Beam me up, Scotty!: Es lebe das Kopfkino

Max!«, rufe ich die Treppe hoch.

Keine Reaktion.

»Maa-aaax!«

Immer noch keine Reaktion.

»MAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAX!«, versuche ich in meinem unverwechselbaren »Ich zähle jetzt bis drei«-Ton.

»Ja, was denn?«, kommt er um die Ecke und sieht mich überrascht an, als hätte er bisher Kopfhörer auf den Ohren gehabt.

»Warum gibst du mir denn keine Antwort, wenn ich dich rufe?«

»Ich hab dich nicht gehört. Ich war mit Drache Kokosnuss unterwegs.«

Das war der Moment, in dem ich ihn ganz fest in den Arm genommen und mich aus tiefstem Herzen entschuldigt habe. »Mit Drache Kokosnuss unterwegs« heißt, er hat gelesen. In seiner eigenen Welt. Und was mache ich blöde Nuss? Ich sehe das nicht, unterstelle ihm, er würde mir nicht zuhören, und reiße ihn mit aller Gewalt aus seiner Phantasie. Soll mir nicht mehr passieren.

Mein großer Sohn ist in der Lage, sich völlig in eine andere Welt zu beamen. »Tagträumer« wäre da vielleicht der gängigste Begriff, ist aber irgendwie ein bisschen negativ behaftet. Für mich völlig zu Unrecht, auch wenn einen diese Tagträumerei manchmal in den Wahnsinn treiben kann.

»Schatz, wärst du so lieb und holst neue Milch aus dem Keller?«

»Mmmh.«

Fünf Minuten später.

»Wo ist denn die Milch, Max?«

»Hä? Woher soll ich das wissen?«

Oder aber bei den Hausaufgaben.

»Max, komm, konzentrier dich zehn Minuten, dann hast du es geschafft.«

»Was geschafft?«

»Na, die Matheaufgaben.«

»Ach so, ja klar.«

Nach zehn Minuten komme ich erneut in sein Zimmer, um zu sehen, ob er fertig ist. Stattdessen sitzt er an seinem Schreibtisch und starrt gegen die Wand.

»Und, kamst du zurecht?«

»Wobei?«

»Oooooh, Max, bei Mathe!«

»Sollte ich das machen? Aber, Mama: Wer hat eigentlich Diebe erfunden?«

Ich könnte jetzt an dieser Stelle darauf eingehen, wie wichtig ich das tatsächlich finde: dass Kinder ihre Neugier behalten und man sie darin unterstützt, die Welt zu hinterfragen. Aber darauf möchte ich nicht hinaus. Auch nicht darauf, dass er die Matheleidenschaft scheinbar von mir geerbt hat. Ich möchte auf die Technik des »Wegbeamens« hinaus.

Sich an einen anderen Ort zu zaubern. Natürlich können Sie jetzt mit weltfremd und mangelnder Konzentrationsfähigkeit kommen, aber ist es nicht ein Zeichen ganz besonders hoher Konzentration, wenn man, nachdem man dreimal gerufen wurde, immer noch mit Drache Kokosnuss unterwegs ist? Könnte man das Verhalten von Kindern nicht mal unter dem Aspekt betrachten? (Das ist übrigens der Grund, warum wir uns für das Konzept der Waldorfschule entschieden haben!)

Und das Wegbeamen sollte mir auch in so manch anderer Situation wieder auf die Beine helfen:

»So, Sie bekommen hier diesen Notfallknopf in die Hand. Und wenn Sie Panik bekommen: einfach drücken. Aber bedenken Sie, dann müssen wir von vorne anfangen.«

Das waren die einleitenden Worte der Ärztin für das MRT. Schön in der engen Röhre, gute fünfundzwanzig Minuten bäuchlings liegen, stillhalten und flach atmen. Dazu einen Kopfhörer, damit das laute Knacken nicht ungehindert auf mein Trommelfell trifft.

Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, es hätte sich nicht zumindest kurz Panik breitgemacht. Es war die Kombination aus allem: kein Platz, flache Atmung, Angst, Dunkelheit …

»Aber wenn du jetzt den Knopf drückst, dann müsstest du den ganzen Kram von vorne mitmachen.«

Also habe ich es meinem Sohn Max gleichgetan und habe mich weggebeamt mit der Kraft der Gedanken.

