Hilfe geschafft.«
Ja, vielleicht. Aber ist das nicht eigentlich völlig egal? Ist es nicht entscheidend, dass man, wenn es nicht mehr weitergeht, sich selbst eingestehen kann: So kann ich nicht weitermachen. Und laut Maren war diese Therapie ein Wendepunkt in ihrem Leben. Sie hat neue Seiten an sich erkannt, einen ganz anderen Zugang zu ihren Gefühlen, und konnte so auch Luis’ tragischen Tod anders einsortieren. Sie konnte durch professionelle Anleitung eigene Kräfte wecken und Techniken entwickeln, sodass sie nach all den Jahren Luis’ Verlust verarbeiten konnte. Und nicht nur das. Sie sagt selber, dass sie durch diesen Wendepunkt in ihrem Leben, durch die Therapie, einen neuen Blick auf die Welt bekommen hat.
Und obwohl Maren so gute Erfahrungen in der Therapie gemacht hat, stülpte sie ihren Lösungsweg nicht Guido, ihrem Mann, über. »Guido hat einen anderen Zugang dazu. Und das ist völlig in Ordnung. Meine Lösung ist nicht universell gültig.«
Guido war selbst kurz davor, eine Therapie zu beginnen, hat sich dann aber – im Alter von fünfzig Jahren – zu einem beruflichen Neuanfang entschlossen. Er arbeitet jetzt mit Kindern zusammen, die in Bezug aufs Lernen besondere Bedürfnisse haben. »Ich glaube, dass das meine Therapie ist.«
Eine weitere, ganz wunderbare Stehauf-Regel: Auch im nicht mehr »jungen« Alter in sich gehen, überlegen, was macht mich glücklich, und dann den Mut zur Veränderung haben. Auch das ist ein Ausdruck von Selbstbestimmtheit.
Ich finde diese Geschichte deswegen so unglaublich wertvoll, weil sie zeigt, was Resilienz bewirken kann, aber auch, dass es manchmal einen Schicksalsschlag braucht, damit man erkennt, was in einem steckt. Luis ist gestorben. Keine Stehauf-Regel der Welt kann ihn wieder lebendig machen. Aber welchen Blick Maren und Guido auf die veränderte Realität haben, das hatten sie in der Hand. Natürlich heißt das nicht, dass Guido, Maren und Maia nicht zwischendurch unendlich traurig sind, es bedeutet nur, dass sie diese Traurigkeit zulassen. Ich habe größte Hochachtung vor der Familie. Und Maren, denn dazu kommt noch: Sie arbeitet wieder als Erzieherin. Und diesen Job macht sie mit Leib und Seele. Ich kann das beurteilen, denn ich hatte das große Glück, dass sie meine Kinder betreut hat. Und hätte sie nicht auch das Recht gehabt, genau diesen Job nicht mehr ausüben zu können?
Was hat diese Familie aus Luis’ kurzem Leben mitgenommen?
Dankbarkeit
»Dieses ganz besondere Gefühl, das einem nur solche besonderen Kinder geben können, dafür bin ich unendlich dankbar.« Guido und Maren haben nie den positiven Blick auf das Geschehene verloren und können heute sogar sagen, dass sie dankbar sind für die gemeinsame Zeit mit Luis.
Maren war ganz besonders dankbar für die Therapie. »Ich glaube, ohne Luis hätte ich nie so viel über mich selbst erfahren. Ich bin heute ein anderer Mensch und liebe mein Leben. Dafür bin ich auch dankbar.«
Eine neue Lebenseinstellung
Maren und Guido sind heute in der Lage, die Vergangenheit positiv einzuordnen. Sie haben nicht auf das Wunder gewartet, das Luis retten würde, sie haben das Wunder gesehen, dass sie Menschen waren, die so ein Schicksal tragen konnten.
Gelassenheit
»Wir leben ein Leben frei von äußeren Zwängen. Ich bin dankbar dafür, dass mir Nichtigkeiten scheißegal sind!«
Wir haben also von zwei Familien gehört, die ein ähnliches Schicksal auf unterschiedliche Weise verarbeitet haben. Die eine, indem sie den Verlust des eigenen Kindes ausgeblendet hat: kein Foto, kein Grab, keine Erinnerung. Und Guido und Maren, die die Erinnerung an Luis nicht scheuen, versuchen, sie in ihr Leben einzubauen und über ihn zu reden.
Gibt es ein Richtig und ein Falsch? Nein! Es steht niemandem zu, sich ein Urteil darüber zu erlauben, wie andere mit Schicksalsschlägen umgehen. Es gibt ebenso viele Schicksale wie Möglichkeiten, damit fertigzuwerden. Solange diese Möglichkeiten dazu führen, dass man sein Leben zufrieden weiterführen kann, sind sie alle legitim, oder etwa nicht?
Was nehmen Sie aus dieser Geschichte mit?