Der Glaube versetzt Berge?

Sie erinnern sich an meine Freundin Maria? Die kurz nach mir erkrankte? (Es geht ihr übrigens wieder sehr gut!) Maria ist Italienerin und hat eine sehr enge Bindung an ihren Glauben. Wie sehr habe ich sie dafür bewundert! Sie konnte bei ihrem Gott Trost und Halt finden. Ich konnte das nicht.

Ich bin zwar kein ungläubiger Mensch, aber ich habe mir meinen Glauben passend gemacht. Soll heißen, ich bin katholisch getauft, habe aber leider so viele Bücher gelesen, dass ich nicht wirklich hinter der Kirche im klassischen Sinn stehen kann. Also habe ich mir das umgeformt. Denn ich glaube durchaus an eine höhere Instanz, und ich glaube auch fest an ein Leben nach dem Tod. Ich durfte meine Oma im Sterbeprozess begleiten, und nach dem, was ich gesehen habe, glaube ich nicht nur an ein Jenseits, ich weiß einfach, dass da etwas Höheres ist.

Auch meine Familie ist individuell gläubig. Soll heißen, keiner von uns findet sich sonntags in der Kirche ein, aber wir stellen regelmäßig Kerzen auf. Müssen Sie nicht nachvollziehen oder für gut befinden, ist aber so.

Als meine Oma starb, ist in mir einiges zerbrochen. Einer Frau, die im Leben nie auf Rosen gebettet war, immer hart arbeiten musste und einen wirklich großen Rucksack zu tragen hatte, war es nicht vergönnt, so richtig schön alt zu werden. Und mit »richtig schön alt« meine ich: jeden Tag ein Stück Sahnetorte, im Schaukelstuhl sitzen und die Urenkel beobachten. Ihr Kopf ließ sie nach vielen Jahren anspruchsvoller Arbeit viel zu früh im Stich, und sie wurde dement. Ihren Urenkel Max konnte sie schon nicht mehr richtig einordnen, hat ihn oft mit mir verwechselt und baute zusehends ab. Für meine selbstbestimmte Oma wäre das kein Dauerzustand gewesen, daher war ihr schwaches Herz in diesem Fall wohl eher ein Segen. Fast täglich habe ich nach ihrem Tod mit ihr »da oben« gesprochen, und sie wurde dort quasi zu meiner Ansprechpartnerin. Ich habe also nicht im klassischen Sinn gebetet, sondern meine Oma stets gebeten, auf die Familie, insbesondere die Kinder, achtzugeben.

Als dann die Diagnose kam, war ich sauer. Anders kann ich das nicht beschreiben. Denn meine Oma hat immer alles für mich getan – wie konnte sie jetzt zulassen, dass ich so krank wurde? Ich habe mit ihr geschimpft und habe sie auch antworten gehört: »Schatz, meinst du im Ernst, ich hätte das zugelassen, wenn ich es hätte verhindern können? Aber ich sorge dafür, dass alles wieder gut wird. Versprochen.« Ich war trotzdem sauer. Diese tiefe Ur-Enttäuschung führte so weit, dass ich nicht mehr in der Lage war, ihr Grab zu besuchen.

Ich habe seit der Diagnose weder eine Kerze aufgestellt noch gebetet, geschweige denn eine Kirche besucht. Bei jeder Frau, die ich kannte, die den Kampf verlor, verschloss ich mich immer mehr. Es kann keinen Gott geben, der so etwas zulässt. Einem kleinen Kind seine Mama nimmt, es alleine lässt.

Auch heute noch fehlen mir darauf die Antworten, und auch heute bin ich niemand, der oft in die Kirche geht. Aber es gab einen entscheidenden Wendepunkt für mich.

»Auf keinen Fall!«, sagte ich.

»Warum denn nicht?«, wollte mein Mann wissen.

»Weil ich nicht hinter diesem Verein stehe, ganz einfach.«

»Aber wir haben ihn doch auch getauft«, versuchte er mich davon zu überzeugen, dass unser Sohn zur Kommunion angemeldet würde.

»Ja, und ich weiß eigentlich auch nicht, warum. Patrick, die Kirche hat so viel Blut vergossen. Und die Rolle der Frau, der Homosexuellen, du kannst mir nicht sagen, dass du dahinterstehst?«

»Nein, natürlich nicht. Aber man kann das auch anders sehen. Ich habe damals in der Kirchengemeinde so schöne Momente erlebt. Zusammenhalt, Trost, all das. Er kann doch selber entscheiden, wie weit er den Weg gehen will. Aber ich finde, er sollte die Chance dazu bekommen.«

Damit hatte er mich. Ich gab mich geschlagen und lenkte zumindest insoweit ein, als ich zum ersten Elternabend ging und mir die ganze Sache mal anhörte. Positiv überrascht war ich, dass die Referentin eine Frau war. Ist ja nun in der katholischen Kirche keine Selbstverständlichkeit. Und es war eine tolle Frau, so offen, so direkt und so gar nicht klischeehaft. Sie erzählte, was die Kinder in der Vorbereitungszeit erleben würden, welche Schwerpunkte gesetzt würden und worauf es in der Gemeinde ankäme. Meine anfänglich verschlossene Körperhaltung, verschränkte Arme und Beine, fing ganz langsam an, sich zu lösen.