Ich stellte mir in der Röhre Folgendes vor: Ich tanze auf einem Techno-Festival. Aber es ist so voll, dass ich nicht tanzen kann. Stattdessen stehe ich still auf der Tanzfläche und genieße in vollen Zügen die Beats. Ich muss dazu sagen, dass Techno echt nicht mein Ding ist. Aber zu enge MRTs sind es auch nicht. Und einen Tod muss man bekanntlich sterben.

Und, redete ich mir weiter ein, wenn du schon hier stehst und eh nix machen kannst, dann nutze doch die Zeit und überlege schon mal, was du nächste Woche kochst. Und das bei cooler Techno-Musik. Haste auch nicht alle Tage. Ob Sie es glauben oder nicht, es hat funktioniert. Die Panik konnte ich wegschieben und die äußeren Umstände irgendwie so in mein Hirn mit einbauen, dass ich sie mir für die paar Minuten zu eigen gemacht habe. Diese Technik hat auch bei der Ankündigung von Schmerzen geholfen. Nehmen wir zum Beispiel das echt nicht so schöne Drainage-Ziehen.

Wenn ich wusste, gleich wird dieser scheinbar meterlange Schlauch aus mir rausgezogen, habe ich mir vorgestellt: Ich gehe auf einer Blumenwiese spazieren, aber, Achtung: Hier können auch Brennnesseln sein, die piksen, aber nur ganz kurz! Ah! Da war eine und schon wieder vorbei. Und weiter geht’s. Mir hat das wirklich geholfen, den Schmerz besser auszuhalten.

Leider, leider funktioniert diese Technik aber nur, wenn ich unmittelbar selber vom Schmerz betroffen bin. Wie schlimm die seelische Pein einer Mutter ist, deren Kind vom Schmerz betroffen ist, durfte ich in einer vergleichbar harmlosen Situation merken: Mein kleiner Sohn Constantin lag, als er ein knappes Jahr alt war, über eine Woche mit einer Streptokokkeninfektion im Krankenhaus. Es war eine ernste, aber nicht lebensbedrohliche Situation. Das Antibiotikum kam intravenös, und er zog sich in einem Fieberkrampf den Zugang aus dem Arm. Bei einem so kleinen Kind eine Vene zu finden ist nicht gerade leicht.

Als der Arzt ihn zum siebten (!) Mal erneut stach und mein Sohn vor Weinen fast besinnungslos war, da hörte ich mich selber sagen: »Wenn Sie jetzt noch einmal danebenstechen, jage ich Ihnen die Kanüle durchs Auge, sodass sie hinten wieder rauskommt.« Ich hatte mich nicht unter Kontrolle. Und während Constantin so weinte und ich hilflos danebenstand, kniff ich mich selber so fest in den Unterarm, bis mir das Blut herausquoll.

In dem Moment erkannte ich: Solange ich selber die Betroffene bin, bin ich dankbar. Denn wenn mein Kind Schmerzen hat, ist es für mich um einiges schlimmer.

All den Eltern da draußen, die mit ihrem Kind durch eine schwierige Zeit müssen, die um das Leben ihres Kindes bangen, möchte ich an dieser Stelle meinen tiefsten Respekt ausdrücken. Das, was Sie durchmachen müssen, ist nicht in Worte zu fassen. Und wenn Sie so eine Familie im Freundes- oder Bekanntenkreis haben: Bitte bringen Sie größtmögliches Verständnis auf und wenden Sie sich nicht ab.

Es mag Tage geben, an denen Ihnen das Verhalten solcher Eltern merkwürdig vorkommt. Ja, es mag Tage geben, da wissen Sie nicht, wie Sie mit der Familie oder betroffenen Person umgehen sollen. Ich kann Ihnen nur sagen, wie schwierig es bei mir war. Wenn mich meine Freundin anrief und fragte: »Soll ich vorbeikommen? Willst du quatschen?«, da war ich in dem Moment fest davon überzeugt, dass das eine gute Idee war. Stand sie fünf Minuten später vor der Tür, wollte ich sie nicht mehr sehen. Menschen in Ausnahmesituationen verhalten sich oft nicht nachvollziehbar. Das hat aber nichts mit Ihnen zu tun. Wenn Sie für sie da sein wollen, dann bleiben Sie dran und in Kommunikation.