Was hat meinen Eltern geholfen? Wie konnten sie überhaupt wieder einen Tag ihres Lebens genießen? Und wie konnten sie – aus meiner Sicht heraus – so tolle, lustige und lebensfrohe Menschen sein?
Mein Vater zeigte ja zu Beginn der Trauerphase ein paar Stehauf-Möglichkeiten, die zumindest für Menschen, die eine solche Situation nicht erlebt haben, vielleicht ungewöhnlich klingen mögen:
Sachliche Auseinandersetzung
Er wollte verstehen. Er fing an, die Unfallstelle auszumessen, zu berechnen und zu deuten. Er wollte auf ganz sachliche Art verstehen, wie es überhaupt zu dem Unfall kommen konnte. Das half zumindest insoweit, als dass er ins Tun kam.
Suche nach Leidensgenossen
Immer wenn er in Zeitungen oder im Fernsehen von anderen Unfällen mit Kindern las oder hörte, wollte er mehr wissen. Er besuchte Kinderfriedhöfe, suchte schlicht und ergreifend nach Gleichgesinnten. Menschen, die sein Leid verstehen konnten und ihm das Gefühl gaben, nicht damit alleine zu sein.
Liebe
Er war nicht allein. Er hatte eine Familie, die ihn – jeder nach seinen Möglichkeiten – unterstützte: seine Frau – meine Mutter – und seine Schwiegereltern. Meine Oma, die selbst ein Kind verloren hatte, wurde zu einer wichtigen Bezugsperson und konnte mit Sicherheit noch mehr Trost spenden, als das irgendwer sonst hätte tun können.
Schweigen
»Irgendwann war alles gesagt«, erzählt mein Vater. Und dann braucht man Menschen, mit denen auch Schweigen nicht peinlich ist.
Und schlussendlich war es dann die Liebe zu einem Neugeborenen und die damit verbundene Ablenkung.
Ich weiß, es klingt hart. Und wenn Sie zu hören bekommen: »Dann lenk dich halt ab!«, ist das für Sie vielleicht eine Phrase, die gefühllos klingt. Aber ich glaube, man kann schlicht und ergreifend nicht im gleichen Maß trauern und lieben. Man kann sich nicht auf zwei Dinge mit der gleichen Intensität konzentrieren. Das geht einfach nicht. Eins gewinnt die Oberhand. Das heißt nicht, dass das andere Gefühl, im Fall meiner Eltern diese tiefe Trauer, nicht mehr da war, aber es wurde auch mal kurzfristig abgelöst.
In belastenden Situationen, sei es, dass man auf wichtige Prüfungsergebnisse wartet oder auf die Zusage für einen Job oder schlimmer: auf gute Untersuchungsergebnisse vom Arzt, drehen sich die Gedanken meist nur um dieses eine Thema. Alles andere wird ausgeblendet. Das Problem rückt zu einhundert Prozent in den Fokus.
Mein Vater fand irgendwann »Ablenkung« in seiner Arbeit. Ein für ihn notwendiger Schritt in Richtung Normalität.
Als ich ein paar Wochen später auf die Welt kam, waren meine Eltern ebenfalls abgelenkt. Ob sie wollten oder nicht. Da war jetzt ein kleines Baby, und das braucht nun mal die volle Aufmerksamkeit. Alle Eltern wissen, was ein Baby für eine Familie bedeutet.
Also, ich kann da nur aus meiner Erfahrung heraus sprechen: Nach der Geburt meines ersten Sohnes war ich phasenweise – also eine zwei Jahre lange Phase – fremdbestimmt. Plötzlich legte ein kleines, mal hungriges, mal stinkendes Baby meinen Tagesablauf fest. Das hat gute und schlechte Seiten. Wie alles im Leben! Im Fall meiner Eltern hatte es überwiegend positive Seiten. Ihr Fokus wurde anders ausgerichtet, und damit waren sie von ihrer Trauer abgelenkt.
Bitte stellen Sie sich einmal hin. Nehmen Sie Ihre rechte Hand und reiben Sie sich damit den Bauch. So als ob Sie zeigen möchten, dass Ihr Essen gut schmeckt. Mit der anderen, der linken Hand, klopfen Sie sich gleichzeitig auf den Kopf. Die meisten von Ihnen kennen diese Konzentrationsübung. Es ist schwer, zwei Dinge mit derselben Intensität zu machen.
Gleiches gilt für Gefühle. Wenn Sie sich voll und ganz auf ein Neugeborenes konzentrieren müssen, dann können Sie nicht gleichzeitig voll und ganz in Ihrer Trauer aufgehen. Ob das jetzt gut oder schlecht ist, sei einmal dahingestellt. Sie erinnern sich, dass ich zu Beginn sagte, meine Aufgabe ist es nicht, zu bewerten. Ich möchte Ihnen nur zeigen, was in diesem Fall geholfen hat.
Ihre STEHAUF-Regeln aus dieser Geschichte: