Stellen Sie sich vor, Sie gehen auf eine Wanderung mit Ihrer besten Freundin. Dafür packen Sie Ihre Wanderrucksäcke. In beide kommt exakt der gleiche Inhalt, sodass sie genau gleich schwer sind. Ihr Ausflug beginnt, sie sind beide bereit, schnallen sich die Rucksäcke auf den Rücken und marschieren los.
Nach einer guten Stunde sind Sie der Erschöpfung nahe, während sich Ihre Freundin gerade erst warm gelaufen hat.
»Ich kann nicht mehr«, rufen Sie von weiter hinten.
»Wie? Warum denn nicht?«, entgegnet Ihre Freundin.
»Mein Rucksack ist soooo schwer, ich brauche eine Pause«, japsen Sie vor sich hin.
»Also, ich weiß nicht, was du hast. Der ist doch voll leicht und gut zu tragen. Ich gehe noch weiter. Wir treffen uns dann später«, strahlt Sie Ihre immer noch nicht müde Freundin an.
Wie fühlen Sie sich jetzt?
Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Wenn Sie ein Mann sind, denken Sie wahrscheinlich: Ich und müde? NIEMALS! Oder, wenn Sie es doch zugeben: Ja, super! Treffen wir uns eben später!
Wenn Sie eine Frau sind, machen Sie sich vermutlich das Leben etwas schwerer: Oh, warum ist sie denn noch nicht müde? Findet sie den Rucksack nicht so schwer? Mein Gott, ich bin so ein Weichei. Reiß dich zusammen und geh schnell weiter!
Und dann, meine Damen? Was passiert dann? Dann gehen Sie über Ihre Grenzen hinaus und haben an der Wanderung genauso wenig Spaß wie am Rucksack und Ihrer Freundin.
Sie könnten die Sache aber auch anders betrachten: Ja, die Rucksäcke sind gleich schwer. Aber die Personen, die sie tragen, sind grundverschieden. Vielleicht hat Ihre Freundin eine Woche Urlaub hinter sich, in dem sie Rücken- und Ausdauertraining gemacht hat. Vielleicht war sie auch gerade shoppen und hat die besten Wanderschuhe ever gekauft. Vielleicht hat sie auch still und heimlich geübt und weiß genau, wie sie den Rucksack tragen muss, damit er sie nicht beschwert.
Vielleicht tut Ihre Freundin aber auch nur so cool und ist hinter der nächsten Ecke auch den Tränen nahe.
Vielleicht haben Sie gerade eine Woche Nachtschicht hinter sich, Blasen an den Füßen und sich während Ihrer harten Arbeit den Rücken verrenkt. Vielleicht haben Sie die Nacht nicht gut geschlafen, weil Ihr Kind hohes Fieber hatte. Vielleicht ist es einfach nicht Ihr Tag. Es gibt unendlich viele Gründe, warum zwei Menschen mit dem scheinbar gleichen Rucksack einen scheinbar gleichen Weg in einem unterschiedlichen Tempo gehen.
Wichtig ist Folgendes: Wir können das als Außenstehender NIEMALS beurteilen. Und Sie tun sich nichts Gutes, wenn Sie sich mit anderen vergleichen!
Denn wenn Sie über Ihre Grenze gehen, Ihre Schmerzen und Ihre Erschöpfung ignorieren, dann schaffen Sie vielleicht diesen einen Ausflug, aber nicht mehr den Tag danach.
Gönnen Sie sich stattdessen eine Pause, sagen Sie zu sich: »Jeder hat sein eigenes Tempo. Ich ruhe mich jetzt ganz allein für mich aus, und dann klappt der Weg auch wieder leichter!«, anstatt ungerecht und gemein zu sich selbst zu sein. Und gleichzeitig: Urteilen Sie auch nicht über Menschen, in deren Schuhen Sie noch nicht gelaufen sind.
Wenn Sie in Ihrem Leben also schon einmal hingefallen sind – wie wir alle –, dann gehen Sie bitte in Ihrem eigenen Tempo weiter! Natürlich dürfen und sollen Sie sich von anderen motivieren und mitreißen lassen, aber immer nur so, dass es Sie nicht unter Druck setzt! Picken Sie sich die Rosinen raus. Vielleicht sagen Sie sich: Oh, ich bewundere meine Freundin dafür, dass sie konditionell so gut aufgestellt ist. Das könnte auch was für mich sein: an meiner Kondition arbeiten. Vielleicht schaffe ich dann den Weg auch leichter. Und wenn nicht, dann ist es vielleicht meine Art, langsamer zu gehen und dabei auf die Blumen rechts und links zu achten.
Übrigens, auf die Rucksäcke des Lebens können wir kaum Einfluss nehmen. Die werden uns meist vorgesetzt. Schuhwerk, Haltung und Ausdauer hingegen haben wir selber in der Hand!