Spätes Erwachen aus der eigenen Kindheit

Ob es uns gefällt oder nicht, die eigenen Eltern prägen uns. Unsere Kindheit hat einen maßgeblichen Einfluss auf unser späteres Leben. Wenn einem Mama und Papa nicht beibringen, »Guten Morgen« zu sagen, wird das später nur schwer aufzuholen sein. Wenn einem zu Hause gesagt wird, dass es in Ordnung ist, bei Tisch laut zu schmatzen, dann wird das der kleine Horst-Kevin auch später mit den Kollegen beim Geschäftsessen machen.

Politische Einstellung, das Frauenbild, ob man die Schuhe vor der Haustür auszuziehen hat, ob man bis zum Schluss am Tisch sitzen bleiben muss oder ob man ungefragt Freunde mitbringen darf, all das sind Sitten und Regeln, die jeder zu Hause auf unterschiedliche Art und Weise vermittelt bekommt.

Spannend wird es dann, wenn sich zwei Menschen zusammentun. Zwei Menschen, die auf völlig unterschiedliche Art und Weise erzogen worden sind und die jetzt ihr Leben miteinander verbringen wollen.

Eine gute Freundin von mir berichtet mir, wie das Zusammenführen bei ihr und ihrem Mann so gar nicht funktioniert hat: »Ich erinnere mich gut, dass mein damaliger Freund – und heutiger Mann – mich nach dem ersten Zusammentreffen mit meinen Eltern fragte: ›Sag mal, drückt ihr euch immer?‹ – ›Wie bitte?‹, fragte ich verständnislos nach. ›Na, ob ihr euch immer drückt, wenn ihr euch seht?‹, erklärte er.« Es dauerte einen Moment, bis sie ihren Freund verstanden hatte. Sie war gerade frisch von zu Hause ausgezogen, und wenn sie ihre Eltern besuchte, umarmten sie sich kurz. Eine für sie völlig normale Geste. »Ähm, ja«, antwortete sie also. »Wie begrüßt du denn deine Eltern?«

Seine Antwort: »Per Handschlag.« Okay, dachte sie. Ist ja vielleicht als junger Mann normal. Für sie klang es jedoch befremdlich.

Und es sollte nicht bei diesem einzigen Unterschied bleiben. In ihrer Familie wurde selbstverständlich am Esstisch gesprochen. Ihr Mann hingegen sagte lange Zeit bei Tisch kein Wort. Das wiederum war befremdlich für sie. Fühlte er sich unwohl? Schmeckte es ihm nicht? Oder fand er ihre Familie am Ende doof?

Erst als sie das erste Mal zu ihm mit nach Hause ging, ergab das Ganze einen Sinn. Was für ihren Mann eine völlig normale Stimmung zu Hause war, fühlte sich für sie an wie eine Eishölle. Als sie versuchte, bei Tisch ein Gespräch zu starten, raunte ihr nur ein »Das ist ein Esstisch und kein Sprechtisch!« entgegen. Mit anderen Worten: Es trafen zwei Welten aufeinander. Sie wollte ihre Schwiegereltern nicht gleich verurteilen, aber für sie war die Atmosphäre dort schwierig. Und für ihre Schwiegereltern war sie selbst als zukünftiges Familienmitglied noch schwieriger. Sie war eine junge, selbstständige Frau mit eigener Arbeit und eigener Meinung. In den Augen ihrer Schwiegereltern war sie damit der Antichrist.

Für ihren Mann war es noch komplizierter. Für ihn geriet die ganze Welt ins Wanken. War er zu Hause immer nur kleingehalten und nicht ernst genommen worden, so erlebte er in ihrer eigenen Familie plötzlich Wertschätzung und ehrliches Interesse.

Das war die positive Seite der Medaille. Aber ein solcher Prozess, nämlich zu erkennen, dass die eigenen Eltern eben auch Fehler machen, ist ein schmerzhafter. Und es macht einen großen Unterschied, ob man es nicht gut findet, dass die Eltern den Tatort früher gerne mal im Beisein der Kinder geschaut haben, oder aber ob man erkennen muss, dass die eigene Kindheit eine »Zeit der Demütigung« (so nannte es der Therapeut des Mannes meiner Freundin) war.

»Mein Mann wurde von seinen Eltern ständig herumgeschubst«, erklärt meine Freundin. »Das hätte ich nicht länger mit ansehen können. Als er dann von selbst einen Schlussstrich zog, war ich mehr als glücklich.«

Wenn es miteinander nicht mehr geht …

»Diese zwei Welten haben sich nicht vertragen«, erzählt sie weiter. »Und mein Mann hatte sich, insbesondere als er selbst Vater wurde, dazu entschlossen, es anders zu machen. Er wollte seine Kinder ohne Demütigungen und Zwang großziehen.«

»Viele Dinge sind für mich heute noch unverständlicher«, erzählt er mir, als ich ihn selbst dazu befrage. »Jetzt, wo ich selber Papa bin, steht für mich das Glück meiner Kinder an oberster Stelle. Für meine Eltern war das immer anders.«

Mit seinen eigenen Eltern zu brechen ist wohl mit das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann. Aber bei jedem Familienfest eine Faust in der Tasche zu machen, Herzrasen vor jedem Aufeinandertreffen zu haben und Tage mit Streiten zu verbringen ist ein ebenso grauenhafter Prozess. Manchmal ist es daher vielleicht wirklich besser, einen Schlussstrich zu ziehen, damit jeder in seiner Welt glücklich werden kann.

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