»So, und zum Abschluss würde ich mich freuen, wenn wir jetzt noch in der Kirche für die Kinder ein Gebet sprechen würden«, forderte sie uns auf.

»Danke, kein Interesse. Kirchen geben mir nichts. Gebete schon gar nicht. Ich geh dann schon mal heim«, schoss es mir spontan durch den Kopf.

Weil aber alle blieben und es ja auch für die Kinder war, gab ich mir einen Ruck. Was dann passierte, sollte ich so schnell nicht wieder vergessen. Die ganze Kirche war dunkel, und der Gang zum Altar war in ein Lichtermeer aus Kerzen gehüllt. Es wurde wunderschöne, so gar nicht kirchentypische Musik gespielt, und wir gingen nach vorne und sprachen für unsere Kinder ein Schutzgebet. Beziehungsweise die anderen sprachen, ich konnte nicht, denn bei mir brachen alle Dämme. Es fühlte sich an, als hätte sich ein Gefühl – für das ich noch keinen Namen gefunden habe –, das ich jahrelang unterdrückt hatte, hier und jetzt seinen Weg nach außen gebahnt. Und mein Bauch sprach immer nur: Es ist okay. Du darfst das. Es darf was mit dir machen. Auch als emanzipierte, selbstständige und nicht gerade kirchenbegeisterte Frau darf es mit dir was machen.

Schon immer mochte ich den Satz »Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hände«, auch wenn ich persönlich nichts mit ihm anfangen konnte. Jetzt konnte ich es.

Ich verstand, warum es andere schafften, in ihrem Glauben Trost zu finden. Einfach, weil sie es zuließen. Ich ließ es, an diesem Abend zumindest, auch zu; hatte aber noch lange an diesem Gefühl zu knabbern.

»Wir melden Max zur Kommunion an, Hase«, war mein einziger Kommentar, als ich an diesem Abend nach Hause kam.

 

Ich ließ mich darauf ein und nahm mir fest vor, der Kirche noch mal eine Chance zu geben. Es war nicht einfach. Mehrfach wurde ich auf die Probe gestellt. Meist bei den Sonntagsmessen. Es tut mir leid, aber ich finde auch heute noch, dass die Kirche als Institution mit einer unvergleichlichen Doppelmoral vorgeht. Wie hilfreich wäre es, wenn das, was von der Kanzel gepredigt wird, auch für die Kirche gelten würde. Nicht selten bekam ich vor Wut Herzrasen, sodass ich die Messe verlassen wollte. Weil ich es nicht richtig fand. Ich kann mich an einen Ausspruch ganz bewusst erinnern: »Wenn du siehst, dass Unrecht geschieht, dann wünsche ich dir die Kraft, deine Stimme zu erheben.« Ja, finde ich auch. Aber finde ich eben auch für die Kirche.

Meinem Mann flüstere ich zu: »Darf man hier eigentlich aufzeigen und sich zu Wort melden?«

»Nein!«

»Siehst du, das meine ich! Das geht doch nicht. Ganz ehrlich, wir könnten ja jetzt noch mal gerade über das Dritte Reich sprechen. Wo war die Kirche denn mit ihrer Stimme, als da ›Unrecht‹ geschah?«

Und so ging das in jeder Messe. Für mich war es eine Geduldsprobe, und nicht selten habe ich einfach auf Durchzug geschaltet. Nicht mitgesprochen und so still und leise meinem Unmut Ausdruck verliehen.

Ich vermisste dieses Gefühl, das ich an jenem Abend gehabt hatte. Es kam einfach nicht mehr auf. Irgendwann erzählte ich meiner Freundin davon, und sie sagte mir: »Weißt du, alles, was da schiefläuft in der Kirche, ist von Menschenhand gemacht. Nicht von Gottes Hand. Versuch es so zu sehen und pick dir die Rosinen raus.«

Rosinen picken ist ja echt mein Ding. Und sie hatte recht. Die Predigten, die Worte, selbst die Bibel ist ja nur von Menschenhand gemacht, und wenn eins so sicher ist wie das Amen in der Kirche, dann, dass Menschen Fehler machen.

Ich blendete also alles, was ich doof fand, aus und nahm nur das mit, was mir gefiel. Ähnlich wie ich es bei der Stehauf-Regel »Blumen pflücken« beschrieben habe, ging es auch in der Kirche. Und soll ich Ihnen was sagen? Es ging ganz problemlos. Ich fühlte mich, trotz meiner kritischen Einstellung, hier willkommen.

Langer Rede, gar kein Sinn, was will ich Ihnen mit dieser Geschichte sagen?