Gehör schenken oder nicht

Es war ein knappes Jahr nach abgeschlossener Behandlung, und ich war mit meinem ersten Buch Brüste umständehalber abzugeben auf Lesereise. Ein großes Brustzentrum hatte mich zu einem Vortrag eingeladen.

»Ach, wie schön, dass Sie auch hier sind«, ertönt eine überaus freundliche Stimme neben mir. Es war die Vorsitzende einer Selbsthilfegruppe, die als Aussteller an diesem Patiententag teilnahm. Wir hielten einen kleinen Small Talk von Betroffener zu Betroffener, bis sie plötzlich sagte: »Aber jetzt sagen Sie mal, wie lebt es sich denn mit so einem Damoklesschwert, das über einem schwebt?«

Da konnte die Schlagfertigkeitsqueen mal zeigen, was sie kann: nämlich nix! Baff war ich. Und irgendwie getroffen. Sie musste mir das angesehen haben, und trotzdem oder vielleicht sogar gerade deswegen schoss sie noch einmal nach: »Na ja, ich meine wegen dem BRCA-Gen. Da kann man sich ja nie, aber wirklich nie sicher sein, wo gerade wieder was wächst.«

Das Verrückte an der Sache war: Sie war selber Trägerin dieses Brustkrebs-Gens, aber sie sprach darüber, als ob sie aus der ganzen Geschichte raus sei.

Ich hatte meinen Schutzschild ganz entspannt zu Hause liegen lassen, und daher traf mich dieser Satz mitten ins Herz. Die ganze frisch verheilte Wunde riss wieder auf, und ich spürte diesen Angstkloß im Hals.

Als Damoklesschwert hatte ich – Frau Schönrednerin – nämlich das Gen noch nie gesehen. Eher als Geschenk. Denn mit diesem Gen kommen ein paar Lösungsansätze, wie zum Beispiel die Möglichkeit zur Mastektomie, frei Haus.

Ich rief mir das Gespräch mit der Fachärztin in Erinnerung und versuchte verzweifelt, mich daran zu erinnern, ob ich irgendwas vergessen hatte. Hatte sie mir damals auch was von anderen Krebsarten gesagt? Brust- und Eierstockkrebs ja, aber habe ich sonst noch ein höheres Risiko? Habe ich was verpasst? Sollte ich, statt auf einer Lesung, vielleicht lieber bei der Darmkrebsvorsorge sitzen? Ganz automatisch merke ich meine Finger über alle spontan erreichbaren Lymphen gleiten. Frau Dr. Staudinger tastet sich selber ab. Drei Minuten vor ihrem Auftritt. Ganz toller Zeitpunkt.

Ich habe den Vortrag zwar gut hinbekommen, aber ich habe ihn nicht genossen. Ich wollte nur weg. Am liebsten nach Hause, aber das ging nicht, die Lesereise hatte gerade erst angefangen.

Was war passiert?

Diese Dame hat mich – absichtlich oder nicht sei jetzt mal dahingestellt – an einem extrem wunden Punkt in einer extrem unpassenden Situation getroffen. Ein halbes Jahr nach so einer Geschichte ist die Seele noch sehr verwundbar und die direkte Konfrontation in einer klinischen Umgebung schwierig. Dazu kam, ich blöde Nuss gehe immer von mir aus. Wenn ich mit Betroffenen rede, versuche ich – ob es mir gelingt, weiß ich nicht – immer, Mut und Zuversicht zu vermitteln. Weil ich weiß, wie wichtig das in einer solchen Situation ist. Und gleichzeitig würde ich niemals Kommentare zur Behandlung oder Prognose abgeben, ich bin doch kein Arzt. Naiverweise wünsche ich mir dies natürlich auch von meinen Gesprächspartnern, und noch naivererweise hätte ich gedacht, dass die Vorsitzende einer Selbsthilfegruppe das von Natur aus weiß. Wusste sie nicht. Zumindest nicht für meine Ohren.

Ich stürzte in ein so tiefes Loch, dass ich nach jedem Strohhalm griff, der mir in die Quere kam. Ich rief eine befreundete Leidensgenossin an und fragte sie, ob sie etwas von weiteren Risikogruppen wüsste. Negativ.

Schlussendlich schickte ich aus dem Hotelzimmer eine E-Mail an meine Ärztin aus dem Gen-Institut. Sie rief mich direkt zurück und sprach die erlösenden Worte: »Ach, Mensch, wer hat Sie denn da so durcheinandergebracht?«

Ich erzählte ihr alles und fragte zum Schluss: »Wissen Sie, bei unserem Gespräch damals, vielleicht war ich da so durch den Wind, dass ich was nicht mitbekommen habe. Ich will nichts versäumen, wissen Sie …«

»Sie versäumen nichts, und Sie haben alles richtig mitbekommen. Wir informieren Sie, sobald wir aus der Forschung neue Ergebnisse haben. Frau Staudinger, Sie haben alles gemacht, und jetzt kommt der wichtigste Part: das Leben genießen.«

Ihre Worte wirkten wie ein Schnuller auf mich. Ich sog an ihnen wie ein Baby und spürte, wie dieser Druck von meiner Seele genommen wurde.